Die Schaffung der Nation - Moderne Institutionen - unmoderner Geist des Staates

Das Wesen einer jeden großen politischen Revolution liegt in der Schaffung oder Selbstbehauptung der Nation im ethischrechtlichen Sinne. Dieser Charakter haftet der russischen Revolution im selben oder sogar in noch stärkerem Maße an als der großen französischen. An einem Vergleiche mit der letzteren lassen sich alle Eigentümlichkeiten und — sit venia verbo! — Schwierigkeiten der ersteren aufspüren und erhellen.

Die Idee der Nation hat in Russland allerdings keinen so einheitlichen, vom Willen zur politischen Macht so durchdrungenen und gleichzeitig so mächtigen Träger, wie es um 1789 der französische Tiers-état war. Der Tiers-état war wirtschaftlich stark, aber rechtlich und gesellschaftlich zurückgesetzt. Eine solche Klasse besitzt das moderne Russland nicht. Andererseits ist das, was im modernen Russland die "herrschende Ordnung“ heißt, nicht mit dem französischen ancien régime zu vergleichen. Wenn es richtig ist, daß das ancien régime die Revolution nicht nur nach negativer, sondern auch nach positiver Seite hin vorbereitet hat, so war doch das ancien régime auf allen Gebieten des Staatslebens durch und durch unhaltbar und wirklich ancien im schlimmsten Sinne, d. h. gründlich veraltet.


Russland hat — im Gegensatz zu Frankreich — unter dem Absolutismus durchgreifende Verwaltungsreformen durchgemacht, die es gründlich modernisiert haben. Trotz seiner politischen und sonstigen Zurückgebliebenheit ist es unvergleichlich moderner in puncto der Institutionen und Einrichtungen als das vorrevolutionäre Frankreich. Andererseits ist Russland auch deshalb viel moderner, als das revolutionäre Frankreich, weil es gewissermaßen viel primitiver ist. Es hat nämlich in vielfacher Beziehung kein Mittelalter gehabt und besitzt somit keinen mittelalterlichen Zopf.

Soweit das heutige Russland — im Gegensatze zu Frankreich vor der Revolution — ein modernes Land ist, fehlt ihm ein Stachel zur Revolution, der bei den Franzosen so mächtig wirkte.

Andererseits, weil Russland kein Mittelalter kannte, fehlen ihm auch die Institutionen, die Traditionen, die Gewohnheiten, welche das Mittelalter zeitigte. Und doch hat der politische Kampf der Neuzeit gegen den Absolutismus vielfach in Frankreich eben an diese Institutionen, Traditionen und Gewohnheiten einer bereits überwundenen Geschichtsperiode erfolgreich angeknüpft. Man hat eine geschichtliche Parallele zwischen den russischen Semstwos und den französischen Parlamenten des ancien régime gezogen. Diese Parallele ist aber lehrreicher, wenn man nicht die Ähnlichkeit der politischen Rolle, sondern den grundverschiedenen Charakter beider Institutionen in sonstiger Hinsicht beleuchtet. Die Semstwos sind eine, wenn auch sehr verbesserungsbedürftige, so doch durch und durch moderne Institution und eine Institution neueren Datums. Und die im Wesen reaktionären französischen Parlamente! Eben an dem Vergleiche der französischen Parlamente mit den Semstwos tritt die oben angedeutete Modernität des heutigen Russlands klar hervor.

Diese Modernität des im Rahmen der geltenden Staatsordnung Bestehenden wirkt nicht revolutionär, sondern konterrevolutionär.

Noch wichtiger ist der andere Unterschied zwischen dem russischen Absolutismus und dem französischen ancien régime. Aus dem schon Gesagten geht klar hervor, daß der Staatsmechanismus, welcher in den Händen der russischen Regierung liegt und im Dienste der Erhaltung der absolutistischen Staatsform beständig fungiert, in technischer Beziehung — und das Wort technisch fassen wir hier im weitesten Sinne auf — demjenigen des vorrevolutionären Frankreichs unendlich überlegen ist. Und dieser Umstand hat eine direkte konterrevolutionäre Bedeutung. Er besagt nichts anderes, als daß in Russland in erster Linie die Armee und die Polizei mit allen ihren Machtmitteln eine solche Kraft darstellen, die dem französischen Königtum — wollte es einen wirklichen Kampf gegen die Revolution, wie ihn die russische Regierung führt, unternehmen — nicht zu Gebote standen.

Das heutige Russland ist also in vielen und sehr wesentlichen Beziehungen modern, und diese Modernität, soweit wir sie bis jetzt angedeutet haben, wirkt in der gegebenen historischen Konjunktur konterrevolutionär. Unmodern ist in Russland zweierlei. Die Staatsform — nicht die einzelnen Institutionen des Staates — sondern eben ihre Krone, das Prinzip des öffentlichen Rechtes, der Geist des Staates. Und ebenso unmodern ist die politische Geistesverfassung der Volksmassen.

Diesen zwei Faktoren steht die durch und durch moderne, revolutionäre Gesinnung der gebildeten Klassen entgegen. Dieselben sind der einzige aktive und bewusste Faktor der Revolution im eigentlichen Russland und spielen dieselbe Rolle, welche in Frankreich um 1789 der aufgeklärte Teil des Tiersetat spielte. Während aber der französische Tiers-état nach Sieyes' berühmtem Ausdruck alles im Staate war und etwas werden wollte, ist die russische „Intelligenzia“ leider sehr weit davon entfernt, materiell alles im Lande zu sein.

Die glänzende Rolle, welche der Tiers-état in der französischen Umwälzung gespielt hat, hat einen faszinierenden Einfluss auf die wissenschaftliche Theorie der Revolutionen ausgeübt und auch auf die landläufigen Vorstellungen über dieselben abgefärbt. Man sucht als treibende Kraft für die Revolution immer sogenannte ,,reale Kräfte“, „Gesellschaftsklassen“, und da solche in Russland nicht als mächtig genug erscheinen, glaubt man hier keine eigentliche Revolution erblicken zu können. Aber die revolutionäre Einheit und Geschlossenheit des französischen Tiers-état zugegeben, ist man doch berechtigt zu fragen: war diese Kraft nicht zum guten Teil durch die technische Zurückgebliebenheit des Regierungsapparates, durch die Ohnmacht des Staates freigesetzt? Und lag auch hier nicht in der objektiven Desorganisation des Staates, in dessen Unfähigkeit, seinen Aufgaben Genüge zu leisten, der letzte Grund der Umwälzung? Für die Revolution in Russland trifft das gerade zu.

Hier scheint in unseren Behauptungen ein Widerspruch zu liegen. Wir haben den modernen Charakter des russischen Regierungsapparates scharf betont und doch erklären wir ihn für objektiv unfähig, seine Aufgaben zu erfüllen.

Der Widerspruch ist ein scheinbarer.

Der Selbsterhaltungstrieb der Autokratie gebietet ihr, die unmoderne politische Gesinnung der Volksmassen, ihre politische Passivität, ihre Indolenz in Sachen des Staates zu verewigen; denn sobald das Volk über den Staat nachdenkt, hat es das Bewusstsein seiner Teilnahme an dem Staate und das Bedürfnis, diese Teilnahme zu einer selbsttätigen, aktiven und rationellen zu gestalten. Damit ist aber der Absolutismus geistig überwunden, und seine materielle Überwindung kann jederzeit erfolgen. Nun ist aber die Indolenz der Volksmassen in Sachen des Staates nicht eine isolierte Tatsache, sondern nur der politische Ausdruck eines Kulturzustandes, einer Geisterverfassung, die toto coelo unmodern ist. Wer die politische Indolenz der Massen will, muss auch diesen ganzen Kulturzustand mit in den Kauf nehmen. Wer für den Absolutismus arbeitet, der verewigt diese Unkultur der Massen. Und an ihrer Unkultur gehen die Volksmassen wirtschaftlich und, in letzter Instanz, physisch zu Grunde.

Wie alle Lebewesen wehren sie sich mit elementarer animalischer Kraft gegen dies Zugrundegehen. Daher die anarchischen (aber nicht anarchistischen) revolutionären Zuckungen der Volksmassen in Russland. Diese Zuckungen sind vielfach jeder politischen Idee bar; manchmal entspringen sie sogar scheinbar ganz reaktionären Ideologien. Und doch gibt sich in ihnen immer kund das instinktive Verlangen des Individuums im Volke — einmal aufzuatmen und sich auszurecken, ein Verlangen, dem zweifellos ein hoher moralischer und politischer Wert innewohnt.

Die elementare Auflehnung der Volksmassen gegen den bestehenden Staat trifft mit dem bewussten Aufruhr der Intelligenz gegen denselben zusammen. Und es stellt sich eine Wechselwirkung zwischen diesen zwei Strömungen ein. Was von der Intelligenz hierbei an bewusster und planmäßiger revolutionärer Propaganda bis jetzt geleistet worden ist, ist bei weitem nicht so wichtig wie der natürlich oder organisch vor sich gehende geistige Stoffwechsel zwischen der Revolution der höheren resp. gebildeten Klassen und der Auflehnung der unteren.

Dieser Stoffwechsel darf aber nicht weiter wie ein Naturprozess ablaufen, denn als solcher geht er erstens zu langsam vor sich und ist zweitens in seinen Manifestationen unkontrollierbar und ungeordnet. Aus der Periode des wilden Wachstums muss die russische Revolution in die Periode der sorgsamen Pflege eintreten

Somit ergibt sich das organisatorische Vorproblem der russischen Revolution: die politische Aufklärung, Aufweckung und Mobilmachung der Volksmassen und in erster Linie der Bauernschaft. Von diesem Standpunkte sind die Beschlüsse des letzten Semstwokongresses geradezu epochemachend.






Dieses Kapitel ist Teil des Buches Betrachtungen über die russische Revolution
Astrachan

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Aus dem russischen Volksleben

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Blick auf Smolensk

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Heiratsmarkt im Petersburger Sommergarten

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Russische Kirche

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