Die Nationalisierung des Absolutismus

Ich muss von vornherein das Gebiet meiner Ausführungen umschreiben und begrenzen. Russland ist ein Agglomerat von verschiedenen ethnischen Gruppen und von Territorien, welche auf verschiedenen Stufen der Kultur und der wirtschaftlichen Entwicklung stehen. Und trotz alledem ist es für die russische Revolution entscheidend, wie sich in der Bewegung das eigentliche Russland, d. h. ethnisch genommen die Russen im engeren Sinne (Groß-, Klein- und Weißrussen) verhalten resp. verhalten werden. Eine russische Revolution gegen die Russen ist unmöglich, eine Revolution, welche das russische Element durchdringen und entflammen wird, ist unüberwindlich und kann eben so gründlich ausfallen, wie die große französische Revolution. Man missverstehe mich nicht im nationalistischen Sinne. Was ich niederschreibe ist eine völlig objektive Aussage, die Konstatierung einer brutalen soziologischen Tatsache. Und diese Feststellung führt uns zu einer weiteren, für unser Problem höchst wichtigen historischen Tatsache.

Seit dem Jahre 1863 hat der russische Absolutismus mehr oder minder bewusst, d. h. zuletzt ganz bewusst und mit einer geradezu erschreckenden Konsequenz es versucht, sich durch die nationalistische Idee zu stärken, in dem Boden der nationalrussischen Empfindungen und Ideen unausrottbare Wurzeln zu fassen. Nachdem der Absolutismus sich im Jahre 1861 durch eine mehr oder minder revolutionäre Lösung der Bauernfrage sozial gekräftigt hat — an dieser Stärkung scheiterten die oppositionellen und revolutionären Bewegungen von den sechziger bis zu den achtziger Jahren — ist er seit dem Jahre 1863 darauf ausgegangen, sich nationales Blut zuzuführen und sich nicht nur eine nationalistische Ideologie, sondern auch eine nationalistische Realpolitik zurechtzulegen und auszuarbeiten. Die ersten Anläufe zu einem Staatsnationalismus finden sich allerdings in den Regierungsmaximen Katharinas II. Die Politik Alexanders I. war aber geradezu antinationalistisch, und selbst Nikolaus I., in dessen Zeit die Autokratie es gelernt hat, nationalistische Schlagworte zu gebrauchen und zum Teil sie auch politisch anzuwenden, war doch gar nicht im stände, die nationalistische Staatsidee in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen und auszubeuten. Der polnische Aufstand vom Jahre 1863 bringt hier die entscheidende Wendung. Der Absolutismus findet eine unerwartet starke Stütze in der nationalistischen öffentlichen Meinung, welche von Katkow geführt wird, und geht ein Bündnis mit derselben ein.


Hierin liegt die hauptsächlichste historisch-politische Bedeutung, erstens des Auftretens von Katkow und zweitens der Tatsache, daß der Slavophilismus, welcher noch unter Nikolaus I. eine von der Zensur verbotene Ideologie und dessen Vertreter ein polizeilich verfolgter Zirkel träumerischer Reformer gewesen war, durch eine Reihe von Konzessionen beiderseits endlich unter Alexander III. zu einer Art Mitherrschaft an dem Staate berufen wurde. Aber in diesem Prozesse der bewussten "Nationalisierung“ der Autokratie, den Katkow eingeleitet hat, und durch welchen die Autokratie sich auf Jahrzehnte gegen den revolutionären Anprall immunisierte, in diesem geistig-politischen Triumphe der Reaktion lag doch ein revolutionärer Samen. Der geniale Alexander Herzen hat diesen revolutionären Bazillus erkannt. Er, der Katkow mit den Ausdrücken stärkster Verachtung überschüttete, sah klar in dessen Erfolgen einen Beweis der Macht, welche die öffentliche Meinung in Russland gewonnen hat, und er begrüßte in diesem Sinne den Triumph seines Gegners.

Und in der Tat, indem die Autokratie, um ihre faktische Herrschaft aufrechtzuerhalten, sich der nationalistischen Idee anschloss, hat sie sich ideell des Gottesgnadentums begeben und die Souveränität des Volkes anerkannt. Von nun an muss sie sich vor der „nationalen Idee“ rechtfertigen. Es würde mich hier zu weit führen, die Entwicklungsgeschichte des russischen Absolutismus vorzutragen und seine jeweiligen Lebensfäden aufzudecken, es genügt zu sagen, daß die Unterwerfung unter den Nationalismus die letzte "Rechtfertigung“ des Absolutismus war.

Es fragt sich nun, ob der Gang der Geschichte auch in diese letzte Zuflucht des Absolutismus die Bresche geschlagen hat und dessen scheinbar unzertrennbares Band mit der "nationalen Idee“ zerrissen, oder wenigstens stark angefressen hat.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Betrachtungen über die russische Revolution
Nikolaus I. (1769-1855), russischer Zar

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Moskau - Der Kreml

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Katharina II, die Große (1729-1796), Zarin des russischen Reiches

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