Über die entscheidende Wichtigkeit der Gegend von Witebsk sowohl für die Franzosen, als für die Russen

Über die entscheidende Wichtigkeit der Gegend von Witebsk sowohl für die Franzosen, als für die Russen und über die Lage, in der Napoleon war, als er Witebsk erreichte. Unterlassung des Angriffs am 37. Juli; Stillstand daselbst.

Es wurde im Laufe der vorhergegangenen Kapitel wiederholt die strategische Bedeutung der Gegend von Witebsk begründende Momente berührt, welche wir zur größeren Klarheit kurz rekapitulieren wollen. In dem Benehmen des Angreifenden, der strategisch zu durchbrechen die Absicht hat, wie in dem Benehmen des Angegriffenen, der von einem Durchbruche bedroht ist, lassen sich zwei Phasen erkennen.


Bei dem Angreifer prägt sich in der ersten das Bestreben aus, die Trennung des Gegners auf das höchste zu steigern; in der zweiten aber das Verlangen, zum Kampfe zu kommen, also das Aufsuchen desselben.

Die Trennung wird am höchsten sein, wenn der Angreifer einen Punkt oder eine Gegend erreicht hat, durch deren Besitz dem Gegner die Vereinigung entweder ganz unmöglich oder nur schwer auf weitem Umwege, mit großem Zeitverluste möglich gemacht ist; damit beginnt aber auch die zweite Phase, in welcher das Streben nach dem Kampfe an die Stelle des früheren und in den Vordergrund tritt.

Dem entsprechend, jedoch im umgekehrten Verhältnisse wird des Angegriffenen Benehmen sein; die erste Phase desselben wird durch das Bestreben charakterisiert, einen entscheidenden Kampf als Teil zu vermeiden, also auszuweichen; die zweite aber durch das Drängen nach Vereinigung.

Zwischen beiden Phasen liegt beim Angreifer wie beim Verteidiger, besonders aber beim ersten, ein Wendepunkt, der durch das Erreichen jener Gegend gekennzeichnet wird, mit deren Besitz entweder die Trennung oder die Vereinigung gesichert ist, wo also selbst beim Verteidiger der Gedanke an einen Kampf eines Teiles, wenn er im Interesse der Vereinigung geboten erscheint, herrschen darf.

Die russische I. Armee war nach Drissa gewichen; damit war sie zwar der Gefahr entgangen, auf dem linken Ufer oder während des Überganges auf dasselbe in einer nachteiligen strategischen Situation geschlagen zu werden; es war aber damit auch der erste Schritt zur Vereinigung getan, weil sie auf dem rechten Ufer stehend, sowohl im Allgemeinen, wie bezüglich jener Wege, welche ihr zur Vereinigung mit Bagration dienen sollten, sicherer war.

Allein sie durfte nicht in Drissa bleiben, das ohnehin nur eine Schöpfung krankhafter Einbildung war, sondern musste mit aller Energie nach Vereinigung trachten, denn jedes Stehenbleiben machte die Trennung ausgesprochener.

Napoleon hingegen durfte nicht auf Drissa folgen, sondern musste in der Richtung seines Objektes Moskau rasch vordringen; er musste dies tun, um die Trennung zu vergrößern; er konnte es tun, weil ihm seine Überlegenheit dazu das Recht gab.

Auf der eben erwähnten, gegen das Operationsobjekt Moskau führenden Linie, welche im Ganzen wichtig, in einzelnen Teilen jedoch, mit Rücksicht auf die Absicht der beiden Gegner, von besonderer Bedeutung war, musste sich vorerst ein Raum finden, der einen speziellen strategischen Wert für den Angreifenden in Bezug auf die Trennung des Gegners, für den Angegriffenen aber in Bezug auf das Verhindern dieser Trennung besaß.

Ein solcher, strategisch wichtiger Raum für Freund und Feind war die Gegend von Witebsk; mit dem Erreichen derselben musste der oben besprochene Wendepunkt eintreten; denn sie liegt an der zentralen Linie, am kürzesten Wege nach dem Zentrum Moskau, und von ihr aus konnte, begünstigt durch den Zug der Kommunikationen, die Vereinigung der beiden getrennten russischen Armeen am leichtesten verhindert werden.

Für die Franzosen hörte mit der Erreichung dieser Gegend die Notwendigkeit, weiter zu trennen, als Hauptbestreben auf und es trat dasjenige nach Kampf an dessen Stelle. Von Witebsk aus konnte die einfache strategische Umgehung beginnen, wobei den gegen Smolensk laufenden Verbindungen des Feindes eine besondere Aufmerksamkeit zugewendet werden musste.

Um die volle Bedeutung Witebsks zu würdigen, müssen wir auf die Ereignisse zurückblicken, welche während dessen zwischen dem Niemen und Witebsk stattgefunden hatten.

Die französische Armee hatte starke, durch die sich bewegende Masse und die verdorbenen Wege auch beschwerliche Märsche gemacht; dem schlimmen Regenwetter waren heiße Tage gefolgt, an denen große Strecken zurückgelegt worden waren.

Diese beträchtliche und relativ rasche Entfernung von der Basis, machte es, besonders bei den durch Regenwetter verschlechterten Straßen, unmöglich, mit dem Train und den Proviant-Kolonnen nachzukommen, wodurch die Verpflegung ins Stocken geriet.

Mit dem Mangel an Lebensmitteln waren, bei dem ungeheuren Kraftverbrauche der Märsche, so viele Zerstörungselemente in die französische Armee gekommen, dass sie unfähig wurde, ihrem Zwecke nachzugehen, dass sie bei weiterem Vorgehen sich endlich in der kürzesten Zeit selbst zerstört hätte.

An eine kräftige Fortsetzung des Krieges war vorläufig nicht zu denken, und so repräsentiert Witebsk gewissermaßen die Grenzmarke für die Ausdehnung der Operationen, innerhalb welcher entweder die Entscheidung gefallen sein, oder wo ein Stillstand eintreten musste.

Um nun zu dieser Entscheidung zu gelangen, musste sich Napoleon zu schnellem Handeln dadurch befähigen, dass er sich von seiner Basis momentan unabhängig machte, indem er, wie es faktisch geschehen, gleich von Hause aus eine l6tägige Verpflegung für die Armee mit nahm.

Innerhalb dieser sechzehn Tage musste daher die Entscheidung vor oder bei Witebsk gesucht werden. Napoleon selbst glaubte, in 14 Tagen dazu gelangen zu können.

Jene für ausreichend gehaltene Zeit, für die regelmäßige Verpflegung sicher gestellt war, überschritt man aber wegen unnötiger Ruhepausen und musste die unnütz verlorene durch teilweise ungeheure Märsche einzubringen suchen, welche die Kräfte der Armee herabbrachten und Unordnung, so wie jenen namenlosen Abgang von 129.000 Mann erzeugten. In Witebsk war die Idee des Durchbruches für Napoleon im negativen Sinne beendet.

Hier war die äußerste Grenze für das ruhelose Vordringen des Kaisers; denn Mangel an Verpflegung und Ruhebedürftigkeit der Truppen machten jede weitere Operation momentan absolut unmöglich.

Das Abgehen von der kürzesten Linie nach Witebsk und das Folgen auf Drissa hatten diese Lage geschaffen; die Franzosen erreichten so spät und in so betrübendem Zustande die Gegend von Witebsk, dass die Russen Zeit gewannen, die beabsichtigte Trennung zu vereiteln: ihre Hauptmasse hatte die innere Linie erreicht; die Vereinigung mit Bagration, die Verbindung mit dem wichtigen Süden blieb ihnen nunmehr gesichert, weil das frontale Folgen auf der einfachen inneren Linie keine vorteilhaften strategischen Kombinationen zuließ, — vorausgesetzt, dass die Russen nicht selbst durch die übereilte oder ungeschickte Anlage eines Kampfes auf dieser Linie Napoleon Mittel dazu boten, wie es bei Smolensk beinahe geschehen wäre.

In den hier entwickelten Verhältnissen lag eben die für beide Teile entscheidende Wichtigkeit der Gegend von Witebsk; das Erreichen derselben markiert einen Abschnitt im Feldzug, das Eintreten einer Pause.

Mit dem Vorrücken ostwärts trat ferner für die französische Armee eine Empfindlichkeit der Flanken ein, welche durch die nötigen Sicherungsmaßregeln notwendigerweise die Kraft verringern und die Sieges-Chancen gegenüber dem vereinten Gegner vermindern musste, der mit jedem Schritte weiter Verstärkungen aufnahm und Zeit gewann, das Anrücken Tschitschakoffs, die Beendigung der Organisierung der Milizen und das Herbeieilen derselben zu ermöglichen.

Wir haben früher gesagt, dass die Gegend von Witebsk die Grenze bildete, innerhalb welcher die Entscheidung hätte fallen sollen; da dies nun bis dahin nicht geschah, so sollte es wenigstens bei Witebsk selbst stattfinden, und das Glück schien, dieser Notwendigkeit Rechnung tragend, Napoleon noch einmal lächeln zu wollen.

Nachdem er am 25. und 26. Juli die russischen Corps unter Ostermann und Kanawniznin, welche eine vorbereitende Bewegung Barclays auf Orzsa in der Flanke decken sollten, zurückgedrängt hatte, erschien er am 27. vor Witebsk, wo er die russische Armee hinter der Luczesa in Schlachtordnung fand, wie es schien, Willens, die Schlacht anzunehmen.

Faktisch hatte Barclay den gefährlichen Entschluss gefasst, zu kämpfen, zum Besten Bagrations, damit dieser nicht, wenn er weiter zurückginge, bei der ihm gegebenen Richtung auf Orzsa und Babinowice, mitten in die feindlichen Heermassen geriete und vernichtet würde.

In seiner geheimen Denkschrift motiviert Barclay sein Stehenbleiben bei Witebsk und die Kämpfe am 26. und 27. Juli damit, dass er dazu genötigt gewesen wäre, weil das ganze 6. Corps (Dachturoff), welches den langen Zug der Artillerie-Parks, der Pontons, der Wagen mit den Lebensmitteln und Kranken deckte, die auf Toropec und über Gorodek auf Surash zogen, noch nicht herangekommen gewesen wäre.

Die Absicht, eine Schlacht zu liefern, rechtfertigt er damit, dass Napoleon nur einen Teil der Armee bei sich gehabt habe, dass er, wie bemerkt, das Anrücken Bagrations protegieren wollte, und dass er aus der Haltung der Russen am 26. und 27. mit Sicherheit auf den Sieg zu rechnen glauben konnte.

Barclay mochte in allem ungefähr 80.000 Mann stark sein; Napoleon hatte bei der Hand: Murat mit dem 1., 2. und 3. Reiter-Corps (ohne Doumerc), drei Divisionen von Davoust, das 4. Corps (Eugen), das 3. Corps (Ney) und die Garde — im Ganzen, (die Verluste schon abgerechnet) wenigstens 140.000 Mann. Die Armee, welche sich am 24. bei Bieszenkowice gesammelt und die Vorbereitungen zum Gefechte getroffen hatte, trat am 25. den Weitermarsch nach Witebsk, dicht aufgeschlossen, an, um sich, wenn nötig an einem Tage zur Schlacht entwickeln zu können.

Jetzt war es Zeit anzugreifen; es war das letzte Mal, dass man aus der Teilung des Gegners Vorteil ziehen konnte. Blieb der Moment ungenützt, griff Napoleon mit den nächsten Corps jetzt nicht rasch ein, so war es später nicht mehr möglich, weil aus den oben entwickelten Gründen es nicht ausführbar war, augenblicklich dem Gegner zu folgen. Damals sicherte die Überlegenheit Napoleon den Sieg, zu dem er sogar schon im ersten Augenblicke hinlänglich Truppen zur Verfügung hatte; die nächsten Corps wären im Laufe des Kampfes eingetroffen und hätten durch ihr unvermutetes Auftreten doppelt nachteilig für die Russen gewirkt.

Napoleon lies sich diese letzte günstige Gelegenheit entschlüpfen; er verschob den Kampf auf den folgenden Tag, weil noch nicht alle Heeresteile eingetroffen; allein die Russen waren am Morgen aus ihrer Stellung spurlos verschwunden und damit auch die Hoffnung, sie zu vernichten.

Die Ursache dieses plötzlichen Abmarsches war die Meldung Bagrations, dass er bei Mohilew nicht habe durchdringen können, ja sogar befürchte, dass Davoust ihm auch bei Smolensk zuvorkommen werde.

Ein Kampf bei Witebsk hatte unter solchen Umständen keinen Zweck mehr; ja selbst ein Sieg wäre nutzlos geworden, wenn mittlerweile Smolensk vom Feinde besetzt wurde. Dies war vorläufig für die Russen der wichtigste Punkt und deshalb zog Barclay zu dessen Sicherung rasch ab. Die Artillerie-Parks und Reserven dirigierte er von Surash auf Porjetschje.

Es bewahrheitete sich hier der von Napoleon selbst oft anerkannte Satz: dass man nie etwas tut, nie etwas erreicht, wenn man im Kriege wartet, bis man alle Bequemlichkeiten und alle Glücksfälle für sich hat.

In Witebsk wurde Napoleon das Schwierige seiner Lage klar, weil hier die Täuschung über die Möglichkeit schneller entscheidender Kämpfe gegen die getrennten Teile entschwand, während zugleich die erschöpften Kräfte seiner Truppen und die in Unordnung geratene Verpflegung zur Ruhe mahnten.

Das Bedürfnis nach Ruhe und die Notwendigkeit, die Verhältnisse im Rücken der Armee zu regeln, um die Friktion zu vermindern, die schon erschreckende Dimensionen angenommen hatte, veranlassten Napoleon zum Stillstand.

Es wurde im Verkehre mit den Häuptern der Armee vielfach die Frage ventiliert und von vielen derselben auch bejaht, ob es nicht rätlich sei, den Feldzug für dieses Jahr hier an den Grenzen des alten Polens abzuschließen, da bei dem bisherigen Verluste von Zeit und Kraft die Aussichten auf erfolgreiche Fortsetzung und Beendigung der Operationen für dieses Jahr schwanden.

Bis zum Wiederbeginne des Krieges im Jahre 1813 konnte man das Land hinter sich organisieren, die Bevölkerung bewaffnen und an derselben für den kommenden Feldzug als treuen Bundesgenossen einen nicht unbedeutenden Kraftzuwachs gewinnen.

Die Frage hatte ihre volle Berechtigung, da sich der Zeitpunkt näherte, wo das Gleichgewicht zwischen den beiderseitigen Kräften eintreten musste. Die ungeheure Entfernung vom eigenen Lande machte den Franzosen den Ersatz der Abgänge erst in einer längeren Zeit möglich, während die Russen, im Herzen des eigenen Landes stehend, schon binnen kurzer Frist bedeutenden Zuzug an Heereskörpern und Milizen erwarteten. Eine verlorene Schlacht konnte für die Franzosen, die von ihrer Basis fern, ohne Stützpunkte, in einem ihnen feindlich gesinnten Lande operierten, verderblich werden; und zu all' dem nahte der russische Winter.

Es ist nicht einzusehen, warum nicht Napoleon mit dem Erworbenen vorläufig sich begnügen und die Mittel vorbereiten sollte, um entweder sein Unternehmen im kommenden Jahre zu Ende zu führen, oder durch Bildung eines großen Königreichs Polen Russland den empfindlichsten Streich zu versetzen.

Smitt erzählt in seinem geistreichen Werke über den Krieg von 1812, wie Napoleon sich die Mühe gegeben habe, seine Generale zu überzeugen, dass für die französische Armee nichts gefährlicher sei, als der verlängerte Krieg, und dass eine Expedition, wie die ihrige, nur in einem Zuge oder nie gelinge.

Smitt bemerkt ferner, dass die erwähnte Idee nur von geringem Gehalte und über dies Napoleons Geist und Kriegsart entgegen sei, vergisst aber dabei, dass derselbe Napoleon bei anerkannter Notwendigkeit sich früher nie gescheut hatte, kürzere oder längere Pausen in seiner Kriegführung eintreten zu lassen; so im Winter von 1806 auf 1807 an der Weichsel und Passarge.

Wiewohl Napoleon die Idee der fortgesetzten Basierung in politischer Beziehung und mit Rücksicht auf kommende Zeiten nicht fremd war, so dachte er doch nicht an eine Wiederherstellung Polens; dies muss um so mehr als ein großer politischer Fehler bezeichnet werden, da er doch von dem Gedanken durchdrungen war, Russland so bald als möglich zum Frieden zu zwingen. Es erscheint daher Smitt's Ansicht wohl gerechtfertigt, wenn er die Annahme, Napoleon habe an der altpolnischen Grenze Halt machen wollen, ganz unbegründet nennt, und wenn er ferner die mit Ostentation in der Armee verbreitete Nachricht: „man werde hier stehen bleiben,“ nur als ein Manöver bezeichnet, welches einzig darauf berechnet war, zu täuschen.

Nur seine Pläne verhüllen, seine Absichten fördern, sollte dieses Mittel, um dann mit um so größerer Aussicht auf Erfolg gegen die Russen einen vernichtenden Schlag führen zu können, was ihm bei Smolensk beinahe gelungen wäre.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Betrachtungen über den Krieg im Jahre 1812