Über die Lage der Franzosen auf ihrem Rückzüge an der Berezina.

Nach den Gefechten bei Krasnoj war die vornehmste Sorge Napoleons die Vereinigung mit seinen Flügelcorps unter Oudinot, Victor, Wrede, Schwarzenberg, Reynier und Dombrowsky. dann das Erreichen seines nächsten Zwischensubjektes Minsk.

Dem entsprechend musste das Streben der Russen darauf gerichtet sein, Napoleon an der Realisierung seines Vorhabens zu hindern und die schon wiederholt versäumte Vernichtung desselben unter für ihn ungünstigen Verhältnissen endlich ins Werk zu setzen.


Diese, allerdings höchst unvollkommen und matt durchgeführte strategische Idee der Russen, und das Bestreben Napoleons, in der Richtung auf Wilna durchzubrechen, da er den Verlust von Minsk erfahren hatte, führten zu den Gefechten an der Berezina.

Die Verhältnisse im Rücken der französischen Armee hatten eine Napoleon ungünstige Wendung genommen, die Tätigkeit und die Wirkung der Flankencorps seinen Erwartungen nicht entsprochen.

Die unentschlossene Kriegführung Schwarzenbergs, der mit seinem eigenen und dem Corps Reynier, dann der Division Durutte noch zur Zeit des Schlussaktes 40.000 Mann stark war, machte es Tschitschakoff möglich, mit der einen Hälfte seiner Armee unbelästigt die Berezina zu erreichen und im Rücken Napoleons zu erscheinen.

Trotz seiner 46 — 48.000 Mann ließ sich Schwarzenberg durch Sacken, der keine 27.000 Mann hatte, festhalten. Als er sich endlich anschickte, Tschitschakoff zu folgen, brachte das siegreiche Gefecht von Wolkowysk eine totale Änderung seiner Entschlüsse hervor.

Statt Sacken, der empfindlich geschlagen worden war und fast die Hälfte seiner Streiter verloren hatte, für die nächste Zukunft, da er ganz ungefährlich geworden war, durch Reynier verfolgen zu lassen, selbst aber mit dem größten Teile der Kraft eiligst über Minsk Tschitschakoff nachzurücken, ein Handeln, welches im Interesse des Zusammenwirkens aller Teile, wie das natürlichste, so auch das richtigste gewesen wäre, — gab Schwarzenberg seine ursprüngliche Absicht auf und rückte Sacken nach.

Auf den bestimmten Befehl, schleunigst auf Minsk zu marschieren, den er am 25. November in Kobryn erhielt, brach er zwar am 27. dahin auf, doch viel zu spät, um noch etwas zu nützen. Er brachte dadurch Napoleon an der Berezina in die verzweifeltste Lage und es erwies sich somit die Niederlage der Russen bei Wolkowysk für diese als von bedeutendem Vorteil.

Ebenso ungenügend erfüllten die nördlichen französischen Corps ihre Aufgabe; denn obwohl im Beginne und in ihrer Gesamtheit Wittgenstein an Zahl der Streiter überlegen, waren sie endlich von demselben doch bis in die Gegend von Czasniki zurückgedrängt worden und der Feind somit auch an dieser Seite der französischen Rückzugslinie bedenklich nahe gekommen. Macdonald, der an der untern Düna überflüssig war, konnte füglich herbeigezogen werden; allerdings hätte dies bei Zeiten verfügt werden müssen.

Von den Subjekten der französischen Operationslinie waren Witebsk, Borizow und Minsk in des Feindes Hände gefallen.

Witebsk, wo große Vorräte aufbewahrt waren, wurde durch ein Streifkommando Wittgensteins weggenommen; Minsk mit zwei Millionen Rationen ging an Tschitschakoff, Borizow, der einzige Übergang über die Berezina, welcher Fluss, die französische Rückzugslinie kreuzend, einen wichtigen Abschnitt bildete, an denselben verloren, ungeachtet der tapfersten Gegenwehr der polnischen Division Dombrowsky. Diese Verluste steigerten die schlechte Lage Napoleons zur verzweifelten.

Nebst den Fehlern der Flaukencorps lag die Ursache dieser unheilvollen Situation in der teils mangelhaften, teils gänzlich versäumten Befestigung der genannten werthvollen Objecte.

Das Grundprinzip der Kriegführung Napoleons bestand in dem Suchen der Entscheidung durch große strategische Züge und durch kräftige taktische Schläge. Dieses Prinzip, gefördert durch die Genialität seines Trägers, hatte auf allen Kriegsschauplätzen Europas den Sieg an die französischen Fahnen gefesselt; es war ganz besonders in dem Feldzuge 1812 der leitende Gedanke Napoleons gewesen.

Während er jedoch zu anderen Zeiten der Sicherheit durch Befestigungen an den wichtigsten strategischen Punkten in seinem Rücken Rechnung trug, vernachlässigte er diese Sorge, auf seine kolossale Überlegenheit bauend und auf eine rasche Entscheidung zählend.

So kam es, dass er, man könnte sagen, durch sein eigenes, an sich so richtiges System sündigte, weil er dessen Konsequenzen bis zum Ende nicht genügende Rücksicht zollte.

Für die Russen war bezüglich des Zuvorkommens die Berezina die letzte und zwar ganz besonders günstige Stelle, teils durch die vorhandene Abschnittbildung, teils durch den Umstand, dass dazu die Seitencorps mitwirken konnten.

Faktisch wurde es erzielt, indem Tschitschakoff am 21. November das rechte Ufer dieses Flusses erreichte.

Als Napoleon an der Berezina anlangte, hatte er noch 30.000 Mann, wobei 4.000 Reiter, unter den Waffen, einen ohne Brücken nicht passierbaren, zwischen sumpfigem Uferlande dahinströmenden Fluss vor sich, dessen jenseitiges Ufer durch 30.000 Mann bewacht war, ein ebenso starkes feindliches Corps etwa fünf Meilen entfernt in der Flanke, und eine Armee von 70.000 Mann hinter sich; er hatte keine Verpflegung, beinahe keine Artillerie, keinen Brückentrain.

Eine solche Situation verdient wahrlich eine verzweifelte genannt zu werden.

Demungeachtet findet dieser unerreichte Feldherr in seinem genialen Geiste die Mittel, um die Reste seines Heeres, die vertrauensvoll auf ihn blicken, die trotz der namenlosesten Leiden, Mühen und Entbehrungen ihm keinen Augenblick den Gehorsam versagen, aus einer Lage zu retten, die in der Kriegsgeschichte wohl ohne Beispiel dasteht; ja es gelingt ihm sogar, den Gegner zu schlagen und ihm zahlreiche Gefangene abzunehmen.

Napoleon hatte nur die Wahl, entweder nordwärts auszuweichen, um auf einem Umwege sein nächstes Subjekt Wilna zu erreichen oder direkte durchzubrechen; er wählte das letztere; er wollte über den Leib des Gegners rücken, was der kühnste Entschluss zu sein scheint; „allein die Gefahren des Augenblicks beherrschen den Menschen stets am gewaltsamsten, und darum erscheint oft als eine Verwegenheit, was in letzter Instanz gerade der einzige Rettungsweg, also die höchste Vorsicht ist; allerdings ist es aber nur die Größe des Charakters, welche fähig macht, solche Wege mit Vorsicht zu gehen.“*)

*) Clausewitz.

Für die Ausführung galt es nun vor Allem, den Gegner über denjenigen Punkt zu täuschen, den er zum Übergange ausersah, weil davon das Gelingen, also die Rettung abhing.

Hatte die Niederlage Platens bei Loschniza Tschitschakoff schon vorsichtig gemacht, so waren der Marsch auf Borizow und klug verbreitete Nachrichten über die Absicht, bei Ucholoda überzugehen, genügend, alle Aufmerksamkeit auf die Fluss-Strecke südlich von Borizow zu lenken, ja selbst die von Tschaplitz gemeldeten Vorbereitungen zum Brückenbaue bei Studienka deutete man als Demonstration.

Auf diese Weise gelang es Napoleon mit Verlust der Division Partounneaux, die bei Borizow die Täuschung bis zum letzten Augenblicke erhalten sollte, und einer großen Anzahl Nachzügler und Bagagen, seine Armee auf das linke Ufer zu bringen, und am 27. und 28. bei Stachow, Tschaplitz und Tschitschakoff, ohne selbst die Garde ins Gefecht zu bringen, einen empfindlichen Schlag zu versetzen.

Es ist ein erhebender, überwältigender Anblick, zu sehen, wie das Genie eines Mannes, die Macht seines Namens und seiner Persönlichkeit, die Armee aus einer Lage befreite, die unter gewöhnlichen Verhältnissen und bei genügender Tätigkeit des Gegners eine Capitulation herbeiführen musste; das Genie, indem es den kühnsten aber auch richtigsten Weg wandelte; die Macht seines Namens, indem sie den Gegnern unüberwindliche Scheu einflößte, sich mit dem gereizten Löwen zu messen; seine Persönlichkeit, indem sie die Seinen zu den größten Leistungen entflammte.

Clausewitz sagt hierüber eben so schön als wahr:

„Der Zufall*) hat Napoleon unstreitig begünstigt darin, dass er in der Nähe von Borizow noch einen so vorteilhaften Punkt fand, wie der von Studienka es für den Übergang selbst war, aber die Hauptsache hat der Ruf seiner Waffen getan, und er zehrte also hier von einem längst zurückgelegten Capital. Wittgenstein und Tschitschakoff haben ihn beide gefürchtet, ihn, sein Heer, seine Garden; eben so wie Kutusow ihn bei Krasnoj gefürchtet hat.

Keiner wollte sich von ihm schlagen lassen. Kutusow glaubte den Zweck auch ohnedem zu erreichen; Wittgenstein wollte den eben erworbenen Ruhm nicht daran geben, Tschitschakoff nicht einen zweiten Echec erleiden.

Mit dieser moralischen Macht war Napoleon ausgerüstet, als er sich aus einer der schlimmsten Lagen zog, in welcher sich je ein Feldherr befunden hat.

Aber freilich machte diese moralische Potenz nicht Alles; die Stärke seines Geistes und die kriegerische Tugend seines Heeres, die auch von den zerstörendsten Elementen nicht hatten ganz überwunden werden können, mussten sich hier noch einmal in vollem Glanze zeigen.

Die Ehre hat die französische Armee hier vollkommen gerettet, ja sogar noch neue erworben.“

*) Die leichte Reiterbrigade Corbineau sollte nach dem Rückzüge von Polock zu Victor stoßen. Sie marschierte über Zembin, in der Absicht, die Berezina über die Brücke von Borizow zu überschreiten. In der Höhe von Studienka erfuhr Corbineau, dass jene Stadt und der Brückenkopf in den Händen Tschitschakoffs seien.

Er durchritt nun bei Studienka am 21. November Abends mit seiner Brigade den Fluss durch eine Furt, die ihm ein Bauer zeigte, an der das Wasser nur 2 ½ Fuß Tiefe hatte.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Betrachtungen über den Krieg im Jahre 1812