Über den Wechsel der Operationslinie am 18. und 19. September und die Umstände, unter denen es am 34. Oktober zur Schlacht bei Malo-Jaroslawetz kam

Nach dem Verluste von Moskau mit allen Vorräten, welche die Russen im Glauben, die Entscheidung werde zu ihren Gunsten westlich davon fallen, daselbst angesammelt hatten, zogen sie in der Richtung auf Rjäzan ab. Diese Richtung war, wie im früheren Capitel erwähnt, eine falsche, weil sie die Russen in eine Gegend führte, wo sie nichts zur Erhaltung ihrer Armee fanden.

Dagegen war, wie schon mehrfach besprochen, die südliche Gegend für die russische Armee von besonderer Bedeutung, indem von dort nicht allein Verstärkungen, sondern auch, was in der Lage der Russen, die ihr Hauptsubjekt verloren hatten, schwer ins Gewicht fiel, bedeutende Massen Getreide und Vieh gegen Moskau über Kaluga im Anzüge waren.


Wir haben zu wiederholten Malen die aus diesen Gründen strategisch bessere Rückzugsrichtung erwähnt, dabei auch die Motive angedeutet, welche die Russen den Weg nach Moskau wählen ließen.

Wenn nun die Russen schon am zweiten Tage die Kjäzaner Straße verließen, um die von Kaluga zu gewinnen, so geschah es nicht in der Absicht, die in den Südprovinzen vorhandenen Hilfsquellen zu decken, sondern um sie zu benützen; denn nach dem Verlassen von Moskau gelangte das Armee-Kommando durch die Organe der Intendantur zur Kenntnis, dass die Armee in der eingeschlagenen Richtung auf Rjäzan nichts zu leben finden werde, da man den Verlust Moskaus nicht vorausgesetzt und für diesen unvorhergesehenen Fall auch nicht vorgesorgt hatte; dass dagegen in Kaluga und Tula bedeutende Vorräte teils schon eingetroffen, teils noch dahin im Anzüge seien.

So sehr wir auch Clausewitzs Ausspruch akzeptieren, dass es so ziemlich der allgemeine Gedanke des russischen Generalstabes gewesen sei, nach der Räumung Moskaus die Straße nach Kaluga zu gewinnen, weil dieser Gedanke der natürlichste, das Einfachste und Richtigste in sich schließende war; so glauben wir doch aus den Verhältnissen uns zu dem Schlüsse berechtigt, dass dieser Gedanke der Armeeleitung nicht eigentümlich war; denn sonst würde dieselbe die Armee doch wohl gleich von Moskau aus in jener Richtung disponiert und sie nicht in eine Lage versetzt haben, welche nur durch einen sehr bedenklichen Flankenmarsch berichtigt werden konnte.

Nicht die, wenn auch späte Erkenntnis des Richtigen, sondern einzig und allein die absolute Unmöglichkeit, die Armee bei weiterer Fortsetzung des Rückzugs in östlicher Richtung erhalten zu können, brachte Kutusow in jene Gegend, auf die sein Augenmerk stets hätte gerichtet sein sollen.

Durch diesen Wechsel der Operationslinie erwuchs den Russen aber noch ein weiterer, sehr erheblicher Vorteil; sie gelangten nämlich dadurch in eine Flankenlage zur Operations- und eventuellen Rückzugslinie der Franzosen, gegen welche die russische Armee sich auf der Sehne bewegen konnte, im Gegensatze zur französischen, welcher dies aus ihrer Aufstellung südlich von Moskau, nur auf dem Bogen möglich war, und es stand hierdurch den Russen mit der kürzeren Linie zugleich die sehr günstige Chance zu Gebote, jederzeit den Franzosen auf deren eigener Rückzugslinie zuvorkommen zu können.

Den beiden Zwecken, direkte Deckung der Straße nach Kaluga und wirksame Bedrohung der feindlichen Rückzugslinie in der Sehnenrichtung, entsprach am besten eine Aufstellung in der Gegend von Malo-Jaroslawetz; aus einer weiter südwärts gewählten Aufstellung konnte zwar dem erstgenannten Zwecke auch genügt werden, allein es vergrößerte sich dann auch die Entfernung zur großen Moskauer-Straße, wodurch der Vorteil der kürzesten Linie bis zu dieser für die Russen verloren ging und den Franzosen zufiel.

Waren nun die Russen berechtigt, in der Gegend von Malo-Jaroslawetz stehen zu bleiben und nötigenfalls, wenn Napoleon sich gegen sie wandte, dort den Kampf anzunehmen?

Die russische Armee stand bei Tarutino zur französischen in dem Verhältnisse einer Flankenstellung, indem sie den für diese maßgebenden Bedingungen, sowohl bezüglich der Deckung der eigenen, nunmehr gewechselten Basierung, als auch der wirksamen Bedrohung der feindlichen Operationslinie mit der ganzen, konzentrierten Kraft entsprach.

Dieses Verhältnis schuf aber für die französische Armee eine Situation, die unerträglich war und die sie zwang, ausgedehnte Maßregeln für die Sicherung der eigenen Operationslinie zu treffen, Maßregeln, die erforderlichen Falles selbst bis zum Angriffe mit der Hauptmacht reichen konnten.

Solche Maßregeln waren vorerst die Detachierung des VIII. Corps nach Moshaisk und Wereja; dann jene Murats mit einem zusammengesetzten Infanterie-Corps, dem V. Corps, der Weichsel-Legion und der Reiterei in der Gegend von Winkowo, auf der alten Straße nach Kaluga; endlich die Verfügungen bezüglich der Deckung der Convois und der Bildung der Marsch-Abteilungen. So durften, beispielsweise, von Smolensk nur Marsch-Abteilungen von mindestens 5 — 6.000 Mann Infanterie und Cavallerie zur Armee abgehen, auch jeder Convoi nur unter dem Schutze solcher Colonnen gegen Moskau marschieren.

Die Russen hatten also wegen der Lage, in die sie Napoleon durch ihre Aufstellung gebracht, eines Angriffs gewärtig zu sein, und da musste wohl die Kraftfrage von Seite ihrer Führer in den Kreis der Erwägungen gezogen worden sein.

Den Russen waren seit Borodino einige Verstärkungen zugekommen und sie standen an der Nara in der Stärke von ungefähr 80.000 Mann; ihren Gegner mussten sie zwar gut um ein Vierteil überlegen schätzen; allein sie konnten mit einigem Rechte voraussetzen, dass Napoleon eine nicht unbedeutende Truppenmasse in Moskau und auf seiner Rückzugs-Straße zurücklassen werde; sie durften seine wiederholten, in ungewöhnlicher Form gemachten Friedensanerbietungen und seine lange Untätigkeit in Moskau als Symptome der Schwäche und als Zeichen ansehen, dass er jetzt die Schlacht nicht mehr wünsche, nach der sein Sehnen gegangen war, so lange er sich noch kräftig genug gefühlt hatte, dem Kriege mit einem Schlage ein Ende zu machen.

Und diese Symptome waren zu deutlich, als dass es auf russischer Seite eines besonderen Grades von Klugheit bedurft hätte, sie wahrzunehmen.

Zudem musste sich ihnen noch die Erkenntnis aufdrängen, dass es Napoleon, mochte er nun den Entscheidungskampf vermeiden oder ihn selbst mit Erfolg bestanden haben, ganz unmöglich sein werde, in dem abgebrannten Moskau und dem ausgesogenen Lande zu überwintern: denn bei dem schon eingetretenen Kraftverluste der französischen Armee, der sich durch jeden, selbst siegreichen Kampf nur erheblich steigern konnte, in Folge der enormen Entfernung von ihren Hilfsquellen aber durchaus nicht wieder ersetzen ließ, und bei der faktischen Unmöglichkeit, in dem verwüsteten und von allen Ressourcen entblößten Lande den Unterhalt des Heeres herbeizuschaffen, konnte Napoleon wohl nicht daran denken, seine Armee dort zu lassen, wo sie jetzt noch war, sondern musste sich notgedrungen zum Rückzuge entschließen und ginge dieser auch nur bis Smolensk, seinem nächsten Subjekte.

Schritt er also zum Angriff, so geschah es gewiss zum mindesten mit der Nebenabsicht, seinen durch die Stellung der Russen erschwerten Rückzug zu sichern oder sich vielleicht bessere Wege für denselben zu eröffnen; auf jeden Fall bedurfte aber seine Etappen-Straße über Moshaisk und Wiäzma zu ihrer vollkommenen Sicherung eines ausreichenden Schutzdetachements.

Und dass Napoleon in dieser Beziehung Vorkehrungen getroffen und worin diese bestanden, wussten die Russen durch ihre leichten Truppen und die Unternehmungen ihres linken Flügels gegen Wereja und Moshaisk und brauchten daher einen plötzlichen und übermächtigen Anfall nicht zu besorgen.

Air diese aus der Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse entspringenden Erwägungen, so wie die erkannte Notwendigkeit, sich die günstigen Chanceneiner Flankenstellung zu erhalten und zugleich über die positiven Absichten Napoleons, selbst auf die Gefahr eines, jedoch voraussichtlich nicht besonders gefährlichen Angriffs, vollkommen ins Klare zu kommen; mögen Kutusow und zwar mit Recht veranlasst haben, bei Tarutino Halt zu machen. Er tat es vielleicht mit dem Vorbehalte, es selbst hier noch nicht zum völligen Abschlüsse kommen zu lassen und bei einem bedrohlichen, die ernste Absicht charakterisierenden Angriffe des Gegners nach dem einleitenden Kampfe das Ausweichen fortzusetzen.

Ob Napoleon mit dem zu vermutenden Angriffe wirklich die Entscheidung herbeiführen oder sich nur Luft verschaffen wolle, konnten die Russen durch ihre gut geführten, zahlreichen Kosaken, durch den Charakter und die Hartnäckigkeit des Kampfes selbst, vor allem aber aus der Richtung des Angriffs erkennen, weil die Absicht zu entscheiden, Napoleon veranlassen musste, diesem eine solche Richtung zu geben, durch welche die französische Armee nach dem Siege in ein strategisch günstiges Verhältnis kommen, im vorliegenden Falle also das Ausweichen der Russen nach dem ihnen vorteilhaften Räume verhindern konnte.

Die momentane Situation in Betracht gezogen, war der Angriff des rechten russischen Flügels derjenige, welcher die Absicht zu entscheiden zum Ausdruck brachte , vorausgesetzt , dass Napoleon den Kampf strategisch derart vorbereitete, um den Gegner nach dem Siege dahin drücken zu können, wo der Raum ein kürzerer wurde, was durch ein Abdrängen west- oder südwestwärts zu erreichen war. Es verschlimmerten sich aber dadurch auch die Beziehungen zur eigenen Rückzugslinie für Napoleon in einer ganz bedenklichen Weise, ein Umstand, der gegen das Suchen des Entscheidungskampfes sprach.

Griff dagegen Napoleon den russischen linken Flügel an, so wahrte er zwar die eigene Sicherheit, allein er hatte, im Falle des Sieges, wieder die Verfolgung gegen Südosten, wodurch die Verlängerung des Raumes und der Verbrauch von Zeit ins Unabsehbare wuchsen.

Mit einem solchen Angriffe war also, wenn bei den Russen nicht besondere Fehler vorfielen, oder dieselben den Kampf in verblendeter Hartnäckigkeit bis zur völligen Erschöpfung fortführten, nicht mehr zu erreichen, als ein Zurückwerfen der Russen zur Sicherung eines leichteren Rückzuges und möglicherweise, wenn es gelang, sie von Kaluga ostwärts zu drängen, das Eröffnen der Rückzugslinie über Jelnja, auf welcher, da sie noch nicht betreten worden war, die Subsistenz der Armee erleichtert gewesen wäre.

Die vorstehenden Erörterungen dürften den Beweis geliefert haben, dass die Russen mit allem Rechte in der Gegend von Malo-Jaroslawetz, selbst auf die Gefahr eines Kampfes hin, stehen blieben, weil sie auf ein Gleichgewicht der Kräfte, ja vielleicht sogar auf eine Überlegenheit ihrerseits, auf günstige Konstellationen und das Erkennen der feindlichen Absicht hoffen konnten.

Das Gefecht bei Tarutino am 18. Oktober mahnte Napoleon zum Aufbruche, indem es die Absicht der Russen kundgab, die Offensive zu ergreifen und zugleich bewies, dass sie sich kräftig genug dazu fühlten.

Das Gefecht selbst, von den Russen mit wenig Geschick und matt geführt, endete mit dem Rückzuge Murats, dessen Heeresteil, zum großen Teile aus Reiterei bestehend, neun Meilen von der Armee entfernt, daher ohne Aussicht sobald unterstützt zu werden, dabei in unmittelbarer Fühlung mit dem Feinde, nicht im Stande war, seiner Aufgabe zu entsprechen.

Die Operationen Napoleons, welche zur Schlacht bei Malo-Jaroslawetz führten, haben den Charakter der einfachen strategischen Umgehung, mit dem vornehmsten Zwecke, die Gegend von Kaluga zu gewinnen, damit er sich die südliche Straße zum Rückzuge frei mache und die Russen zurückwerfe, um sich diesen zu erleichtern. Gewiss verband er damit auch den Gedanken, dem Feinde möglicherweise einen vernichtenden Schlag zu versetzen, um ihn vielleicht noch in der zwölften Stunde den Friedensanträgen geneigter zu machen.

Die Umstände, unter denen es nun zum Kampfe kam, stempeln das Schlachtfeld von Malo-Jaroslawetz zu einem entscheidenden.

Schlug Napoleon die Russen vollständig aufs Haupt, so konnte er sich damit vielleicht noch einen günstigen Frieden erringen: war das Ergebnis des Kampfes ein minder entschiedenes, aber für ihn immer noch vorteilhaftes, so sicherte er sich doch wenigstens einen halbwegs bequemen Rückzug, vorausgesetzt, dass er die Russen durch seine Reiterei verfolgen lies, um die Täuschung über sein ferneres Beginnen einige Tage zu nähren; wurde er dagegen selbst geschlagen, so war von einem geordneten Rückzuge auf einer verheerten, 120 Meilen langen Operationslinie durch ein insurgiertes Land, wohl keine Rede mehr und es schien vielmehr die Vernichtung des französischen Heeres unvermeidlich, wenn es der siegreichen und überlegenen Armee der Russen, die im Besitze des kürzeren Weges war, gelang, Napoleon zuvorzukommen, während sich andere feindliche Corps schon vorher der Operationslinie bemächtigt hatten.

Aus den einleitenden Gefechten fühlte Napoleon es auch richtig, dass er kaum auf einen besonderen Erfolg rechnen könne; er erkannte die Gefahr, die ihm erwachsen könnte, wenn er Alles auf eine Karte setzte; er sah ein, wie wichtig es sei, noch eine Achtung gebietende Kraft zu erhalten, um sich den Rückweg, wenn nöthig, mit Gewalt zu bahnen und trat desshalb den Rückzug an.

So sah er auch diessmal seine Absicht vereitelt und sich auf jene Straße angewiesen, die er nicht Willens gewesen war einzuschlagen, weil es in der Hand des Gegners stand, in der kürzeren Sehnenrichtung dieselbe zu erreichen und durch die parallele Verfolgung auf einer Linie, die durch den Krieg noch nicht gelitten hatte, zu großen Erfolgen zu gelangen.

Kutusow gab bei Malo-Jaroslawetz ebenfalls den Kampf auf, weil er den entscheidenden Augenblick noch nicht gekommen glaubte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Betrachtungen über den Krieg im Jahre 1812