Strategische Betrachtungen über die Schlacht von Borodino

Das System des methodischen Rückzuges, bei den Russen zwar als Idee von Anbeginn bestehend, aber in der Tat von ihnen erst dann angenommen, als die Macht der Verhältnisse sie faktisch teilweise dazu gezwungen hatte, veränderte durch die ihm innewohnenden Eigenschaften und die ihm anhaftenden Mittel allmählich das Kräfteverhältnis der kämpfenden Gegner. Im Beginne des Krieges war die Überlegenheit der Franzosen eine so gewaltige, so erdrückende, dass die Russen, selbst wenn sie vereint, doch nicht berechtigt gewesen wären, den Entscheidungskampf zu suchen; denn die unverhältnismäßige Überlegenheit gab Napoleon das Mittel an die Hand, diesem Kampfe die günstigste strategische Unterlage zu geben.

Wenn auch bei Smolensk, als die Operationslinie der Franzosen bereits eine Länge von 70 Meilen erreicht hatte, in Folge dessen und in Folge der starken Friction, welche die französische Armee so bedeutend geschwächt hatte, das Stärkeverhältnis für die Russen schon ein erheblich günstigeres geworden war, so wären sie dennoch, selbst wenn wir von der früher besprochenen strategischen Situation und der Absicht der Russen, den Krieg in die Länge zu ziehen, ganz absehen wollen, auch dort schon aus dem Grunde gar nicht in der Lage gewesen, die Entscheidungsschlacht kämpfen zu können, weil sie bezüglich der Kraft gegenüber den Franzosen noch immer im Verhältnis wie 2:3 standen, und weil Napoleon in dieser seiner Übermacht und in Anbetracht der Chancen, welche ihm die ungünstigen Rückzugsverhältnisse der Russen boten, noch immer die Mittel zu vorteilhaften, große Erfolge versprechenden strategischen Kombinationen besaß.


Mit jedem Schritte östlich von Smolensk besserte sich das Kraftverhältnis zu Gunsten der Russen; die Notwendigkeit, sich auf einer einzigen Operationslinie zu bewegen, machte für Napoleon besondere strategische Entwürfe untunlich; dabei wurden seine Flanken immer empfindlicher, der Nachschub und die Sicherung der Operationslinie immer schwieriger und schwächender.

Die Verluste der Russen beschränkten sich auf jene, die sie im Gefechte erlitten; bei den Franzosen gesellte sich zu diesen als zerstörendes Element auch noch der Mangel und die Erschöpfung; während bei den Russen die Verluste schnell und leicht ersetzt wurden, geschah dies bei den Franzosen gar nicht.

Es ist also begreiflich, dass für die Russen der Gedanke an die Entscheidung immer deutlicher aus dem Nebel hervortrat, je weiter sie nach dem Innern des Reiches wichen, und dass derselbe durch das Aufnehmen von Verstärkungen stets neue Nahrung fand. Der Defensivplan der Russen enthielt bekanntlich den richtigen Grundgedanken, die Entscheidung nicht eher zu versuchen, als bis sie günstige Chancen dafür erlangt haben würden; diese waren aber erst dann und auch nur teilweise erreicht, wenn sie es durch weises Abwarten dahin gebracht hatten, dem Gegner numerisch überlegen zu sein, um durch das Übergewicht ihrer Masse das überwiegende Talent des feindlichen Feldherrn zu paralysieren.

Ein solches Verhältnis war nun vor Moskau bei weitem noch nicht eingetreten und daher der günstige Ausgang eines eventuellen Kampfes in keiner Weise auch nur halbwegs verbürgt; sie hätten also, dem Grundgedanken ihres Kriegsplanes entsprechend, die Entscheidung noch immer vermeiden und der Zeit es überlassen sollen, für sie zu wirken; allein die Russen hatten noch mit einem anderen gewichtigen Faktor zu rechnen, der sich absolut nicht abweisen lies, nämlich mit der öffentlichen Meinung, welche gebieterisch verlangte, man solle Moskau schützen; und dies war nur durch eine Schlacht zu erreichen.

Das Berücksichtigen dieses Postulats hatte es schon verschuldet, dass die russische Armee von Smolensk aus, nicht, wie es dem großen Zwecke konform gewesen wäre, in südöstlicher Richtung zurückging, sondern jene nach Nordosten einschlug; in dieser war aber Moskau so ziemlich der Endpunkt für einen Rückzug; darüber hinaus war nichts zu suchen, nichts zu finden, weder gegen Wladimir, noch gegen Riäzan.

Kann auch der Entschluss des russischen Feldherrn, bei Borodino den Entscheidungskampf zu wagen, im strategischen Sinne nicht als berechtigt erkannt werden, so war er am Ende, aus den eben erläuterten Gründen, doch erklärlich, und er wird es noch mehr, wenn man den weiteren Ursachen nachforscht, welche Kutusow beistimmend beeinflussten.

Die Russen waren in den vorhergegangenen Gefechten sich ihrer Kraft bewusst geworden; ihre Truppen hatten sich mit Bravour geschlagen, und sie durften annehmen, dass die Stärke des Gegners bereits beträchtlich reduziert sei.

Konnte die Erwägung dieser Tatsachen schon ein bedeutendes Gewicht in die Wagschale des Entschlusses zu Gunsten des Kampfes werfen, so geschah dies in noch viel höherem Masse durch die sehr wesentliche Erkenntnis, dass eine Schlacht vor Moskau, jedoch nicht zu ferne davon, eben kein allzu großes Wagnis sei; denn weil vorauszusehen war, dass in Moskau der französische Angriff kulminieren werde, war auch keine kräftige Verfolgung darüber hinaus zu befürchten, wenn der Kampf ungünstig ausfiel, und hieraus ergab sich die sehr berechtigte Annahme, die Folgen einer etwaigen Niederlage auf ein bescheidenes Maß beschränken zu können.

Je näher an Moskau der Kampf nun stattfand, desto günstiger waren selbstverständlich in dieser Beziehung die Umstände.

Wenn nun der Wille der Regierung, des Volkes und der Armee forderten, dass vor Moskau zu dessen Schutze eine Schlacht geliefert werde, so musste dies naturgemäss dort geschehen, wo die Russen die größte Kraft zu vereinigen, den Sieg also um so gewisser an ihre Fahnen zu fesseln vermochten.

Der Ort für den Kampf war daher in jener Gegend zu suchen, wo Verstärkungen zur Armee stoßen und ihr Zuwachs an lebendiger Kraft bringen konnten, und wo zugleich die Verhältnisse des Bodens an und für sich günstig genug waren, um vorteilhafte Gefechts-Kombinationen zu gestatten oder doch leicht durch Anwendung künstlicher Mittel zu so günstigen gemacht werden konnten.

Die Ortsfrage fand in erster Beziehung ihre Lösung durch das Eintreffen der letzten Verstärkung vor Moskau, 15.000 Mann unter Miloradovitsch; in Beziehung zur zweiten Bedingung ist zu bemerken, dass in diesem Teile Russlands überhaupt keine besonders vorteilhaften Stellungen zu finden sind und das Terrain bei Borodino zwar nur eine ganz mittelmäßige Stellung bot, die aber nicht schlechter und nicht besser war, als alle jene, welche sich früher oder später fanden oder gefunden hätten.

Da nun durchaus geschlagen werden sollte, wiewohl das, wie wir dargelegt, bei der noch immer vorhandenen Überlegenheit der französischen Armee weder zweckmäßig noch berechtigt war und die Kraft der Russen viel besser bis zum Beginne des Winters erhalten geblieben wäre, — so war die Gegend von Borodino jedenfalls noch diejenige, wo sich beide für die Wahl des Ortes aufgestellten Bedingungen, vom Kraftzuwachs und von der günstigen lokalen Beschaffenheit, noch am besten erfüllten, wenn auch letztere nur in ganz geringem Masse.

So fand also, von den Russen gesucht, die Schlacht von Borodino statt; wie wenig Recht sie in Erwägung der strategischen Verhältnisse dazu hatten, haben wir durch Besprechung der für jede kriegerische Aktion maßgebenden Faktoren: Raum, Zeit und Kraft des Näheren erörtert; nur in Bezug auf letztere wollen wir noch einige Ziffern anführen, die ganz darnach geartet sind, das früher Gesagte zu bekräftigen.

Die Russen zählten bei Borodino 129.600 Mann, worunter 7.000 Kosaken und 10.000 Mann Milizen, welch' letztere, da sie größtenteils nur mit Piken bewaffnet waren, zum polizeilichen Dienste hinter der Armee und zur Rückschaffung der Verwundeten gebraucht wurden. Ihnen gegenüber kämpften 133.700 kriegsgeübte, in hundert Schlachten erprobte Soldaten des französischen Heeres.

Die russische Armee stand unter dem Befehle Kutusows, eines sehr mittelmäßigen Generals, der es trotz der für seine Scharen ungünstigen Verhältnisse wagen wollte, mit Napoleon, dem großen Beherrscher der Schlachten, um die Palme des Sieges zu ringen. Dass der Ausgang eines solchen, in jeder Beziehung ungleichen Kampfes nicht zweifelhaft sein konnte, — bedarf es da noch mehr der Worte?

Hofften jedoch die Russen, durch die Vorteile des Bodens das ihnen nachteilige Kraftverhältnis zu verbessern, — so muss diese Ansicht als eine unmotivierte bezeichnet werden.

Die Stellung bei Borodino war keine dem Begriffe „Stellung“ entsprechende, mithin keine solche, die es gestattet hätte, durch die natürliche Stärke einzelner Teile, diese ganz schwach besetzt zu halten, dafür aber an anderen Teilen mit um so stärkeren Massen aktiv zu werden.

Es war eine Aufstellung, die, weil überall gleich schwach, zu einer gleichen Verteilung der Truppen veranlasste, und darin liegt eben der Nachteil des Kampfes einer bedeutenden Heeresmacht in einer Stellung. Denn was bei schwachen Armeeteilen kein Übel in sich birgt, weil das Zusammenziehen der Teile an den bedrohten Punkten rasch geschehen kann, gestaltet sich bei einer Stellung von bedeutender Ausdehnung zu einem empfindlichen Nachteil, wenn der Angreifer die ganze Wucht seines Stoßes gegen einen Teil der feindlichen Front, wo immer nur tunlich gegen den Flügel oder die Flanke richtet, das Übrige hingegen nur hinhält oder nach Umständen ganz unberücksichtigt lässt.

Das Benehmen Napoleons bei Borodino trägt den Charakter einer, in seiner Lage allerdings begreiflichen Vorsicht; der Kampf wurde dadurch zu einem frontalen Müderingen der Kräfte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Betrachtungen über den Krieg im Jahre 1812