Die Handschrift der Lübeckischen Stadtbibliothek

Die Handschrift der Lübeckischen Stadtbibliothek besteht in einem kleinen 0,15 Meter hohen und 0,09 Meter breiten Buch; als Einband dient ein Pergamentblatt aus einem alten Messbuch mit Noten und lateinischem Text. S. 1— 59 enthält in ununterbrochener Folge ein Tagebuch der Reise von Hamburg nach den Niederlanden, über Calais nach London und Oxford, sodann über Rouen nach Paris. Mit der Ankunft in Paris bricht die ausführliche Beschreibung ab, und es folgt auf S. 60—61 nur eine kurze Angabe der auf der Rückreise nach Strassburg und von hier durch Deutschland bis nach Lübeck berührten Städte. An einigen Stellen sind Federzeichnungen von einzelnen Denkmälern im Text oder am Rande hinzugefügt. Von S. 62 an ist das Buch nicht paginiert und unbeschrieben mit Ausnahme weniger Seiten, welche verschiedene gelehrte Reisenotizen enthalten, so z. B. ein Verzeichnis von Münzsammlern mit der Überschrift Nummophylacia, eine Zeichnung des Lambeth-house in London, eine Wertangabe der in Holland, England und Frankreich geltenden Münzen, eine Zusammenstellung von Inschriften in mehreren Städten und einige Auszüge aus französischen Werken.

Die am Rande von S. 1 beigeschriebenen Worte „nämlich ich J. v. M. und H. Christian Henrich Postel J. V. L.“ und die kurzen Angaben über die Rückreise von Paris stammen, wie hier leicht festgestellt werden konnte, von Jakob von Melles Hand. Das ganze übrige Tagebuch (S. 1—59) zeigt eine davon abweichende Handschrift und ist mit feineren aber deutlicheren Zügen und mit blasserer Tinte geschrieben. Hier entsteht nun die Frage, ob diese Schrift auch von v. Melle oder von einem anderen, also etwa von Postel herrührt. Ich habe mich daher zunächst erkundigt, ob in Hamburg irgendwo ein handschriftlicher Nachlass von Postel vorhanden sei. Allein sowohl von Seiten der dortigen Stadtbibliothek als auch von Herrn Dr. Julius Elias in München, welcher eingehende Studien über das Hamburgische Geistesleben an Ort und Stelle gemacht hat, wird mir mitgeteilt, dass handschriftliche Dokumente von dem Hamburger Literator nicht vorhanden sind. Schreibt doch schon Weichmann in der Vorrede zum Wittekind, dass Postels sehr erlesene Bibliothek und selbst seine eigenen Manuskripte ganz von einander gekommen und zerstreut worden seien. Dennoch habe ich lange Zeit wegen der beiden von einander verschiedenen Schriften geglaubt, dass das Tagebuch (S. 1—59) von Postel geschrieben, und nur der Schluss (S. 60—61) nebst der Randnotiz am Anfang von Jakob v. Melle hinzugefügt sei. Als ich indessen vor kurzem den noch im Besitz der Familie befindlichen Nachlass des letzteren durchforscht hatte, gelangte ich bald zu der Überzeugung, dass das ganze Tagebuch von seiner Hand herrührt. Es haben nämlich der Weinhändler Herr Gerh. v. Melle in Lübeck und die Seniorin des hiesigen Johannisklosters, Fräulein Emma v. Melle noch einige gedruckte Schriften ihres berühmten Vorfahren mit eigenhändigen Nachträgen, und außerdem eine von dem Prediger an St. Lorenz, Johann Carl Joseph v. Melle, im Jahre 1818 abgefasste Familienchronik. Daselbst heißt es in der Lebensbeschreibung Jakob v. Melles auf S. 4: „Unter alten Papieren fand sich das Fragment eines damals geführten Tagebuchs (wahrscheinlich ein Blatt aus seinem ausführlichen Itinerario, welches er 32 Jahre später seinem Sohn Samuel Gerhard mit auf die Reise gab. Ob es noch vorhanden, weiß ich nicht), in welchem die genommene Reiseroute von Paris bis Strassburg genau verzeichnet ist.“*) Auch dieses Blatt fand sich noch im Besitze der Seniorin v. Melle vor. Es ist dem Familienexemplar des bereits erwähnten Nekrologs (Letztes Ruhm und Ehrenmal Herrn M. Jacob von Melle von C. H. Lange. Lübeck 1743) angeklebt und enthält auf der einen Seite die Reiseerlebnisse von Paris bis Strassburg mit der Unterschrift Jacobus a Melle. Diese offenbar während der Reise selbst nieder geschriebenen Aufzeichnungen, sowie die Randnotizen in den Handexemplaren von einigen seiner ersten Schriften (z. B. in der historia Lubecensis antiqua, media et recentior 1677—79), welche uns ebenfalls die Schriftzüge Jakob v. Melles in seinen Jugendjahren erhalten haben, zeigen eine entschiedene und in manchen Einzelheiten genaue Übereinstimmung der Handschrift mit der des Tagebuchs. Es hat daher v. Melle ohne Zweifel die Beschreibung der Reise von Hamburg bis Paris unterwegs selbst geschrieben, wofür auch die zahlreichen Korrekturen, Streichungen und Bemerkungen am Rande der Handschrift sprechen, und nur den Nachtrag (S. 60—61) über die Rückreise vielleicht mit Benutzung des soeben erwähnten Blattes in späteren Jahren hinzugefügt, als seine Handschrift sich bereits sehr verändert hatte. Daraus erklärt sich zugleich auch, dass die Schrift in dem Nachtrag auf den ersten Blick als dieselbe erscheint wie in der Lubeca religiosa und anderen handschriftlichen Aufzeichnungen v. Melles (S 3), welche aus späterer Zeit stammen.


*) Man sieht hieraus, dass der Prediger v. Melle an St. Lorenz das vielleicht schon damals, als er die Familienchronik schrieb (S. 5), in der Stadtbibliothek befindliche Tagebuch nicht kannte. Die in jener er wähnte Reise Samuel Gerhard v. Melles, eines Sohnes von Jakob und Predigers an St. Ägidien, fällt in das Jahr 1715. Auch er besuchte die Niederlande, England und Frankreich und verfasste ein ebenfalls noch erhaltenes Tagebuch.

Hatte denn aber Postel gar keinen Anteil an dem Tagebuch? Es wurde schon bemerkt, dass von ihm leider gar nichts Handschriftliches in Hamburg vorhanden ist (S. 5). Dagegen erfahren wir von Weichmann in der Vorrede zum großen Wittekind und von Wilckens in dem Hamburgischen Ehren-Tempel, dass auch Postel auf seinen beiden Reisen in den Jahren 1683 und 1700 sorgfältige Tagebücher geführt habe. Dieselben müssen seinen beiden Biographen noch vorgelegen haben, da sie ausführliche Mitteilungen daraus machen, und da namentlich Wilckens die Städte, Denkmäler, Sammlungen und Persönlichkeiten, welche Postel sah, einzeln angibt. Weichmann berichtet nun darüber: „Er geht aber, wie gedacht, mit dieser Reisebeschreibung nicht weiter als bis in Paris, von da er Italien besuchte und durch Deutschland wieder zu Hause kam.“ Und Wilckens schreibt, nachdem er zuvor einen Auszug aus Postels Tagebuch in den Niederlanden und England gegeben hat, a. a. O. S. 698 ff.: „Was in dieser großen Stadt (Paris) meritiret gesehen zu werden, ist von ihm sorgfältig observiret worden, wie er denn in einer angenehmen Kürze das ganze Paris mit seinen Merkwürdigkeiten aufgezeichnet“ — — „Als er nun Frankreich quittiret, ist er wieder wohlbehalten zu Hamburg angekommen.“ Ob nun, wie Wilckens erzählt, Postel von Frankreich direkt nach Deutschland zurückkehrte und in diesem Fall vermutlich seinen Freund v. Melle begleitete, oder ob er sich in Paris von letzterem trennte und, wenn Weichmann recht hat, von hier aus auf seiner ersten Reise auch noch Italien besuchte, lässt sich nicht mit Sicherheit ermitteln.*) Dagegen zu beachten, dass auch Postels Tagebuch in Paris abbrach. Er scheint hier ein zweites Buch begonnen zu haben, aus dem später Wilckens seine Mitteilungen über den Aufenthalt in Paris entnahm, während Jakob von Melle seine ausführliche Reisebeschreibung mit der Ankunft in jener Stadt abschloss und nur auf dem gleichfalls noch erhaltenen Blatte sich den Gang der Rückreise kurz verzeichnete.

Vergleichen wir nun die umfangreichen Auszüge von Wilckens aus Postels Tagebuch mit dem Jakob v. Melles, so begegnen wir einer großen Ähnlichkeit, ja oft eine fast wörtlichen Übereinstimmung in Einzelheiten und in der Wahl des Ausdrucks. Insbesondere erwähne ich hier die sehr ähnlichen Beschreibungen der Bibliotheken Antwerpen, Brüssel und Oxford, die Epitaphien in der Westminster Abtei und zwei beiden Stellen eingelegte Gedichte, in welchen Postel die Herrlichkeiten des Hafens besingt. Freilich fehlt in der Lübeckischen Handschrift ein drittes von Postel bei Abreise von England abgefasstes Gedicht, welches von Wilckens (a. a. O. S. 697) geteilt wird und so beginnt:

„Wo treibt mich endlich hin Verhängnis, Wind und Wellen?
Wo wird noch dermahl eins mein Glück und Anker stehn?
Wann wird Vergnüglichkeit sich mir zur Seite stellen?
Wann wird mein wankend Schiff zum sicheren Hafen gehn?
Die Schickung hat mich hier nach Engeland geführet“ u. s. w.

Allein, abgesehen von diesem Gedichte, ist die Übereinstimmung zwischen den beiden Tagebüchern eine so auffallende, dass sie sich nicht nur aus der gemeinschaftlichen Reise und aus den gleichen Erlebnissen und Besichtigungen erklären lässt. Die beiden Freunde müssen vielmehr sich zu ihren Reisebüchern gegenseitig Mitteilungen gemacht und manche Abschnitte auch im Einzelnen mit einander festgestellt und niedergeschrieben haben. Wenn demnach auch jeder für sich sein Tagebuch führte, so kann dasselbe gewissermaßen als ein gemeinsames gelten. In diesem werden wir die Beschreibung zahlreichen Kunstdenkmäler nebst ihren Inschriften Jakob von Melle zuschreiben dürfen, der auch später in Lübeck hierfür ein besonderes Interesse an den Tag legte, während Gedichte und ohne Zweifel auch noch manche andere Beiträge von Postel herrühren.

*) Eine Ausdehnung der ersten Reise Postels nach Italien nehmen außer Weichmann auch Jördens (Lexikon Deutscher Dichter und Prosaisten Bd. 4 S. 210) und Schröder im Hamburgischen Schriftstellerlexikon (Bd. 6 S. 99) an, während Julius Elias in der allg. Deutschen Biographie ihn mit Wilckens Paris sogleich nach Hamburg zurückkehren lässt.

In dem Abdruck der Reisebeschreibung habe ich die Orthographie der Handschrift beibehalten.*) Wenn jedoch an einigen Stellen durch Zeichen auf Nachträge verwiesen wird, welche erst auf einer späteren Seite in den Text eingeschaltet sind, so habe ich jene da eingefügt, wohin sie durch die erwähnten Zeichen bestimmt waren. Wo eine Zeichnung hinzugefügt (S 5), oder wo ein Abschnitt ausgelassen ist, wird durch eine Anmerkung darauf hingewiesen. So sind bei der Beschreibung von London die Inschriften auf den zahlreichen Epitaphien in der Westminster Abtei fortgelassen, da diese bereits in verschiedenen Werken vollständiger und genauer veröffentlicht worden sind. Ich verweise dafür auf the history of the Abbey Church of St. Peter's Westminster, its Antiquities and Monuments (London 1812 fol. 2 voll). Auch bei der ausführlichen Beschreibung von Oxford, welche allein in lateinischer Sprache abgefasst ist, schien eine wesentliche Kürzung geboten. Der Verfasser des Tagebuchs gibt nämlich hier nicht seine eigenen Beobachtungen sondern einen Auszug aus dem bereits (S. 4) erwähnten Werke Notitia Oxoniensis Academiae. Es hat daher kein Interesse, die aus demselben entlehnte Aufzählung der sämtlichen collegia, aulae und sonstigen Universitätsinstitute noch einmal zu veröffentlichen. Nur den Abschnitt „de bibliotheca“ habe ich aufgenommen, da dieser ganz oder wenigstens zum Teil auf selbständigen Aufzeichnungen der Reisenden zu beruhen scheint. Was endlich an gelegentlichen Notizen hinter der eigentlichen Reisebeschreibung auf einzelnen Blättern der Handschrift eingetragen ist (S. 5), konnte hier ganz bei Seite gelassen werden.

**) Da jedoch in der Handschrift die großen und kleinen Anfangsbuchstaben ohne jede Konsequenz wechseln, habe ich bei Hauptwörtern stets einen großen Anfangsbuchstaben genommen.[Der Verlag hat eine Anpassung an die jetzige Schreibweise vorgenommen]

Die dem Text beigefügten Anmerkungen beschränken sich auf einige der Erklärung besonders bedürfende Angaben und geben einzelne Notizen über die Lage und den jetzigen Zustand der beschriebenen Denkmäler, sowie über die Geschichte und literarische Bedeutung der erwähnten Personen. Bei den Städten und ihren Denkmälern sind namentlich solche Werke herangezogen worden, welche ungefähr aus derselben Zeit stammen wie die vorliegende Reisebeschreibung. Auf irgend welche Vollständigkeit können indessen die Anmerkungen keinen Anspruch machen. Denn obwohl ich neben den Hilfsmitteln der hiesigen Stadtbibliothek verschiedene Werke der Königl. Bibliothek in Berlin, der Herz. Bibliothek in Gotha und der Hamburgischen Stadtbibliothek benutzt, und außerdem manche briefliche Mitteilungen von Gelehrten der betreffenden Städte erhalten habe*), war es mir doch unmöglich, sämtliche Angaben des Tagebuchs auf ihre Richtigkeit zu prüfen und literarische Nachweise darüber beizubringen. Im allgemeinen verweise ich auf Zeillers Topographia Saxoniae inferioris, Frankfurt a. M. 1653, und Topographia Germaniae inferioris, Frankfurt; a. M. 1659, sowie auf Zacharias Conrad von Uffenbachs Merkwürdige Reisen durch Niedersachsen, Holland und Engelland, Teil II— III, Ulm 1753 — 54. Der letztere ist im Jahre 1710 von Lübeck aus über Hamburg und Bremen nach Holland gereist und berührt sich in der Beschreibung der von ihm besuchten Deutschen und niederländischen Städte oft mit den Angaben des hier folgenden Tagebuchs.

*) Briefliche Mitteilungen auf verschiedene Anfragen habe ich erhalten von den Herren Stadtbibliothekar Dr. Bulthaupt über Bremen, Regierungsrat Dr. Kollmann über Oldenburg, Kirchenrat Vietor über Emden, Oberbibliothekar du Rieu über Leiden und über verschiedene Gegenstände von Herrn Professor Dietrich Schäfer in Tübingen. Auch hat Herr stud. L. Heller mir mehrere Nachweise aus hier nicht vorhandenen Werken der Göttinger Universitäts-Bibliothek gesandt. Allen diesen Herren sage ich für ihre freundlichen Bemühungen meinen verbindlichsten Dank.