Die Staatsmännin

Trotzdem sie sich mehr wie jede andere Frau dem Genusse hingab, regierte sie ihr ungeheures Reich mit bewundernswerter Geschicklichkeit. Vieles in ihrem Leben war nur Schein, aber sie wusste diesen Schein als Echtheit wirken zu lassen. Sie verstand es, in allem zu imponieren. Man wusste nicht, was man mehr bewundern sollte, ihre Eigenschaften als Staatsmann oder als Frau. Man war in beständiger Begeisterung über ihre grenzenlose Güte, ihre gewinnende Liebenswürdigkeit und ihre physische Schönheit. Könige, Staatsmänner, Gelehrte, Philosophen und Dichter, alle sahen in Katharina ihresgleichen. Voltaire wusste nicht, was er mehr hervorheben sollte, ihre grossen politischen Handlungen oder ihre literarischen Arbeiten. In lyrische Ekstase und Bewunderung gerät Diderot. «Grosse Fürstin», schreibt er, «ich werfe mich Ihnen zu Füssen; ich breite meine Arme aus, ich möchte sprechen, aber mein Herz krampft sich zusammen, mein Kopf schwindelt, meine Gedanken verwirren sich, ich bin gerührt wie ein Kind. Wie von selbst gleiten meine Finger über eine alte Leier, und ich muss singen: Vous qui de la divinité, nous montrez, sur le trône, une image fidèle ...» Selbst Friedrich der Grosse, der im allgemeinen nicht viel von weiblichen Herrschern hielt, erkannte die Fähigkeiten der grossen Katharina. Ihr Genie prägte sich auch in ihrem Aeussern aus. Obgleich klein von Gestalt, erschien sie allen gross, imponierend, majestätisch, wenn sie an ihrem Hofe erschien. Die Malerin Vigée-Lebrun konnte sich über dieses Phänomen nicht genug wundern. Graf Ségur fand zwar, als er Katharina bei einer Audienz zum erstenmal in der Nähe sah, manches an ihr theatralisch, vieles in Szene gesetzt, aber auch er wurde bald gepackt von der Erscheinung dieser merkwürdigen Frau. Ganz selten begegnen wir in der Geschichte Katharinas tadelnden Urteilen ihrer Zeitgenossen. Man warf ihr höchstens einen zu grossen, zu hochmütigen Optimismus vor. Sie war indes überzeugt, dass ihr alles gelingen müsse, dass sie alle Hindernisse beseitigen werde.



Sie dachte nicht daran, in ihrem Reiche so radikale Reformen einzuführen wie Peter der Grosse. Mit ihrem gesunden Menschenverstand begriff sie sofort, dass es zu grosser und weitgreifender Veränderungen bedürfe, um etwas ganz Neues aus diesem unermesslichen Staate zu machen. Deshalb war ihre Regierung eine der klügsten, die Russland je gehabt; sie ging vollkommen mit den Ideen der Zeit und ihres Landes Hand in Hand. Zwar besass Katharina nicht die Gabe, sich bedeutende Staatsmänner und Helfer auszusuchen – ihr erster Minister Panin war ein sehr durchschnittlicher Mann –, aber sie verstand es wundervoll, ihre Leute auszunützen und den grössten Vorteil aus ihren Diensten zu ziehen. Und das gelang ihr allein durch ihr gewinnendes Wesen, ihre grosse Liebenswürdigkeit, mit der sie Schmeicheleien zu sagen verstand, und die wahrhaft königliche Art, die geleisteten Dienste mit Reichtümern und Auszeichnungen zu belohnen. Dadurch schuf sie sich die ergebensten Freunde und stärksten Stützen ihrer Macht und Volkstümlichkeit. Ihre Generale, von denen einige genial und unternehmend waren, gingen für sie durchs Feuer und mit Begeisterung in den Tod. Ihre Siege belohnte Katharina glänzend. Niemals tadelte sie eine Niederlage oder eine unkluge diplomatische Handlung. Sie munterte im Gegenteil die vom Pech verfolgten Truppenführer zu neuen Taten auf und versicherte sie einer baldigen Rehabilitierung. Dadurch fühlten sich die Betreffenden doppelt verpflichtet, alles daran zu setzen, um ihren Fehler wieder gutzumachen. Schliesslich erfasste Katharinas unverwüstlicher Optimismus in allen Dingen auch ihre Feldherren und Staatsmänner.



Erleidet sie irgendeine Niederlage, ob militärisch oder diplomatisch, es ist in ihren Augen stets nur ein «unbedeutender Zufall», ein Nichts, das nicht in Betracht kommt. Aber selbst der geringste Erfolg ihrer Waffen wird zum grössten, herrlichsten Siege, und nie verfehlt sie, ihn lauttönend der Welt zu verkünden und das Lob ihrer unvergleichlichen Feldherren und Soldaten zu singen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Berühmte Frauen der Weltgeschichte
Katharina II. Kaiserin von Russland (2)

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