Die Politikerin

Katharina behauptete von sich selbst, sie betriebe ihre Politik stückweise, ohne Zusammenhang. Ist auch in den äusseren politischen Angelegenheiten nicht immer alles von ihr gut ausgedacht, so fehlt doch nie eine gewisse gesunde Beurteilung der Dinge und Situationen. Sie schickt ihre Truppen nur gegen Staaten, die sich im Verfall befinden, und trägt infolgedessen stets den Sieg davon. Ihr Ruhm, ihr Reich, ihre Schätze wachsen zu ungeheurer Grösse an; die nordische Semiramis steht auf dem Gipfel ihrer Macht. Sie besucht ihre ausgedehnten Staaten wie eine wahre Herrscherin aus einem Feenreich. Ueberall sehen ihre Augen nur Glanz, Pracht, Fortschritt, Wohlstand. Nicht alles ist echt, was sie sieht. Vieles ist Schein. Patiomkin, der grosse Arrangeur, bereitet die Reise seiner Gebieterin vor. Das Schiff, das Katharina den Dnjepr hinabträgt, hat die höchsten Persönlichkeiten, die Grössen der Wissenschaft und Staatskunst an Bord, damit sich die Herrscherin überzeugen kann, welche Intelligenz, welche weisen Männer Russland hervorbringt. An den Ufern des Flusses sind wie auf Zauberworte neue Städte, Dörfer und Flecken entstanden. Eine Unmasse von Einwohnern drängt sich an den Ufern, um jubelnd das Schiff zu begrüssen, das Katharina, das «Mütterchen von Russland», vorüberträgt. Die Felder sind alle wohlbestellt, es ist eine Freude, sie anzuschauen. Auf den Wiesen weiden ungeheure Herden – alles Schein, alles Szenerie! Patiomkin, der phantastische Taurier, hat das alles für ein paar Tage hergezaubert. Aus den bevölkerten Bezirken Kleinrusslands, aus den Orten, wo die Kaiserin auf ihrer Reise nicht hinkommt, hatte man mit Gewalt die Einwohner an die einsamen Ufer des Dnjepr gebracht. Tausende von Dörfern wurden auf diese Weise in Kleinrussland auf eine gewisse Zeit entvölkert und die Bauern mit ihren Herden in die verschiedenen Gegenden geschleppt, an denen Katharina vorüberreiste. Es wurden Scheindörfer und Scheinstädte von leichtgebauten Holzhäusern errichtet, denen man ein gefälliges Aeusseres verlieh. Als die Reise der Kaiserin zu Ende war, trieb man die unglückliche Bevölkerung wieder in ihre Heimat zurück. Viele von ihnen gingen durch diesen Wechsel zugrunde. Katharina aber hatte die Genugtuung gehabt, sich selbst zu überzeugen, dass ihr Land und Volk glücklich und reich seien!



Wiederum war es eine sehr kluge Politik von Katharina, dass sie ihre Regierung, ihren Thron mit so ungeheurem Glanze umgab. Er verbarg den noch ziemlich wilden Hintergrund des Landes und seiner Bewohner. Mit ausserordentlichem Geschick verstand sie es, den Fremden an ihrem Hofe in die Illusion zu versetzen, dass er sich in der zivilisiertesten Stadt, an dem schöngeistigsten Hofe, in einem vollkommen gebildeten Staate befinde. Ohnedem wäre schwerlich die Orientierung Russlands gegen Europa zustande gekommen, und niemand kann der genialen Frau den Beinamen die «Grosse» versagen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Berühmte Frauen der Weltgeschichte