Germaine von Staël-Holstein

Madame de Staël, wie sie allgemein genannt wird, war nicht allein die bedeutendste französische Schriftstellerin ihrer Zeit sie hat auch der Romantik Theorien, Ideen und Kritik verliehen. Sie war geistreich, wissend und klug. In ihrer Persönlichkeit vereinigten sich indes die stärksten Gegensätze, denn sie war gleichzeitig die Geistesschwester des Idealisten Rousseau und die Bewunderin des Zynikers Voltaire. Frühzeitig entwickelte sich ihr Geist. Schon als Kind durfte sie an den Gesellschaften ihrer hochgebildeten Eltern teilnehmen. Der Vater war der grosse französische Finanzminister Necker, die Mutter eine äusserst begabte schöngeistige Frau. Die Necker führten in Paris ein grosses Haus. Germaine, die am 22. April 1766 geboren wurde, durfte bereits als Fünfjährige im Salon der Mutter erscheinen, in dem die bedeutendsten Männer der Wissenschaft und des Geistes verkehrten. So wuchs sie mitten unter Grössen wie Grimm, Marmontel, Saint-Lambert, Raynal, Buffon, Morellet auf. Das überaus temperamentvolle und begabte Mädchen war bald leidenschaftlich interessiert an den Gesprächen der Erwachsenen und machte sich deren Kenntnisse und Wissen zunutze. Im Salon eines Ministers und Staatsmannes vom Rufe Neckers werden gewiss die politischen Gespräche vor den literarischen den Vorzug gehabt haben. So wurden die Fähigkeiten und der Geist des jungen Mädchens anfangs auch hauptsächlich auf dieses Gebiet gelenkt. Mit fünfzehn Jahren bereits schrieb Fräulein Necker juristische und politische Abhandlungen. Ihre eigentliche schriftstellerische Tätigkeit indes begann im ersten Jahre ihrer Ehe mit dem schwedischen Gesandten am französischen Hofe, Baron von Staël-Holstein. Er stand geistig weit unter seiner klugen Frau. Sie hatte ihn auf den Wunsch ihrer Mutter ohne Liebe geheiratet. Die Ehe war höchst unglücklich, zumal auch der Baron seine junge Frau nicht liebte. Sie war ihm zu klug und nicht schön genug. Zwar hatte Germaine prachtvolle grosse Augen, aber ihre Züge waren derb, und die Gestalt war zu üppig. Nur der Charme ihres liebenswürdigen Wesens und ihr Geist setzten über die Mängel ihres Aeusseren hinweg. Beide Gatten trennten sich später in Güte, denn sie sahen ein, dass sie nicht für einander geschaffen waren. Frau von Staëls Herz verschloss sich indes nicht dem Manne, als er krank wurde. Sie pflegte ihn bis zu seinem Tode, der sechzehn Jahre nach ihrer Verheiratung erfolgte. In dieser langen Zeit hatten Gesellschaft, Literatur, Wissenschaft, Politik und die geistige Arbeit der Baronin von Staël- Holstein das ersetzt, was sie in ihrer Ehe vermisste. Bald war ihr Salon wie der ihrer Mutter einer der besuchtesten in Paris. Frau von Staël liebte Paris mit der Inbrunst des Künstlers, der nur dort Befriedigung findet, besonders das Paris der Revolution, die Frau von Staël als grosse Freiheitsschwärmerin mit Freuden begrüsste. Träumte sie doch für Frankreich eine Verfassung wie die englische. Und diese Hoffnung wurde von Männern wie Clermont-Tonnerre, dem Marquis de Montmorency, Malouet, Mounier und anderen, die in ihrem Hause verkehrten, geteilt, man politisierte und intrigierte bei Frau von Staël. Die Folge war, dass sie im Jahre 1792 dem Wohlfahrtsausschuss verdächtig und ihr Gemahl aufgefordert wurde, seine Gattin aus Paris zu entfernen. So zog sich Germaine von Staël-Holstein eine Zeitlang auf ihr elterliches Schloss Coppet am Genfersee zurück und blieb dort bis zum 9. Thermidor. Aber auch das Direktorium traute dieser klugen Frau nicht. Sie hörte nicht auf, alle diejenigen um sich zu scharen, die mit dem Verlauf der so verheissungsvoll begonnenen Revolution unzufrieden waren. Benjamin Constant, Cabanis, Roederer, Garat, Marie Joseph Chénier, Daunou und andere Anhänger der Opposition gingen bei Frau von Staël aus und ein. Und so sah sich die Verteidigerin der Freiheit aufs neue gezwungen, auf Befehl der Regierung Paris zu verlassen. Im Schlosse Coppet aber wurde sie aufs schärfste beobachtet.



Im Jahre 1797 schon kehrte sie wieder nach ihrem geliebten Paris zurück. Hier sah sie zum erstenmal den jungen Helden, den Sieger von Italien, den General Bonaparte, den sie in ihren Briefen an Freunde mit Scipio und Tankred verglich. Zu jener Zeit verblasste vor der Siegergestalt Bonapartes alles in den Augen der geistreichen Frau. Nichts kam ihm gleich. Er war der berühmteste Mann des Tages. Zwanzig gewonnene Schlachten wanden ihm ruhmvolle Lorbeeren um die Stirn. Alles war in ihm vereinigt: Genie, Edelmut, Tapferkeit, Jugend und Glück! Ihn umgab nicht allein der Zauber der Berühmtheit, sondern auch der Nimbus der Originalität. Er war nicht wie andere, kein Alltagsmensch. Sein Aeusseres schon hob ihn aus der Menge seiner Mitmenschen. Die hagere Gestalt war trotz aller Kleinheit imponierend; die tiefliegenden Augen in dem gelblichen Gesicht mit den langen dunklen Haaren verrieten Leidenschaft und Feuer. Mehr bedurfte es für eine so romantische Natur wie Frau von Staël nicht, um sich für ihn zu interessieren. Für sie war der General Bonaparte ein Halbgott. In seinen grauen Augen glaubte sie das Feuer für die Freiheit des Vaterlandes glühen zu sehen. Sie nannte ihn den besten Republikaner Frankreichs. Den Freiesten der Franzosen!

Wie bitter wurde diese kluge Frau in ihren Hoffnungen auf Bonaparte enttäuscht. Schon bei ihrer ersten Begegnung mit ihm zerfloss der Traum. Der General entsprach weder als Mensch noch später als Staatsmann ihren Erwartungen. In weiblicher Eitelkeit hatte sie im stillen gehofft, der berühmteste Mann des Tages werde die bedeutendste Schriftstellerin Frankreichs auszeichnen und auch als Frau nicht übersehen. Sie war enttäuscht. Der General beachtete sie kaum, als er ihr beim Minister Talleyrand vorgestellt wurde. Er sprach nur die notwendigsten Worte der Höflichkeit mit Frau von Staël. Sie hingegen war von seiner Person dermassen eingeschüchtert, dass sie, die sonst geistreiche, schlagfertige Frau, im ersten Augenblick kaum etwas auf seine Fragen zu antworten wusste. Als sie sich endlich etwas von ihrer starren Bewunderung erholt hatte, fühlte sie ein ausgesprochenes Angstgefühl in sich aufsteigen. Auch später, wenn sie sich in der Nähe Napoleons befand, wurde sie dieses schreckliche Gefühl nie los. Mit Lucien Bonaparte, der ihr sehr wohlgesinnt war, unterhielt sie sich oft darüber. Einmal sagte sie zu ihm: «Vor Ihrem Bruder (Napoleon) werde ich ganz blöd, weil ich ihm gefallen möchte. Ich weiss plötzlich gar nichts mehr, möchte mit ihm sprechen, suche nach Worten und drehe meine Sätze hin und her. Ich möchte ihn zwingen, sich mit mir zu beschäftigen, dabei bin ich in seiner Gegenwart dumm wie eine Gans.»

Ein Napoleon liess sich nicht zwingen. Er wich der klugen Frau absichtlich aus. Seine Abneigung gegen sie wurde von Tag zu Tag stärker. Sie war in seinen Augen ein Blaustrumpf, und er lehnte diesen Frauentypus ab. Aber vor allem fühlte er ihre gefährliche Geistesmacht, die er anfangs sogar mit Vorsicht behandelte. Noch hatte er ihren Einfluss zu fürchten, denn seine politische Stellung war damals durchaus nicht unerschütterlich. Frau von Staëls Herrschernatur hätte ja gar zu gern den Staat von ihrem Salon aus regiert. Sie wollte es um jeden Preis durchsetzen, mit ihren Ideen beeinflussend auf den Mann zu wirken, der das Ruder Frankreichs in Händen hielt. Aber Bonaparte wollte weder von ihr beraten noch beobachtet sein. Alles an ihr schreckte ihn: ihr Salon, ihre Feder, ihr Geist, ihre Einmischung in die Politik.

So entspann sich jener erbitterte Kampf zwischen den beiden Grössen des Geistes und des Schwertes. Anfangs war er rein persönlich. Er begann mit der verschmähten Bewunderung des Genies auf der einen und der Ablehnung alles Unweiblichen auf der anderen Seite. Bald wurde aus diesem persönlichen Kampfe ein politisches Ringen, bei dem keins von beiden nachgeben wollte. Mit ein wenig Vernunft hätte Frau von Staël sich wohl ein besseres Los schaffen können als ihr bevorstand. Hätte sie sich ruhig verhalten, hätte sie sich nicht um Politik gekümmert, hätte sie nur gute Romane und geistreiche Reisebücher geschrieben, Napoleon wäre weder als Konsul noch als Kaiser zu ihrem Peiniger und Verfolger geworden. Aber Frau von Staël versäumte nie eine Gelegenheit, ihm zu schaden, sei es in Worten oder mit der Tat. Sie verband sich mit seinen Feinden und Gegnern und intrigierte, wo sie konnte, bis sie schliesslich ganz öffentlich gegen die «aufsteigende Tyrannenherrschaft» Stellung nahm. Der offene Bruch mit dem Ersten Konsul war unvermeidlich. Gerade um diese Zeit war das Haus der Frau von Staël von allen bedeutenden Persönlichkeiten aus der Pariser politischen und geistigen Gesellschaft besucht. Man kabalierte und intrigierte wie einst, ja man sprach in Frau von Staëls Hause ganz unumwunden den Wunsch aus, den Ersten Konsul zu stürzen.

Napoleons Geduld hatte das höchste Mass erreicht, und vielleicht fürchtete er ernstlich, dieser Herd der Intrige könne gefährliche Ausmasse annehmen. Es war also für ihn von Bedeutung, die Urheber kaltzustellen. Ausser einigen anderen Gegnern seiner Macht traf auch Frau von Staël im Oktober 1803 der Befehl, Paris zu verlassen und es nie wieder zu betreten. Sie durfte sich nur im Umkreis von 40 Meilen der Stadt nähern. Es war ein harter Schlag. Nicht nur für die Weltdame, der die Pariser Luft Bedürfnis war, sondern auch für die Schriftstellerin, die diese Luft zur Inspiration ihrer Werke bedurfte, kurz für die Schaffende und geistig Tätige. Für sie war es wahrhaft die Vertreibung aus dem Paradies! Paris, wo allein die Unterhaltung mit kongenialen Menschen ihr Genuss bedeutete! Paris, das ihrem Temperamente und ihrem Geiste so ganz entsprach! Paris, das sie über alles liebte! Dieses Paris sollte ihr von nun an für immer verschlossen bleiben! Diesen Gedanken ertrug sie nicht. Um an nichts mehr erinnert zu werden, was mit Paris und seiner Gesellschaft zusammenhing, begab sich Frau von Staël nach Deutschland. Selbst ihr schönes Schloss Coppet konnte sie damals nicht fesseln. In Deutschland wurde die berühmte französische Schriftstellerin gefeiert. Die Höfe rissen sich um ihren Besuch. Ueberall wo Frau von Staël erschien, fand sie begeisterte Aufnahme. Hier verstand man sie; hier erkannte man ihren Wert.



Leider musste sie ihre Reise bald darauf unterbrechen. Der Tod ihres Vaters rief sie nach Coppet zurück. Aber sie traf ihn, den sie vergöttert hatte, nicht mehr am Leben. Ihr Schmerz über diesen Verlust war unbeschreiblich. Nun war Coppet für sie noch einsamer. Sie hielt es nicht lange dort aus. Eine zweite Reise führte sie nach Italien. Erst im Jahre 1805 kehrte sie wieder an den Genfersee zurück. Die Frucht dieser Reise war ihr berühmter Roman «Corinne». In Coppet wurde er vollendet und erzielte einen ungeheuren Erfolg, der sie in der ganzen Welt bekannt machte.

Mehr denn je war Frau von Staël jetzt der Mittelpunkt des geistigen Lebens. Zu ihr nach Coppet strömte alles, was Napoleon feindlich gesinnt war, oder was nicht unmittelbar unter seiner gewaltigen Faust stand. Neben ihren früheren Freunden, wie Benjamin Constant, Lucien Bonaparte, dem Marschall Bernadotte, Camille Jordan, Julie Récamier, tauchten neue auf wie Sismondi, Barante, Elzéar de Sabran, Friedrich Bonstetten, die beiden Schlegel usw. Jetzt hatte sie sogar den Mut, während der Kaiser der Franzosen sich im Felde befand, wieder nach Paris zu gehen. Sie hoffte, Napoleon werde sie inmitten seiner Kriegs- und Staatssorgen vergessen haben. Aber seine gutorganisierte Polizei hatte die gefährliche Frau nicht aus dem Auge gelassen. Und noch ehe Frau von Staël Paris erreichte, war der Kaiser bereits davon unterrichtet. Sie musste wieder umkehren.

Aufs neue enttäuscht und beleidigt, trat sie ihre zweite Reise nach Deutschland an. Ihre Rache war das bald darauf erscheinende Werk «De l'Allemagne». Da es eine gewaltige Niederlage alles Französischen bedeutete, war vorauszusehen, dass es Napoleons Missfallen erregte. Er liess sofort die ganze Auflage zerstören, die Matrizen vernichten und das Manuskript beschlagnahmen. Frau von Staël musste ihre Deutschfreundlichkeit teuer bezahlen. Diesmal war die Ungnade des Kaisers fürs Leben. Jetzt verbannte er sie nicht nur aus Paris, sondern aus Frankreich. Auf ihrem Schloss Coppet wurde sie wie eine Gefangene bewacht. Ihre Freunde traf das gleiche Schicksal. Die schöne Julie Récamier und Mathieu de Montmorency, ihre besten Freunde, wurden verbannt, die beiden Schlegel ausgewiesen. So ward ihr das Leben in Coppet zur Qual. Im Jahre 1812, nachdem sie sich ein Jahr zuvor mit dem zweiundzwanzig Jahre jüngeren Husarenoffizier John Rocca vermählt hatte, ergriff sie vor dem mächtigen Arme Napoleons die Flucht. Aus Frankreich verjagt, fand sie an den Höfen von Deutschland, Oesterreich, Russland, Schweden und England die freundlichste und ehrenvollste Aufnahme.

Erst mit Hilfe der Verbündeten sah sie im Jahre 1814 ihr Paris wieder. Aber die Restauration war nicht nach ihrem Sinn. Scharfsichtig und klug schrieb Frau von Staël ihr bedeutendstes Werk «Considérations sur la Révolution Française», das sie freilich nur notdürftig beenden konnte, weil sie schon zwei Jahre später starb. Dieses Buch machte wegen der darin enthaltenen klaren, scharfen und geistreichen Beobachtungen über die sozialen und politischen Zustände in Frankreich, besonders aber weil die Verfasserin energisch gegen die Herrschaft Napoleons auftrat, grosses Aufsehen. Aus der glühenden Bewunderin des jungen Siegers von Italien, hatte sich eine grimmige Feindin des Kaisers entwickelt. In den «Considérations» sowohl als auch in ihrem Erinnerungswerk «Dix Années d'Exil», besonders aber in diesem, entwirft Frau von Staël von Napoleon kein schmeichelhaftes Bild. Alle Bitternis gegen den Mann, der sie so schwer kränkte und so arg enttäuschte, der ihre Eigenliebe so sehr verletzte und sie nicht einmal als Schriftstellerin anerkannte, kommt in diesem Buche zum Ausbruch. Sie hasste den Mann, der einst, als sie ihn fragte: «General, welche ist in ihren Augen die bedeutendste Frau?» erwiderte: «Madame, die, welche ihrem Manne die meisten Kinder schenkt!» Damit hatte er Frau von Staël im innersten getroffen. Er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er ihrem schriftstellerischen Genie nicht die geringste Bedeutung beimesse. Und als Frau hatte sie keinerlei Eindruck auf ihn gemacht. Dass aus dem General Bonaparte der Kaiser Napoleon wurde, darüber vergoss die freie Republikanerin am 18. Brumaire bittere Tränen. Dies und die Nichtachtung, die sie durch Napoleon jederzeit erfuhr, schlugen ihr tiefe Wunden. Der Schrecken aller Schrecken aber war für Frau von Staël die Verbannung. Fast ihr ganzes Leben stand dieses Schreckgespenst vor ihr, denn unter jeder Regierung, vom Beginn der Revolution an, war Frau von Staël verfolgt worden. Zwar verbannte Napoleon Frau von Staël nur aus Frankreich, in dem übrigen Europa konnte sie tun und lassen was sie wollte. Was aber war Frau von Staël die ganze Welt ohne Paris! Nur in Paris konnte sie leben. Ruhelos irrte sie von Land zu Land, von Stadt zu Stadt, nirgends Befriedigung findend. Wie die Motte, die ums Licht flattert und sich die Flügel verbrennt, nähert sich Frau von Staël trotz aller für sie bestehenden Gefahren der glänzenden französischen Hauptstadt. Und immer von neuem schwebt das Damoklesschwert über ihr. Auf jeder Seite ihres Memoirenwerkes «Dix Années d'Exil» meint man den ohnmächtigen Verzweiflungsschrei der Verbannten, die sich halbtot nach Paris sehnt, zu hören. Dieses Buch ist wie im Fieber einer im höchsten Grade erregten leidenschaftlich empfindenden Frau geschrieben. Man fühlt, wie sie in der Verbannung, fern von der sie belebenden Hauptstadt, leidet und geistig verschmachtet. Sie brauchte die Atmosphäre von Paris zu ihrem ganzen Dasein. Sie war dort geboren, aufgewachsen, hatte dort ihre Jugend verlebt und später eine glänzende Rolle in der Gesellschaft gespielt. Und jahrelang war ihr dann alles verschlossen. Man hatte aus Paris gleichzeitig die Dame von Welt und die Schriftstellerin verbannt, denn auch ihre Werke durften dort nicht erscheinen.

Wohl hätte sie in ihrem schönen Schlosse an den blauen Ufern des Genfersees zufrieden leben und ebenfalls ein Glück, wenn auch ein anderes als in Paris, finden können. Frau von Staël war indes keine Dichterin, die von der Stille der Natur und einer schönen Landschaft begeistert oder inspiriert wurde. Sie brauchte das stark pulsierende Leben der Großstadt. Sie brauchte Paris mit seinen tausend Zerstreuungen und Abwechslungen. Denn trotz ihres unbestreitbar grossen schriftstellerischen Talentes war sie nicht die feinempfindende Künstlerin, deren Auge in und mit der Natur geniesst. Sie sah eine schöne Landschaft, prägte sie sich in ihrem Geist ein, war aber unfähig, wirklich ästhetisch zu geniessen und das Gesehene mit der Seele des Dichters zu beschreiben. Auf ihrer Flucht vor der Gewalt Napoleons sah sie die herrlichsten Länder. Sie erlebte Galiziens romantische Schönheit, Russlands träumerische Landschaft, Deutschlands herrliche Wälder und die majestätischen Felsen Skandinaviens. Sie alle sind an ihrem sehenden und beobachtenden Auge vorübergezogen, aber kein einziges dieser Landschaftsbilder hat ihre Seele wahrhaft berührt. Ihr Interesse wurde nur von dem einen Gedanken beherrscht: Paris! Sie durcheilte Länder und Städte wie eine neugierige Touristin. Die Menschen interessierten sie mehr als die Natur. Eine einzige geistreiche Plauderstunde mit ihren Freunden in Paris ging ihr über alles. Und doch war sie eine Bewunderin des grossen Naturschwärmers Rousseau.


Wie gesagt, es waren in ihr die stärksten Gegensätze vereint. Wenn Frau von Staël indes wenig geeignet ist, uns ein farbenprächtiges Gemälde der Natur in ihren Büchern zu bieten, so hat sie es um so besser verstanden, Menschen und Sitten zu beobachten. Das Beste in dieser Beziehung hat sie in den «Dix Années d'Exil» mit der Schilderung Russlands und seiner Bewohner geboten. Sie sieht und versteht den russischen Bauer, den Muschik. Sie fühlt, wie er denkt, wie er lebt, arbeitet und faulenzt. Sie ergründet das Innere des russischen Juden. Sie schaut in die Bürgerhäuser und die Paläste. Sie, die kein Wort Russisch kann, versteht doch so gut dieses eigenartige Volk und beurteilt es treffender als ein russischer Schriftsteller. Durch Frau von Staël sind die Franzosen erst ein wenig bekannter mit den Sitten und dem Leben in Russland geworden. Ehe ihr Werk erschien, wusste man in Frankreich recht wenig davon. In Paris kannte man nur die europäisierten Russen der höfischen Welt, die Gesandten und vornehmen Weltleute, die nach Paris kamen, um entweder ihres Amtes zu walten oder auch nur ihr ungeheures Vermögen auszugeben und sich zu amüsieren. Und man hatte nicht immer von allen einen günstigen Eindruck bekommen. Frau von Staël aber sprach den Franzosen in ihren Büchern von dem Volke und seinem Leben. Auch Deutschland hat sie in ihrem Werk «De l'Allemagne» ihren Landsleuten um vieles näher gebracht. Wie wunderbar sind alle ihre Schilderungen der Menschen, denen sie auf ihren Reisen begegnet! Auch in Deutschland macht ihr die Sprache Schwierigkeiten, wenigstens im Anfang. Dennoch ist sie von der deutschen Literatur begeistert. In Weimar trifft sie mit Goethe, Wieland und Schiller zusammen und ist erstaunt, ausserhalb Frankreichs so viele geistige Reichtümer zu finden. Drei Monate lang wird sie von dem Herzog und der Herzogin von Weimar festgehalten, so sehr gefällt die geistreiche Frau. Auch in Berlin hatte sie den grössten Erfolg. Sie, die überzeugte Republikanerin, war von der reizenden Königin Luise begeistert und angezogen. Nichts entging ihrem scharfen Auge, und als sie ihr Buch über Deutschland beendet hatte, freute sie sich, es den Franzosen schenken zu können, um sie mit den neuen Ideen dieses Landes bekanntzumachen. Wie enttäuscht war sie deshalb, als sie im Oktober 1810 vom französischen Polizeiministerium den Bescheid erhielt, dass ihr Buch nicht erscheinen dürfe, weil es zu deutschfreundlich sei. Im Zusammenhang damit musste sie auch Herrn von Schlegel, den deutschen Gelehrten, der ihren Sohn erzog, verabschieden, mit der Begründung, er flösse ihr eine antifranzösische Gesinnung ein!

Die Memoiren dieser genialen und geistreichen Frau, die so vieles erlebte, sind äusserst interessant. Sie konnte sie jedoch nicht beenden, da sie der Tod überraschte. Frau von Staël starb am 14. Juli 1817, dem Jahrestag der Französischen Revolution, in Coppet am Genfersee in den Armen Julie Récamiers, ihrer besten Freundin. Die Schönheit und das Genie hatten sich zusammengefunden; nur der Tod vermochte sie zu trennen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Berühmte Frauen der Weltgeschichte