Berliner Wohnungsnot

Aus: Daheim. Ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen. Ausgegeben am 21. Oktober 1871.
Autor: Th. Coßmann, Erscheinungsjahr: 1871
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Berlin, Hauptstadt, Wohnungsnot, Obdachlose, Spekulation, Mieten, Wohnungsbau, Spekulanten, Baupreise, Wohnungssuchende, Wohnlagen, Besserverdienende,
Der Kurszettel der Berliner Börse wächst alle Tage; immer und immer kommen neue Effekten hinzu und bilden den Schrecken der Zeitungen, die nicht mehr wissen, wo sie den Raum dafür auffinden sollen. Und doch gibt es noch manche Gegenstände, die der Tagesspekulation unterliegen und ihren marktgängigen Kurs haben, auch je nach dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage der verschiedensten Schwankungen bei lebhaftem Verkehr unterliegen, ohne dass sie bisher Aufnahme in den amtlichen Kurszettel gefunden. Den einen dieser Artikel bilden – die Maikäfer, die allerdings nur eine kurze Zeit des Jahres und auch nur unter der Berliner Jugend, dafür aber desto lebhafter, gehandelt werden. Nie für Geld, ihr Preis wird seit undenklichen Zeiten nur in Stecknadeln bezahlt; kein Junge, der nach hergebrachter Melodie auf der Straße „Maikäfer, Maikäfer, Stück zwei Nadeln!“ ausruft, würde ein solches Tier, das stets in Zigarrenschachteln umhergetragen wird, einem anderen für Geld verkaufen, nur für Nadeln und wechselt der Kurs nach der Witterung und der „heurigen Ernte“ zwischen 12 Nadeln pro Stück und drei Stück für eine Nadel.


Ein anderes Spekulationsobjekt bildet das Berliner Intelligenzblatt, und zwar nur als Leihgegenstand, aber auch zu wechselnden Preise. Wer des Nachmittags gegen vier Uhr, der Erscheinungszeit dieses nur mit Anzeigen gefüllten Blattes die Zimmerstraße, wo es ausgegeben wird, entlang geht, der sieht stets Knaben und Frauen, welche das Blatt austragen, umringt von Dienst- und Beschäftigungssuchenden, welche für drei bis 6 Pfennige, je nach der Nachfrage, die Erlaubnis erhalten, das Blatt gleich nach dem Erscheinen auf einem Hausflur durchsehen zu können, um späteren Konkurrenten zuvorzukommen. Jetzt gerade ist dieser Andrang so stark, dass bis zu einem Silbergroschen gezahlt wird; die ganze Straße ist jetzt gegen vier Uhr dicht besetzt von Leuten, welche förmlich Jagd machen auf jeden Zeitungsjungen: Die Hausflure dieser und der benachbarten Straßen sind mit Lesern besetzt, auf den Haustreppen sitzen sie und studieren; an den Mauern stehen sie und machen Auszüge, schreiben sich Notizen aus, und mit sichtlichen Zügen der Angst und Hast, jeder in Sorge, es möchte ihm ein anderer zuvorkommen; und wenn sie geschrieben, flitzen sie in atemloser Eile davon nach allen Gegenden hin, man bemerkt fast keine jungen Leute darunter, ältere Männer und Frauen, sorgenvoll alle; Arbeiter, kleine Handwerker, auch kleine Beamte aller Art sind unter der Menge zu erkennen – sie suchen nicht Beschäftigung, sie such Wohnungen! Der Umzugstermin steht vor der Tür und noch haben die Ärmsten kein Unterkommen! Die Wohnungsnot, das seit lange drohende Gespenst, ist plötzlich in erschreckender Gestalt aufgetreten, die Wohnungsnot ist da!

Berlin hat jetzt einen bisher ungeahnten Aufschwung genommen; die Kaiserstadt will sich ihres Namens wert machen, aus den besseren Stadtteilen verschwinden alle kleinen Wohnungen, die größeren werden in ihren Preisen bis zu unerschwinglichen Höhen gesteigert (Es gibt Etagen bis zu 11.000 Thaler Miete! Wohnungen von 1.000 Thaler sind auf einmal auf 2.000 hinaufgesetzt u. dgl. m.) die Einnahmen halten nicht gleichen Schritt, und deshalb müssen diejenigen, welche bisher in den besseren Stadtteilen gewohnt und dort Mittelwohnungen, zu 200 bis 400 Thaler inne gehabt hatten, nach den entlegeneren Gegenden ziehen, wo die Nachfrage jedoch ebenfalls den bisherigen Preis der kleineren Quartiere so steigert, dass die früheren Mieter sie nicht mehr bezahlen können. Und diese Armen sind schlimm daran! Was nützt es, dass so und so viele tausend Wohnungen lehr stehen, wenn keine Leute da sind, sie zu bezahlen? Und die Wirte lassen lieber einmal eine Wohnung ohne Mieter, als dass sie billiger fortgeben, wodurch die Rentabilität, also der Preis des Hauses, herabgesetzt würde. Und das Haus ist jetzt eine sehr gesuchte, täglich ihren Besitzer wechselnde Ware geworden; jeder vorübergehende Besitzer sucht an dem Grundstück zu verdienen, denn dazu hat er es ja nur gekauft, steigert deshalb die Miete, und so bildet dies eine Schraube ohne Ende. Dazu kommt, dass die Freizügigkeit einen ungeheuren Zuwachs meist ärmerer, kleinerer Leute nach Berlin führt; hier glaubt jeder das Eldorado seiner Träume zu finden, sieht sich oft bald enttäuscht, wird mutlos, hat aber doch nicht die Energie, wohl auch nicht mehr die Möglichkeit und die Mittel, in seinen alten Wohnsitz zurückzukehren und vermehrt so nur die Menge der Unterkunftsuchenden, aber nicht Findenden.

Sodann hat die solang gewünschte, an sich gewiss nationalökonomisch gerechtfertigte Maßregel der Aufhebung der Wuchergesetze, wie jede große, wenn auch noch so nützliche Neuerung, zuerst auch große Nachteile in ihrem Gefolge. Die Hypothekenzinsen, die früher 5% nicht übersteigen durften, gehen jetzt meist weit über diesen Satz hinaus, die Wirte müssen also, wenn nicht eine grässlich Häuserkalamität hereinbrechen soll, mehr Rente aus ihren Häusern herausbringen, also die Mieten erhöhen und wie hart dies auch den davon Betroffenen ankommen, wie drückend ihm erscheinen muss, er kann doch dem Hausherrn nicht Unrecht geben. Aber viele der Berliner Wirte übertreiben es oder drehen die Schraube überhaupt ohne Notwendigkeit; sie betrachten die ganze Berliner Bevölkerung nur als das Material, aus dem möglichst viel Kapital herausschlagen; es hat sich mit der Zeit ein oft unerträgliches Verhältnis zwischen Wirt und Mieter herausgebildet, hauptsächlich unterstützt durch die berüchtigten Mietkontrakte, die den Mieter zum Leibeigenen des Wirts machen, ihn ganz wehr- und schutzlos in dessen Hände liefern, seiner Willkür überlassen, dem einen alle Rechte, dem andern gar keine einräumen, es stets in das Belieben des Grundherrn stellen, unter den erbärmlichsten Vorwänden seinen Zinsmann zu exmittieren, ihn an Eigentum, Ruhe und Gesundheit selbst zu schädigen – und der arme weiß, wie schwer es ihm, zumal wenn er exmittiert worden, fällt, ein neues Unterkommen zu finden; hat er viel Kinder, ist es oft fast unmöglich, und so hat sich mit der Zeit in der ärmeren Bevölkerung Berlins ein erbitterter Hass gegen die Hauswirte ausgebildet, der bei erster Gelegenheit zu den ärgsten Konflikten ausbrechen kann, oft genug schon ausgebrochen ist. Und das bei jedem Streit zwischen Wirt und Mieter alle Armen, Besitzlosen, in gleicher Not sich befindenden auf der Seite des Letzteren stehen, ist natürlich.

Was soll nun geschehen? Zur schnellen gründlichen Abhilfe dieser Not ist keine Aussicht; für die Obdachlosen wird Unterkommen geschafft werden; vor größeren Exzessen wird die Energie der Behörden die Stadt zu schützen wissen, kleine Krawalle werden wohl stattfinden, aber was dann?

Und da hegen wir zuerst die Hoffnung, das die vielen Bauvereine, die jetzt entstehen, und welche nicht um zu spekulieren, sondern um wirkliche Abhilfe zu schaffen, rings um Berlin kleinere Häuser und gesunde Wohnungen für Arbeiter und untere Beamte errichten; welche ferner dem Sparsamen es ermöglichen, mit geringen Opfern allmählich selbst in den Besitz eines eigenen Herdes, eines kleinen Hauses zu kommen, von wahrhaftem nachhaltigem Nutzen sein werden. Der moralische Einfluss ist schon unendlich viel wert; ein fester selbst erworbener Besitz gibt dem dann ansässigen Arbeiterstande und den verhältnismäßig unbemittelten Klassen einen tüchtigen Halt. Die Wohnungsnot wir verschwinden, zumal wenn bessere Kommunikationsmittel, neue Straßen, Pferdebahnen usw., wie es in der Absicht liegt, diese Kolonie in leichtere Verbindung mit dem Mittelpunkt bringen. Und in diesem Sinne regt sich allerwärts die Tätigkeit, und überall sehen wir solche Kolonien entstehen. Dann aber muss eine gründliche Änderung der Hypothekenverhältnisse eintreten, deren schleppender Geschäftsgang jetzt dem Kapitalisten die Luft nimmt, sein Geld im Grundbesitz anzulegen, auf solchen auszuleihen. Hypotheken-Pfandbriefe müssen diese Gelder leicht flüssig erhalten, und es wird der Besitz eines Hauses nicht mehr ein so riskierter, sorgenvoller sein, dass der Besitzer gezwungen ist, durch übertriebene Mieten sich schon im Voraus gegen alles Risiko zu schützen.

Aber das alles braucht Zeit. Für jetzt ist die Wohnungsnot da und wollen wir nur wünschen, dass dieselbe nicht zu neuem Unglück führe!

Einstweilen führt sie zu allerlei drolligen aber bezeichnenden Szenen, so ist hier, in der Linienstraße, eine kleine Wohnung, bestehend aus zwei Stuben ohne Küche, die Leute kochen im Wohnzimmer! Diese Wohnung ist nicht gekündigt, wird nicht frei, ein s. g. Spaßvogel hatte sich aber den Witz gemacht, dieselbe im Blatt anzuzeigen. Und plötzlich, nach Erscheinen des Blattes, kommt atemlos ein Wohnungssuchender angejagt und hört mit Erstaunen und Kummer, dass keine Wohnung frei ist. Dann ein zweiter, ein dritter, zehn, zwanzig, hundert, es wird Tumult, der Wirt schließt endlich, nachdem vielleicht fünfhundert dort gewesen und viele ihn selbst insultiert und fasst gemisshandelt, weil sie glaubten, er mache Ausflüchte und sie seien ihm nicht passend, das Haus und bis zum Abend dauerte der Andrang, der Tumult. Das ist so ein kleines Zeichen der Berliner Wohnungsnot!
          Th. Coßmann

Daheim 21. Oktober 1871

Daheim 21. Oktober 1871

Berliner Wohnungsnot 1871 Daheim 057

Berliner Wohnungsnot 1871 Daheim 057

Berliner Wohnungsnot 1871 Daheim 058

Berliner Wohnungsnot 1871 Daheim 058

Berliner Wohnungsnot 1871

Berliner Wohnungsnot 1871