Vor Ostern

In dieser Zeit vor Ostern ging es wohl in den meisten Berliner Häusern recht lebhaft zu. Zunächst kam das große Reinmachen, wobei in herkömmlicher Weise viel Staub aufgewirbelt, das Unterste zu oberst gekehrt, reichlich Bruchgut in Glas, Porzellan und Gips geliefert und mancher Schiller und Goethe mit dem Kopf nach unten auf dem Bücherbord aufgestellt wurde, um in Häusern, wo die älteren Klassiker unserer Literatur nicht mehr besonders geachtet werden, in dieser unbequemen Stellung bis zum nächsten Reimnachen stehen zu bleiben. Darauf folgte der Mädchenwechsel, der um Ostern großartige Dimensionen annimmt. Es war ein guter Tag für die Droschkenkutscher. Einer, noch dazu ein Taxameterfahrer, mit dem ich am Abend des zweiten April eine Tour machte, berichtete mir, daß er an diesem Tage vierzehn Dienstmädchen mit je einer Kommode von Herrschaft zu Heerschaft gebracht hatte. Damit hatte er ein gut Stück Geld verdient und pries deshalb die Unbeständigkeit der Mädchen, worin ich ihm nicht beipflichten konnte. In den Häusern aber gab es viel Abschiednehmen und Willkommenheißen. Zwei Donnen gingen, zwei Donnen kamen, und die meisten Neuantretenden werden wohl zuerst gut gekehrt haben - die meisten, aber nicht alle, denn aus langjähriger Erfahrung weiß ich, daß manche in den ersten Tagen schon Enttäuschung und Schrecken hervorrufen und damit den Wunsch, sie sobald wie möglich wieder loszuwerden. Weiter ist in den Schulen die Versetzung vor sich gegangen, leider nicht in allen Fällen da, wo sie erhofft wurde, und in den Kirchen die Konfirmation vieler Berliner Kinder. Man sah auf der Straße die Konfirmandinnen in schwarzem Anzuge mit dem Gesangbuch und einem Blumenstrauß in den Händen. Dazu kamen die katholischen Mädchen, die gefirmelt wurden, in anmutigerer Tracht: weißgekleidet mit einem Kranz auf dem Häuptlein und einem Schleier. Die Konfirmation wird neuerdings mit mehr äußerlicher Feier verbunden, als es früher Brauch war und besonders spielen die Geschenke dabei eine große Rolle. Das ist schon an den Zeitungen zu ersehen, in denen die Geschäftsleute sehr verschiedenartige und manchmal sehr merkwürdige Sachen als Konfirmations- Geschenke empfehlen. Das kannte man zu meiner Jugendzeit noch nicht. Ich erinnere mich nicht, daß wir zu unserer Einsegnung etwas anderes geschenkt bekamen als ein Gesangbuch oder eine Bibel. Es wurden uns aber an diesem Tage unsere Patengeschenke, die bis dahin verschlossen geblieben waren, nebst den Patenbriefen übergeben. Darunter befand sich denn manches, was uns Freude machte und sich nachher, wenn man auf die hohe Schule gegangen war, als Versatzstück verwerten ließ. Auf die hohe Schule wird jetzt aus manchem Berliner Hause ein junger Mann entlassen, der vor Ostern glücklich das Abiturientenexamen bestanden hat. Viel Kopfzerbrechen hatte hie und da die Frage veranlasst, was er studieren solle. Aus so einem jungen Menschen ist schwer herauszukriegen, zu welchem Fach er eine besondere Neigung hat, und gewöhnlich hat er auch zu keinem eine besondere Neigung. Was soll er nun werden? Ach, alle gelehrten Fächer sind ja so überfüllt! Soll er einen freien Beruf erwählen, soll er Dichter werden? Nein, nein! Auch auf dem deutschen Parnaß sitzen sie ja schon so dicht beieinander, daß kein Durchkommen mehr möglich ist. Wenn er nur nicht geistig so hoch veranlagt wäre, dann könnte er sich doch einem Handwerk widmen, oder einen Geichäftszweig ergreifen, wobei etwas herauskommt. Nach langem Überlegen entscheidet man sich für eine beliebige Fakultät, bei der er sich einschreiben lassen soll, spätere Umsattelung vorbehalten. Eine weitere Frage ist die, ob er auf der Universität in eine Couleur einspringen, ob er ,,aktiv“ werden soll. Die Schwestern und die Cousinen sind dafür. Die Mutter ist unentschieden, sie möchte ihn gern in Farben sehen, ihr bangt aber doch etwas vor den Mensuren. Die alten unverheirateten Tanten sind entschieden dagegen. Sie haben schreckliche Geschichten gehört von abgehauenen Nasen, die der bei dem Zweikampf anwesende Couleurhund aufschnappte, von ausgeschlagenen Zähnen und abgesprengten Schädelstücken und greulich entstellten Gesichtern. Ach, sie ahnen nicht, daß der junge Knabe, der mit so ehrbarem Gesicht und anscheinend innerlich bewegt ihre Mahnungen anhört, am Abend vorher schon als ,,mulus“ im Hinterzimmer eines Berliner Kneiplokals die bunte Mütze probeweise auf dem Kopf gehabt und einigen Unterricht im Komment und im Salamanderreiben empfangen hat.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Berliner Bilder