Beschäftigung auf der Stadtbahn

Ist auf der Berliner Stadtbahn schon einmal ein weibliches Wesen mit einer Handarbeit beschäftigt gesehen worden? Ja, ich habe schon einmal in der dritten Klasse, die von Leuten meines Standes meist zum Fahren benutzt wird, eine strickende Frau gesehen, aber dies eine Mal nur, und das ist schon lange her. Das Stricken ist ja überhaupt als Handarbeit mehr und mehr abgekommen, seit Maschinen dafür erfunden sind, die sehr akkurat arbeiten und nicht leicht eine Masche fallen lassen. Es ist mir im vorigen Sommer aufgefallen, daß von den vielen Fischfrauen, die morgens auf der „Zufriedenheit“ - so heißt der kleine Dampfer - von der Nehrung nach Danzig fahren, nur wenige noch strickten. Die meisten waren untätig bis auf ihre Zungen, die ebenso auch die Strickenden in unaufhörlicher Bewegung erhielten. Am Ende werden nur noch die Schäfer stricken, bis auch diese so gebildet geworden sind, daß sie das Schafhüten für amüsanter halten, wenn sie dabei einen modernen Roman lesen. Was nun das Lesen anbetrifft, so spielt es auf der Berliner Stadtbahn - für einen Skat ist ja doch die Zeit gewöhnlich zu kurz - eine ziemlich bedeutende Rolle. Viele Männer lesen unterwegs eine Zeitung, die sie von Hause mitgenommen oder beim Zeitungshändler auf dem Bahnhofe erstanden haben. Damen, besonders jüngere, werden häufig mit einem Buche in der Hand eifrig lesend angetroffen. Wenn ich so etwas sehe, fühle ich mich immer versucht, die Dame anzureden und zu ihr zu sagen: ,, Bitte, Fräulein, darf ich einmal sehen, was Sie da lesen?“ Bis jetzt habe ich es noch nicht getan, mir hat immer noch der Mut dazu gefehlt. Ich komme mir für eine solche Frage noch zu jung vor und will, ehe ich sie stelle, noch zehn bis fünfzehn Jahre warten. Auch dann werden ja noch interessante Geschichten von jungen Damen auf der Stadtbahn gelesen werden. Häufig ist auch auf der Stadtbahn der Kandidat oder Gelehrte (stets dritter Klasse fahrend), der irgendwo etwas vorzutragen oder zu dozieren hat und sich noch in aller Eile mit Hilfe eines Manuskripts vorbereitet. Der ist häufig, und nicht selten ist auch (aber nur zweiter Klasse vorkommend) der Rechtsanwalt, der nach dem Stadtgericht fährt und im letzten Augenblick noch einen Blick in die Akten wirft, um dahinter zu kommen, um was es in dem gerade vorliegenden Falle sich handelt. Gedichtet wird auf der Stadtbahn, wie ich glaube, nur selten. Unmöglich ist es durchaus nicht, es fehlt aber den Dichtern unserer Tage gewöhnlich an der dazu nötigen Konzentrierungsfähigkeit. Mündliche Unterhaltung fängt an lebhaft zu werden am Abend, wenn die Arbeiter nach dem Osten zurückfahren. Dann bekommt man manchen Vortrag zu hören, in dem entweder die ganze Welt oder eine der Gesellschaftsklassen oder auch ein einzelner Mensch - z. B. eine zu der Familie im Verwandtschaftsverhältnis stehende ältere Dame - als unsympathisch geschildert wird. Viel seltener hört man Äußerungen, in denen die Freude am Dasein und optimistische Anschauungen sich kundgeben. Doch auch das kommt vor, und mitunter wird auch ein gemeinsames Lied gesungen, das man gern anhört, auch wenn es aus ein wenig verstimmten Kehlen kommt. Nach dieser Zeit wird es stiller auf der Stadtbahn, dann aber lebendiger wieder um die späte Stunde, wenn die Leute aus den Gesellschaften zurückkehren und sich darüber unterhalten, ,,wie es gewesen ist“. Dabei bekommt man mancherlei zu hören, was eigentlich nicht für weitere Kreise bestimmt ist. ,,Nein,“ höre ich eine weibliche Stimme sagen, ,,ganz unbegreiflich ist es doch, wie eine Frau in ihren Jahren noch auf diese Weise aufgedonnert in Gesellschaft erscheinen kann! Trotz allem, was sie sich an- und umgehängt hatte, sah sie über die Maßen grässlich aus.“ Ich wende mich ein wenig ab, um nicht so zu erscheinen, als ob ich aufhorchte, da höre ich im Nebenabteil eine männliche Stimme sagen: ,,Wie es dazu gekommen ist? Wie es so oft dazu kommt: Er wusste, daß Geld da war, und deshalb näherte er sich und kreiste sie ein.“ - ,,und sie“ - fragt eine weibliche Stimme, ,,wusste sie nicht von seinem Vorleben?“ - ,,Wusste alles, ließ sich aber bestricken wie das Kaninchen von der Klapperschlange, und nun ist er weg, und das Geld ist weg, und sie sitzt mutterseelenallein da mit sieben Kindern.“ Dies interessiert mich schon mehr, und ich denke, wenn ich ein Romanschreiber wäre, so würde ich das als einen Vorwurf benützen, denn es scheint mir etwas Neues zu sein. Noch mehr aber interessiert mich ein Ehepaar, das unterdessen eingestiegen ist.

Er, ein behäbiger Herr in recht gesetzten Jahren, ist sofort nachdem er sich hingesetzt hat, eingeschlafen; sie, ein Teil jünger als er, aber früh verblüht offenbar, sieht immerzu mit ganz offenen Augen vor sich hin, und manches trübe Bild, so scheint es, zieht an ihr vorüber. So sitzt sie da längere Zeit, während der Zug mehrere Stationen passiert. Als er aber in den dritten oder vierten Bahnhof einläuft, berührt sie, um ihren Mann aufzuwecken seine Schulter und sagt zu ihm - mit sanfter Stimme, die etwas unendlich Rührendes hatte: "Lieber Mann, wir müssen jetzt aussteigen.“



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Berliner Bilder