Zu den Zeiten des Kaisers Nikolaus

„Vor Allem aber mögen Preußen, Russland und Österreich sich nie von einander trennen“ hatte es in jenem „An meinen lieben Fritz“ überschriebenen Testament König Friedrich Wilhelms III. geheißen, das noch vor zwanzig Jahren — in Glas und Rahmen gefasst — an den Wänden bürgerlicher Häuser alt-berlinischen und alt-preußischen Zuschnitts angetroffen zu werden pflegte.

„Dites à Fritz qu'il reste toujours le méme pour la Russie et de ne pas oublier les dernières paroles de Papa“ lauteten die seitdem in Preußen sehr häufig, in Russland nie wieder wiederholten letzten Worte, die der sterbende Kaiser Nikolaus an seine Gemahlin richtete


Die zwischen dem 7. Juni 1840 und dem 2. März 1855 liegenden drei Lustren sind von den an diesen beiden Sterbetagen gesprochenen Fürstenworten stärker beeinflusst worden, als von manchem wichtigen in diese Zeit fallenden Ereignisse.

Entsprechend der Charakterverschiedenheit der in Betracht kommenden Völker waren die zwischen denselben bestehenden Beziehungen indessen hüben und drüben durchaus verschieden aufgefasst worden. König Friedrich Wilhelm III., der gewissenhafte Staatshaushalter, dessen nüchterner Sinn sonst alle Überschwänglichkeiten ausschloss, hatte in seinem Verhältnis zu Russland nie verleugnen können, dass die wichtigsten Begebenheiten seines Privatlebens, wie seiner Regierungstätigkeit, den Kaiser Alexander I. und dessen Brüder zu Zeugen gehabt hatten. Als ob es nie einen Frieden von Tilsit, nie einen unausgeführt gebliebenen Vertrag vom 3. Mai 1815 gegeben habe, stand der vielgeprüfte Fürst Zeit seines Lebens unter dem Eindruck des am Grabe Friedrichs des Großen zwischen dem Kaiser, der Königin Louise und ihm selbst geschlossenen Freundschaftsbundes,— unter dem Eindruck der aufrichtigen Trauer, die der weichmütige Alexander am Grabe der unvergesslichen Fürstin gezeigt hatte, der in Paretz gemeinsam verlebten, dem Andenken der Verstorbenen geweihten Tage, der am 19. Sept 1819 gemeinsam vorgenommenen Einweihung des „National-Denkmals" auf dem Templower Berge und der übrigen an der Seite Alexanders I, verlebten Feiertage seines arbeiterfüllten Lebens. — Die Zahl der Zeugnisse dafür, dass der König in seinen Beziehungen zu dem Nachbarfürsten, der sein und seiner Gemahlin Jugendfreund gewesen, von einer ihm sonst ungewohnten, an Sentimentalität streifenden Weichheit war, ist zu groß, als dass die Wiederholung auf diesen Funkt bezüglicher Einzelheiten einen Sinn hätte. Es wird in dieser Rücksicht die Erinnerung daran genügen, dass die überschwänglichste und verhimmelndste Charakteristik Kaiser Alexanders I. , die es überhaupt gibt, nicht von einem Russen, sondern von einem, dem hochseligen Könige nahestehenden Preußen, dem ehrwürdigen Bischof Eylert geschrieben worden ist, und dass nahezu ein halber Band der „Charakterzüge Friedrich Wilhelms III. (Magdeburg 1845, Th. II, Abt. 2) Berichten gewidmet ist, die des Königs Verehrung für den Kaiser, dessen Haus und dessen Armee zum Gegenstande haben. Ihre Ergänzung haben diese Berichte durch den ersten Band der neuerdings erschienenen Memoiren Louis Schneiders erhalten, der als Günstling des Königs, als Vorleser der beiden Nachfolger des hochseligen Herrn, als intimer Korrespondent des Kaisers Nikolaus und als Mitarbeiter der einflussreichsten Zeitblätter Preußens, viele Jahre lang ein Hauptträger, eine Art Personifikation der sentimentalen Auflassung russisch-preußischer Beziehungen gewesen ist und seinen Weg vornehmlich als enthusiastischer Anhänger Russlands und als Prophet der russisch-preußischen Waffenbrüderschaft gemacht hatte. — Ohne Übertreibung lässt sich behaupten, dass, so lange Alexander I. lebte, Preußens auswärtige Politik direkt unter dem Einfluss aus den Freiheitskriegen datierender Erinnerungen stand und dass nach dem Ableben dieses Fürsten das zwischen den beiden Höfen bestehende Verwandtschaftsverhältnis in Berlin unbefangener Abwägung des gegenseitigen Staatsvorteils immer wieder im Wege stand.

In Russland war die gemütliche Auflassung der deutsch-russischen Alliance niemals heimisch gewesen. Wohl hatte jede der zahllosen Beziehungen, welche Alexander I. anknüpfte, ihre sentimentale Seite gehabt — durch sentimentale Rücksichten ließ dieser Fürst sein politisches Verhalten zu Friedrich Wilhelm III. indessen ebenso wenig bestimmen, wie seine Beziehungen zu Speranskiy, Czartoryski, Kapodistrias, A. Galyzin oder zu Stein, Frau von Krüdener und Madame Naryschkin. Sowohl die Vielseitigkeit von Alexanders I. Interessen, als die Bestimmbarkeit und innere Unwahrheit seines Wesens schlössen tiefergehende Neigungen dieses widerspruchsvollen Mannes aus. Speranski, der Jahre lang seines Herrn unbeschränktes Vertrauen genossen hatte, stiege nachdem er aus den Armen seines hohen Freundes losgelassen worden, direkt in die Kibitke, die ihn an die Grenze Sibiriens führte — Frau von Krüdener, die Wehmutter der heiligen Alliance, starb als notleidende Verbannte in der Krim, — Kapodistrias, der als Anwalt des Griechentums im Jahre 1816 russischer Minister des Auswärtigen geworden war, musste bei Ausbruch des griechischen Aufstandes den Abschied nehmen, — des Kaisers Jugendfreund und Galyzin wurde durch eine plumpe Pfaffen-Intrige gestürzt, — auf die Tage des am Grabe Friedrichs geschlossenen Seelenbündnisses folgten der Friede von Tilsit und der Erfurter Kongress, und der im Jahre der heiligen Alliance geschlossene Vertrag vom 3. Mai erhielt eine Ausführung, wie sie für die preußischen Interessen ungünstiger kaum gedacht werden konnte. Das lag ebenso an der Person des Kaisers, wie an der Auffassung, welche die russischen Staatsmänner von der Natur der russisch-preußischen Beziehungen und von Preußens Verdiensten um die Erfolge von 1813, 1814 und 1815 von Hause aus gehabt hatten und die der in Berlin geltenden Anschauungsweise schnurstracks entgegenliefen. Von Friedrich Wilhelm III. berichtet sein Biograph, „er habe in seiner Bescheidenheit lieber von fremdem als von eigenem Verdienst gesprochen und das, was Russland für die gute Sache getan, sehr hoch angeschlagen, gern und oft darüber geredet“. Alexander I. beobachtete das umgekehrte Verfahren und seinem Beispiel folgte Alles, was in dem offiziellen und nicht offiziellen Russland überhaupt zu Worte kam. Über die in Russland geltenden, von den Historikern und Militärs dieses Landes zurechtgemachten Darstellungen der Ereignisse des großen Krieges haben die vor Kurzem erschienenen v. Bernhardi'schen Schriften so ausführlich berichtet, dass einfach auf diesen Bericht verwiesen und ohne Weiteres behauptet werden kann, man habe für Preußens Verdienste „um die gute Sache“ nirgend ein kürzeres Gedächtnis gehabt, als in St. Petersburg, wo von Alters her Mode war, „die Befreiung Europas“ als ein Werk Russlands zu behandeln, an welchem dieses — großmütiger Weise — andern Leuten Teil zu nehmen gestattet hatte. Die Dankbarkeit der preußischen Erinnerungen an das, was gemeinsam erreicht worden, nahm man als schuldigen Tribut, als Sohne dafür an, dass auch die Monarchie Friedrichs des Großen unter den „zwanzig mit den Galliern gegen das heilige Russland verbündeten Nationen“ vertreten gewesen, — Gleiches mit Gleichem zu vergelten und die gegenseitigen Beziehungen unter anderen Gesichtspunkten, als denjenigen des russischen Interesses zu beurteilen, kam weder offiziellen noch freiwilligen Patrioten Russlands jemals in den Sinn. Aus der gesamten russischen Literatur älterer und neuerer Zeit dürfte nicht eine Zeile angewiesen werden können, die sich mit den in dem alten Preußen Mode gewesenen russenfreundlichen Dithyramben in eine Reihe stellen ließe, obgleich zu jener Zeit für das gesamte russische Schrifttum galt, was Karamsin von der russischen Geschichtsschreibung gesagt hatte: „Des Volks Geschichte ist des Herrschers Eigentum."

Dass die offiziellen Beziehungen zwischen den beiden verbündeten Staaten sich bei Lebzeiten Friedrich Wilhelms III. in würdigen, die Gleichheit nicht allzu empfindlich verletzenden Formen bewegten, war wesentlich das Verdienst des Königs. Kaiser Nicolaus war Gentleman genug, um dem greisen Fürsten, der zugleich sein Schwiegervater war, mit geziemender Ehrfurcht zu begegnen und die bescheidene Würde, geistige Überlegenheit und ruhige Weise des Königs schloss Konflikte um so vollständiger aus, als die damalige preußische Politik sich genau an die russische schloss, dieser in allen entscheidenden Fragen die wichtigsten Dienste erwies und vor deutsch-nationalen Velleïtäten eine Scheu zeigte, die auch nach russischer Anschauung für musterhaft gelten konnte. Um das Zustandekommen jenes Friedens von Adrianopel, dessen Russland vielleicht noch dringender bedurfte, als die Pforte, hatte Preußen durch die Sendung des General von Müffling sich das größte Verdienst erworben, (der Kaiser war selbst nach Berlin gekommen, um die Intervention des dortigen Kabinetts herbeizuführen), — ein Verdienst, dessen Uneigennützigkeit den Kaiser Nikolaus übrigens nicht verhinderte, unmittelbar darauf die Alliance Frankreichs zu suchen, und Karl X. zu der aus einer Depesche Pozzo di Borgos bekannt gewordenen Äußerung „Ich will mit Russland verbündet bleiben" zu bestimmen. Dass der Kaiser den in der ersten Aufwallung über die Julirevolution gefassten Plan eines Kreuzzuges gegen das revolutionäre Frankreich wieder aufgab und dadurch die Mittel zur Bewältigung des polnischen Aufstandes in Händen behielt hatte er vornehmlich dem weisen Rate des Königs zu danken; als dieser Aufstand ausbrach, lieh Preußen durch Besetzung der Grenzen und durch die Errichtung von Provianthäusern der russischen Sache unaufgefordert die wichtigste (bekanntlich mit dem kostbaren Leben Gneisenaus bezahlte) Unterstützung; fünf Jahre später nahmen preußische Truppen an der merkwürdigen Kalischer „Lustlager"-Schaustellung Teil, die in majorem gloriam von des Kaisers Nikolaus osteuropäischer Machtstellung veranstaltet worden war, den anwesenden Preußen übrigens ein Missbehagen einflößte, von welchem sich nicht einmal Louis Schneider frei zu halten vermochte. Dass während dieses Zeitraums in Berlin und in Preußen Alles vermieden wurde, was in St. Petersburg hätte Missfallen erregen können, — dass Bücher und Zeitungen vornehmlich nach dem Eindruck beurteilt wurden, den sie hätten an der Newa machen können, — dass selbst das Repertoire der Königl. Hofbühne durch russische Rücksichten bestimmt wurde, — dass Männer, wie Friedrich von Raumer wegen gelegentlich zu Gunsten der Polen getaner Äußerungen auf russisches Verlangen zu ernstlicher Rechenschaft gezogen wurden, — das Alles sah mau für ebenso selbstverständlich an, wie dass Russland seine Beziehungen zu den kleineren deutschen Staaten über den Kopf Preußens hinweg, gelegentlich auch in einer den preußischen Interessen direkt zuwiderlaufenden Weise regelte (vergl. die bekannte, im ersten Bande des Portefolio veröffentlichte St. Petersburger Denkschrift von 1834), und dass die russischen Tarife von 1832 und 1839 die Wirtschaftsverhältnisse Posens und Ostpreußens noch weit über die am 31. März 1825 vereinbarte Grenze hinaus schädigten, ohne dass den Notrufen der Handelskammern und Provinziallandtage unseres Ostens die geringste Beachtung geschenkt wurde. — Von all' diesen Dingen nahm man an, dass sie unabänderlich seien, so lange Friedrich Wilhelm III. lebte, dass ein Wandel in denselben dem nächsten Thronwechsel aber unmittelbar auf dem Fuße folgen werde. Stand das Bedürfnis preußischer Anlehnung an den mächtigen Nachbarn im Osten doch in engstem Zusammenhang mit der Zurückhaltung der Berliner Regierung in den inneren deutschen Fragen und mit jener auch von dem damaligen Erbender preußischen Krone beklagten Ordnung deutscher Dinge, welcher Pfizer in seinem berühmten Klageliede von dem „Vogel ohne Nest, dem Träumer an der Klippe Rand“ einen klassischen Ausdruck gegeben hatte.

Eine Veränderung in den russisch-deutschen Beziehungen griff nach dem Thronwechsel vom 7. Juni 1840 allerdings Platz, aber keine die auch nur den Verehrern des altpreußischen Regimes hätte für wohltätig gelten können. — Das System, welchem König Friedrich Wilhelm III. seit Wiederherstellung der alten europäischen Staatsordnung gefolgt war und das der preußischen wie der deutschen Entwicklung bedauerlich enge Grenzen gezogen hatte, durfte sich des großen Vorzugs rühmen, konsequent durchgeführt worden zu sein und dem Staate Demütigungen und Einbußen ebenso fern gehalten zu haben, wie neue Erwerbungen oder dem Zeitbedürfnis entsprechende moralische Errungenschaften: innerhalb der Beschränkung, die er sich auferlegt hatte, war der König aber ein Meister gewesen. Weil er nie darauf ausgegangen war, Preußens deutsche und europäische Machtstellung aus der Sphäre heraus zu heben, die ihr durch die Verträge von 1815 angewiesen worden war, hatte der von ihm regierte Staat innerhalb dieser Sphäre eine bescheidene, aber geachtete Position behauptet. — Des Königs geistreicher Nachfolger ließ sich weder in inneren noch in äußeren Fragen an den engen Schranken genügen, die er vorfand — die Kraft, dieselben zu durchbrechen, war ihm aber versagt geblieben. In dem aussichtslosen Bestreben, einander ausschließende Gegensätze zu vereinigen, zugleich ein deutscher, allen Zeitforderungen genügender Fürst und ein patriarchalischer Regent im altpreußischen Style zu sein, zugleich die nationalen Träume von der Wiederherstellung staufischer Kaiserherrlichkeit zu verwirklichen und doch innerhalb des Kahmens der heiligen Alliance zu bleiben, welchen Rücksichten der Pietät und der Gewöhnung ihm gezogen hatten, — büßte Friedrich Wilhelm schon frühe jenen sichern Takt des Handelns ein, den sein königlicher Vater in so eminenter Weise besessen, und, wo es galt, auch dem anspruchsvollen russischen Verbündeten gegenüber zu beweisen gewusst hatte. Nach der Auffassung Friedrich Wilhelms III. hatten die preußischen Interessen sich mit den rassischen wirklich gedeckt, und waren die in St. Petersburg von jeher verpönten „deutschen Velleïtäten" des preußischen Patriotismus mit dem konservativen Charakter des Staatswesens ebenso unverträglich gewesen, wie mit den Bedingungen, von denen Russland die Erhaltung seiner freundschaftlichen Gesinnung abhängig machte. Dem Könige war es darum ein Leichtes, Natürliches gewesen, sich den Forderungen des mächtigen Nachbarn zu konfirmieren und seinem Staate Alles fern zu halten, was die Beziehungen zu dem absolutistischen Osten hätte trüben können. Friedrich Wilhelm IV. sah die Dinge nicht nur unter abweichendem Gesichtspunkte an, — er hatte wenigstens zu Zeiten eine starke Empfindung davon, dass es der Befreiung vom russischen Einfluss bedürfe, damit Preußen die ihm entsprechende innere Gestaltung und den ihm in Deutschland zukommenden Platz einnehmen könne: zu einer Entscheidung nach der einen oder anderen Seite vermochte er es aber nicht zu bringen. Von widerspruchsvollen Empfindungen bewegt und außer Stande, diese Empfindungen klarer, von einem starken Willen getragener Einsicht unterzuordnen, wollte dieser Fürst das Eine tun und das Andere nicht lassen, den Ansprüchen der Nation nachkommen und doch der Tradition treu bleiben, die ihn au eine, die Sammlung deutscher Nationalkraft grundsätzlich ausschließende Kombination band: dass das schließliche Ende dieses inneren Widerspruchs eine vollständige Entfremdung des Königs von dem deutschen Volke und eine auch in den Tagen Friedrich Wilhelms III. unmöglich gewesene Unterordnung Preußens unter das russische System sein musste, lag eigentlich von vornherein in der Natur der Sache.

Als Friedrich Wilhelm IV. den Thron seines Vaters bestieg, war nämlich auch der Repräsentant der russischen Interessen nicht mehr der Mann, der er zur Zeit seiner Vermählung mit der Prinzessin Charlotte und während der ersten Jahre seiner Regierung gewesen war. Seit dem Friedensschluss von Adrianopel, der Bewältigung des polnischen Aufstandes und der respektvollen Abhängigkeit, in welche sich selbst das gefürchtete Frankreich versetzt hatte, fühlte der Selbstherrscher aller Reußen sich als das Oberhaupt der bestehenden, europäischen Gesellschaftsordnung und sah er für selbstverständlich an, dass Alles, was auf seine Gunst und Freundschaft Anspruch erhob, sich ihm unterordnete. Die schwankende bestimmbare Natur seines königlichen Schwagers hatte der selbstzufriedenste Monarch seiner Zeit früher durchschaut, als die Mehrzahl der nächsten Freunde desselben. Schon in den ersten Jahren nach dem Thronwechsel von 1840 war es in den Petersburger Hofkreisen kein Geheimnis mehr, dass die gelegentlichen liberalen Anwandlungen Friedrich Wilhelms IV. nicht nur des Kaisers lebhaftes und wiederholt öffentlich ausgesprochenes Missvergnügen erregt, sondern denselben zu der Meinung gebracht hatten, dass die preußischen Dinge in den richtigen Geleisen nur erhalten werden könnten, wenn von russischer Seite gelegentlich nachgeholfen werde. Sein bekanntes „Mon frère de Prusse se perdra“ hatte der Kaiser Nikolaus schon zu Anfang des Jahres 1841 gesprochen; schon bei Gelegenheit des Zusammentritts der Provinzialstände des Großherzogtums Posen und der denselben zugesicherten Periodizität hatte er in Berlin zu verstehen gegeben, dass „weitere Zugeständnis'' an die polnischen Untertanen der preußischen Krone eigentlich des mitbeteiligten Russland Einverständnis zur Voraussetzung hätten: als die Stürme des Jahres 1848 ausbrachen, trat der Kaiser mit dem Anspruch, die Vorsehung der preußischen konservativen Tradition zu spielen, deutlich und unverhohlen hervor. Die Rolle einer solchen Vorsehung war dem anspruchsvollen Selbstherrscher während der wiederholten Besuche, die er dem königl. Hofe von Berlin zu Teil werden ließ, längst zu einer gewohnten geworden. Zeugen jener längst vergangenen Zeit werden sich der Erregung noch erinnern, mit welcher Alles, was zu unserem Hofe gehörte, dem Erscheinen des hohen stolzen Mannes entgegensah, der die Huldigungen der zu seinem Empfang herbeigestürmten kleinen Fürsten für ebenso selbstverständlich ansah, wie die Verbeugungen der Generale, die in ihm den ersten Soldaten des Weltteils, den echtesten Repräsentanten militärischer Würde gläubig verehrten. Von dem Kaiser bemerkt oder nicht bemerkt; angeredet oder mit einem bloßen Kopfnicken begrüßt worden zu sein, bedeutete Männern, die über ihre Würde sonst wühl zu wachen wussten, im eigentlichsten Sinn des Worts „to bee or not to bee'' und die Klage „S. M. n'a pas daigné me parler“ wurde nicht selten von fürstlichen Lippen vernommen, die es für Verrat angesehen hätten, den Unterschied zwischen preußischer und bückeburgischer Souveränität auch nur mit einer Silbe anzudeuten*).

*) Diesem Zeitalter allgemeiner Entwürdigung vor dem „Hort der Konservativen Interessen“ gehört der nachstehende Vorgang an, den der Staatsrat Boguslawski in seinen kürzlich erschienenen Memoiren als verbürgt berichtet:

Zu Anfang der 40er Jahre wurde auf verschiedenen Pariser Bühnen ein historisches Schauspiel, ,,Die Kaiserin Katharina und ihre Günstlinge“, gegeben, in welchem die Großmutter des damaligen Zaren selbstverständlich außerordentlich schlecht wegkam. Unmittelbar nachdem er von der Existenz dieses Stückes Kenntnis erhalten hatte, und ohne dass er seinem Kanzler, dem Grafen Nesselrode, darüber Mitteilung machte, erließ der Kaiser an den damaligen Botschafter in Paris, den Grafen Peter v. d Pahlen (geb. 1777, † 1864, in Paris von 1835 bis 1841 akkreditiert, in welchem Jahr er zeitweilig abberufen und sechs Jahre lang durch einen bloßen Geschäftsträger, den Grafen Nicolai Dimitriwitsch Kisseleff, vertreten wurde), den nachstehenden eigenhändig niedergeschriebenen Befehl: „Sofort nach Empfang Dieses und gleichviel zu welcher Tageszeit haben Sie sich ohne jeden Verzug zum König der Franzosen zu begeben und ihm als meinen Willen zu eröffnen, dass sämtliche Exemplare des Stückes „L’impératrice Catherine et ses favoris“ sofort konfisziert und alle öffentlichen Vorstellungen desselben verboten werden. Sollte der König sich nicht fügen (wörtlich: damit nicht einverstanden sein), so haben Sie ungesäumt Ihre Pässe zu verlangen und binnen vierundzwanzig Stunden Paris zu verlassen. Die Folgen nehme ich auf mich."

Als der mit diesem Schreiben betraute, von dem Kaiser persönlich abgefertigte Kurier in Paris eintraf, befand Pahlen sich in den Tuilerien, wo er an einem Hof-Diner teilnahm. Er wurde in ein Nebenzimmer gerufen, las hier die ihm gewordene Weisung und sah sich zu seiner eigenen Bestürzung genötigt, den König Louis Philippe um eine sofortige Audienz zu ersuchen, um noch vor Beendigung der Tafel seine Angelegenheit vorzutragen. Der König verließ wirklich die Tafel und begab sich mit dem Botschafter in ein an den Speisesaal stoßendes Gemach, wo Pahlen ihm von dem Inhalt des kaiserlichen Schreibens Kenntnis gab. Louis Philippe konnte seinen Unwillen über die rücksichtslose und herrische Form des desselben nicht unterdrücken. „Herr Graf", sagte er in heftiger Erregung, „der Wille Ihres Kaisers mag für Sie Gesetz sein, nicht aber für mich, den König der Franzosen. Überdies wissen Sie selbst, dass ich ein konstitutioneller Monarch bin, dass die Konstitution die Freiheit der Presse verbürgt, und dass ich, auch wenn ich wollte, dem Verlangen Ihres Monarchen nicht nachkommen könnte."
„„Wenn das Ew. Majestät definitive Entscheidung ist, so muss ich um die sofortige Ausreichung meiner Pässe bitten““, gab Pahlen zur Antwort.
„Soll das eine Kriegserklärung bedeuten?“
„„Es ist das möglich — Ew. Majestät wissen, dass der Kaiser selbst für die Folgen einstehen zu wollen erklärt hat.““
„So muss ich wenigstens Zeit haben, die Sache mit meinen Ministern zu besprechen."
„„Vierundzwanzig Stunden werde ich auf Ew. Majestät Antwort warten. Dann aber muss ich, erhaltener Weisung gemäß, sofort abreisen.""
Einige Stunden später hatte die Regierung Ludwig Philipps weitere Aufführungen der „Impératrice Catherine" untersagt und sämtliche vorhandene Exemplare dieses Stückes konfisziert.

Dass die von dem Kaiser Nikolaus während der deutschen Bewegungsjahre beobachtete Politik darauf gerichtet war, die unveränderte Aufrechterhaltung, beziehungsweise die Wiederherstellung der absolutistischen Staatsform in Preußen zu erzwingen und den Berliner Hof in seinen Antipathien gegen den Konstitutionalismus zu bestärken und zum Widerstand gegen denselben zu bestimmen, ist eine bekannte Tatsache. Des Kaisers Aussprüche über die „innere Verlogenheit“ des konstitutionellen Systems und über seinen festen Entschluss dessen Fußfassung in den ihm benachbarten Staaten zu verhindern („Je ne veux pas des assemblées constitutionelles à mes flancs à Berlin et à Vienne“ hatte die bezügliche Phase gelautet); haben ihrer Zeit durch ganz Europa die Runde gemacht. Weniger bekannt dürfte sein, dass der Kaiser mit seinem Anspruch auf die Obervormundschaft über seine Nachbarn wiederholt drauf und dran gewesen ist, sich über die Grenzen des bestehenden, von seiner Regierung angeblich so gewissenhaft respektierten öffentlichen Rechts hinwegzusetzen und zu gradezu revolutionären Mitteln zu greifen. Die Prinzipientreue und Gesinnungsreinheit) welche dem Kaiser von seinen Berliner Verehrern nachgerühmt wurde, schloss nicht aus, dass derselbe, wo es die Erreichung seiner Zwecke galt, in der Wahl seiner Mittel Nichts weniger schwierig war, und dass er kein Anstand nahm, auch den berechtigten Interessen seines nächsten Verbündeten, wenn sich die Gelegenheit dazu bot, in den Weg zu treten. Wir glauben das nicht schlagender nachweisen zu können, als durch die Wiedergabe eines höchst merkwürdigen, vor zehn Jahren in St. Petersburg publizierten, unbegreiflicher Weise bis heute in Deutschland unbekannt gebliebenen Aktenstücks. Anfang Januar des Jahres 1870 druckte die St. Petersburger Monatsschrift „Russkaja Starina“ ein ihr durch den verstorbenen General-Adjutanten Wassily Feodorowitsch Ratch mitgeteiltes, von keiner weiteren Angabe begleitendes Aktenstück ab, das wir nachstehend in genauer Übersetzung folgen lassen.

Dem Bericht über diesen Vorgang fügt Boguslawski die folgende Bemerkung hinzu. „Im Jahre 1844 (also mehrere Jahre nachdem Graf Fahlen „zeitweilig" abberufen und durch Kisseleff [†1869] angeblich vertreten, in Wahrheit ersetzt worden war) wurde in Paris die Aufführung eines anderen, kurz zuvor erschienenen Stückes „L'empereur Paul“, vorbereitet. Diesmal schrieb Kaiser direkt an den König der Franzosen, indem er ihm mitteilte: ,,dass, wenn das gedachte Stück aufgeführt werden sollte, eine Million Zuschauer nach Paris werde entsendet werden, um die Komödie auszupfeifen.“

Wüssten wir nicht aus anderen Quellen, unter Anderem aus den Aufzeichnungen des (längere Zeit in St. Petersburg akkreditiert gewesenen) jüngeren Casimir Périer, wie groß der Wert war, welchen Louis Philippe auf die Erhaltung guter Beziehungen zu Russland legte und welche Opfer er denselben gebracht hat — es hielte schwer, die Boguslawski'sche Erzählung für auch nur der Hauptsache nach begründet zu halten. Tatsache ist indessen, dass die in Bede stehende Angelegenheit, genau wie unser Gewährsmann sie wiedergibt, in St. Petersburg erzählt und geglaubt wurde, und dass sie dem Charakter des Kaisers Nikolaus und der rücksichtslosen Barschheit durchaus entspricht, an welche dieser Fürst sich zufolge der ihm von der Mehrzahl seiner Zeitgenossen bewiesenen Gefügigkeit gewöhnt hatte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Berlin und St. Petersburg
Russland 000. Europäisches Russland, Karte

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Russland 001. Der Metropolit von Petersburg eröffnet eine Prozession

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Russland 002. Petersburg, Winterpalast, Architekt Rastrelli

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Russland 002. Petersburg. Der Taurische Palst (Gebäude des Reichsduma)

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Russland 003. Petersburg, Altes Michael-Palais (Ingeneurschloss)

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Russland 003. Petersburg, Denkmal Peters des Großen

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Russland 004. Petersburg, Blick von der Newa auf die Isaakskathedrale und den Palast des Heiligen Synod

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Russland 005. Petersburg, Museum Alexander III.

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Russland 006. Petersburg, Holzbarken auf der Fontanka bei Eisgang

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Russland 007. Petersburg, Alexandersäule, errichtet von Nikolaus I. zur Erinnerung an den Sieg über Napoleon

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Russland 007. Petersburg, Vorhalle der Isaakskathedrale

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Russland 008. Petersburg, Ein Landhaus in der Umgebung

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Russland 008. Petersburg, Eine Feuerwachstation

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Russland 008. Petersburg, Holzbarken auf der Newa im Sommer

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Russland 008. Petersburg, Teebude in einer Vorstadt

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Russland 009. Petersburg, Am Hafen

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Russland 009. Petersburg, Das Straßenpflaster

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Russland 010. Petersburg, Der Buddhistentempel

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Russland 010. Petersburg, Die große Moschee

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Russland 010. Petersburg, Isaaksplatz

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Russland 010. Petersburg. Der Peterspalast im Winter

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Russland 011. Der Iswostschik (Lohnkutscher)

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Russland 011. Eine Nebenbahn

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Russland 011. Lastfuhrwerke

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Russland 011. Schlitten

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Russland 012. Petersburg, Die Admiralität, Erbaut von 1727 an, Architekt Sacharow

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Russland 012. Petersburg, Die Admiralität

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Russland 013. Petersburg, Haupteingang der Admiralität

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Russland 014. Wologda, Altes Herrenhaus, Holzarchitektur

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Russland 014. Zarskoje Sselo, Großes Palais, 18. Jahrhundert, Architekt Rastrelli

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Russland 015. Der Ladogakanal, Die Schiffe, die zur Vermeidung der gefährlichen Stürme und Klippen des Ladogasees durch den seinem Südufer entlang führenden Kanal fahren, werden meist von Pferden getreidelt

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Russland 015. Die Newa vor der Festung Schlüsselburg

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Russland 016. Winter im Walde

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Russland 016. Winter in der Stadt

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Russland 017. Alte Holzkirche im Gouvernement Archangelsk

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Russland 017. Im Nordrussischen Waldgebiet

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Russland 018. Kleinrussisches Mädchen aus Tschemigow

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Russland 018. Nordrussisches Mädchen aus Archangelsk

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Russland 018. Wologda, Ikonostas der Kirche Joann Bogoslaw, 16. Jahrhundert

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Russland 019. Kem (Archangelsk) Holzkirche, angeblich 17. Jahrhundert

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Russland 020. Ustjuk Welikij (Wologda). Blick von der nördlichen Dwina auf die Atsdt

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Russland 020. Wjatka, Wassersegen am Flusse Wjatka. Viele kirchliche Festtage werden mit der feierlichen Segnung fließender Gewässer verbunden

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Russland 021. Renntiere

Russland 021. Renntiere

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