Berlin bei Nacht. Ein Beitrag zu den Geheimnissen der Residenz.

Aus: Die Gartenlaube, Illustriertes Familienblatt. Nr. 1. 1864. – Herausgeber Erst Keil.
Autor: Wallner, Franz (1810-1876) österreichisch-deutscher Theaterschauspieler und Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1864

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Deutschland, Berlin, Hauptstadt, Residenzstadt, Kriminalität, Gauner, Diebe, Polizei, Kriminalpolizei, Verbrechen, Täter, Dieb, Mörder, Mord, Raubmörder, Polizeibeamte, Sittenpolizei,
Ein Schrei des Entsetzens scholl durch ganz Berlin, als am 19. April des Jahres früh Morgens am Sperrbalken, zwischen dem Stralauer- und Frankfurtertor — dem sogenannten Oberbaum — ein blutiger Sack entdeckt wurde, der die furchtbar verstümmelte Leiche des Prof. Gregy, einer bekannten Persönlichkeit, enthielt, und unverkennbare Spuren auf einen inmitten der Stadt begangenen Raubmord hinwiesen. Fast schien es, als ob die rastlose Tätigkeit der Stützen der Berliner Kriminalpolizei *) zur Erforschung der Urheber des grässlichen Verbrechens fruchtlos sein sollten; Tag um Tag verging, und weder die beispiellose Aufopferung der Gerichtsbeamten noch die ausgesetzte hohe Belohnung des Polizeipräsidiums für den, der auf die Spur der Täter leiten könne, brachte das geringste Licht in das grauenvolle Dunkel. Die Erzählungen der Einzelheiten des schauerlichen Vorfalls bildeten das Tagesgespräch vom Palast bis zur Hütte. Vergebens die sukzessive Erhöhung des ausgesetzten Preises für die Entdeckung der Mörder, vergeblich die rastlose Mühe der routiniertesten Kriminalkommissäre; es schien, als ob die Nacht, welche das Verbrechen erzeugt, einen ewigen dichten Schleier über dasselbe ausgebreitet habe. Auch durch das öffentlich an den Anschlagsäulen befestigte photographische Bild des Ermordeten, in seiner gewöhnlichen Kleidung, konnte nicht ermittelt werden, wo das Original die letzten Lebensstunden zugebracht habe.

Allein Blut schreit um Licht, und der Mord will an den Tag, und so kam es endlich dahin, dass man inmitten der Stadt ein vollständiges Raubnest entdeckte, in welchem der unglückliche Franzose, freilich nicht ohne eigenes Verschulden, sein grauenvolles Ende finden sollte.

Das Weitere in diesem Drama haben die sämtlichen Journale ausführlich geschildert, und die letzten Akte vor den Assisen und dem Schafott werden wohl nicht lange auf sich warten lassen. Dies Ereignis hat aber gezeigt, in wie vielerlei Gestalten sich in großen Hauptstädten das Verbrechen vor dem Auge der Gerechtigkeit verbirgt, in wie viele Stufen die Schlupfwinkel zerfallen, in welche die Feinde der Gesellschaft flüchten. Vielleicht brauche ich darum den Leser der Gartenlaube nicht um Verzeihung zu bitten, wenn ich ihn auf einen Moment in diese Regionen einführe, in welche nur selten ein flüchtiger Blick dringen kann; denn es ist notwendig, durch diese entsetzliche Nachtseite im Leben unserer modernen Großstädte sich von Zeit zu Zeit recht eindringlich daran mahnen zu lassen, welche furchtbare Schatten sich hinter dem blendenden Glänze unserer heutigen Zivilisation verstecken, wie fern das Ziel noch liegt, welches die menschliche Gesellschaft anzustreben hat.

Berlin hat eine Reihe anrüchiger Lokale, wo sich der Leichtsinn, die Prostitution und das Verbrechen breit machen und — verstecken, Plätze, welche das scharfe Auge der Sitten- und der Sicherheitspolizei unablässig beobachtet. Von den goldstarrenden, lichtumstrahlten Balllokalen: Musenhalle, Orpheum, Ballhaus etc. bis zu den elendesten Tanzkneipen herab, stehen alle diese Lokale unter der strengsten Kontrolle. Nur selten verirrt sich der schwere Verbrecher in die glänzenden Räume des wirklich höchst geschmackvollen Orpheums oder in die Musenhalle; nur der Lehrling der Gesetzwidrigkeit, der junge Kaufmannsdiener, der bereits Eingriffe in die Kasse seines Herrn versucht, und der feine, raffinierte Gauner verkehren hier mit den eleganten, aber für Jeden zugänglichen Dirnen. Der Offizier, welcher die Uniform mit der Zivilkleidung vertauscht, um im bunten Gewühl unerkannt eine kleine Orgie zu feiern, der Fremde, den der etwas mehr als zweideutige Ruhm dieser Lokale dahin lockt, das sind neben jenen die Elemente, aus denen das Publikum derselben zusammengesetzt ist.

*) Die intelligenten Kriminalbeamten Pick, Weber und Bornemann.

Das Orpheum hat alle die zahlreichen ähnlichen Etablissements der preußischen Hauptstadt durch den wirklich märchenhaften Glanz seiner Ausstattung weit überflügelt; namentlich kann der Garten mit seinen taufenden von geschmackvollen Gaskörpern mit Mabille und Châteaus des fleurs in Paris siegreich in die Schranken treten. Schade, dass dieser behagliche Aufenthalt dem eigentlichen anständigen Publikum Berlins eine terra incognita bleiben muss.

Einen gewaltigen Sprung machen wir, wenn wir uns in die Kürassierstraße, in die sogenannte „Kitzelpelle" begeben, ein Lokal, welches in letzterer Zeit nicht mehr den bösen Ruf verdient, in dem es steht. Früher bestand das Stammpublikum dieses Tanzlokals notorisch fast gänzlich aus Verbrechern, Dieben, Einbrechern, Fälschern, Dirnen der untersten Klassen und allenfalls den in der Nähe arbeitenden Fabrikmädchen. Sogar das Orchesterpersonal war aus bestraften Subjekten zusammengesetzt. Über der Kasse prangte eine Tafel mit der an diesem Orte ungemein burlesk wirkenden Inschrift: „Vor Taschendieben wird gewarnt". Bei einem plötzlichen Überfall der Polizei, der sich öfter ereignete, als den Besuchern lieb war, fand man den Boden bedeckt mit rasch weggeworfenen Nachschlüsseln, Dietrichen und anderen Diebswerkzeugen. Jetzt ist das Publikum dort schon mehr gemischt; es finden sich ab und zu einige ehrliche Elemente aus den unteren Ständen ein, Handwerksbursche und ihre Mädchen, die, in der Absicht sich um jeden Preis zu amüsieren, sich im frohen Kreise herum wirbeln — den Mittelpunkt dieses Kreises bilden freilich noch Polizeibeamte von der Kriminal- und Sitten-Abteilung, teils in Uniform, teils in Zivil. Ein Genremaler könnte hier die wirksamsten Studien machen, hier wo die wahrste Gleichberechtigung herrscht und die rauschende Seidenrobe in friedlichster Eintracht neben dem ärmlichsten Kattunkleide walzt und polkt. Der eigentliche schwere Verbrecher verkehrt jetzt hier selten, er wohnt entweder bei der „Seinigen" oder er sucht, zu einem beabsichtigten Fang, seine Gesinnungs- und Geschäftsgenossen an einsameren Orten auf, wo das Auge der Sicherheitsbehörde weniger belästigend sein Treiben verfolgt, wo er mit Muße die Stunde abwarten kann, in welcher sein Nachtwerk beginnt. Der routinierte Gauner wendet sich nach Mitternacht den sogenannten „Kaffeeklappen" und nächtlichen Konditoreien zu, die erst nach zwölf Uhr geöffnet werden und wo er bei einer Tasse sogenannten Mokkakaffees, der sechs Pfennige kostet, Gelegenheit hat, seine Operationspläne mit den Kameraden zu verabreden und ersteren die frische Tat folgen zu lassen.

Brandenburger-Tor um 1850

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020 Obstfrau und Antiquar aus Berlin, Preußen, 1830

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021 Milchfrau und Gurkenhändler aus Berlin, Preußesn, 1830

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Berlin, Anhalterbahnhof Abfahrt in die Sommerfrische (2)

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Berlin, Anhalterbahnhof Abfahrt in die Sommerfrische

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Berlin, Auf dem Rennplatz 1

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Berlin, Auf dem Rennplatz 2

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Berlin, Der neue berliner Straßenpostwagen

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Berlin, Eine Milchprüfung

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