Vorläufiger Abschluss der Varnhagenschen Tagebücher (1862)

Es würde überflüssig sein, das Erstaunen und die mannigfachen Bedenken über die Existenz und die frühzeitige Herausgabe der Varnhagenschen Tagebücher zu wiederholen. Ihr öffentliches Vorhandensein ist nun einmal ein Begegnis wie ein Naturphänomen, das sich aller Berechnung entzieht. Selbst eine Anklage und vor allem die gerichtliche Verfolgung erscheint uns im vorliegenden Falle wenig angebracht, da man nur einfach zugeben sollte, dass es sich hier um ein literarhistorisches Ereignis, ein psychologisches Rätsel, um eine in dem Leben eines ausgezeichneten Mannes uns bis jetzt noch unvermittelt erscheinende Anomalie handelt. Die Entwaffnung dessen, der durchaus entrüstet sein und bleiben will, sollte in den Vorzügen des Schriftstellers selbst liegen, der uns so lange Jahre hindurch ein Muster der Mäßigung und des Strebens nach dem Kerngehalt der Zeit und Welt erschien. Ihn jetzt plötzlich so ganz abirren zu sehen von derjenigen Bahn, in welcher von ihm so viel Bedeutendes und Bleibendes geleistet worden ist, das ist eine Erscheinung von so fragwürdiger Seltsamkeit, dass sie uns nur psychologisch, biographisch, zeitgeschichtlich beschäftigen, am wenigsten Anlass geben sollte, die Herausgabe des Buches zu einem Vergehen zu stempeln. Selbst noch das Irrgewordensein eines bedeutenden Mannes kann ein Schauspiel bieten, das interessant und lehrreich ist.

Bis nahe an die Grenze der Unzurechnungsfähigkeit sind allerdings diese Aufzeichnungen aus den Jahren 1848 und 1849 vorgerückt. Aber waren wir denn alle, die wir jene Tage miterlebten, frei von einer krankhaften Exaltation unsers Empfindens und Denkens? Wer hätte nicht damals sich mitten auf die Straße stellen und seine Stimme laut erschallen lassen mögen, um vor hereinbrechenden Gefahren zu warnen? Falsche Volksführer zu entlarven, Abtrünnige mit feierlichem Protest dem Fluch aller Zeiten preiszugeben? Beim Rollen und Donnern der Kanonen, bei den Salven, die auf Volkshaufen abgefeuert wurden, beim Krachen des beginnenden Barrikadenbaues trieb die aufgeregte Phantasie, die Liebe zum Vaterland, zur Freiheit, ja wohl auch nur die Vorstellung von unbesonnenen, falschen, der nächsten Klugheit widersprechenden Massregeln die sonst ruhigsten Gemüter in die Vorzimmer der Minister, in die Kabinette der Fürsten, um ihre Meinungen geltend zu machen. Jeder Tag brachte neuen Zündstoff, um die Gemüter in Flammen zu setzen; und was Varnhagen hier oft nur mit kurzen Worten niederschrieb: „Es sind Schurken, Halunken, Bösewichter!“ das alles wurde oft genug von uns selbst ausgerufen oder zwischen den Zähnen gemurmelt. Es liegt uns die treueste, die lebendigste Vergegenwärtigung einer Zeit vor, die leider für die Wiederaufnahme dessen, was sie uns hätte bringen sollen, mit einem unfruchtbar und nutzlos vorübergehenden Jahr nach dem andern sich uns schon zu weit zu entrücken droht. Eine junge Generation tritt immer mehr in den Vordergrund, ohne jene Zeit erlebt, ihre Erfahrungen benutzt zu haben. Es wäre ein unermessliches Unglück für unser Vaterland, wenn die Stunde der Erlösung von unsern gegenwärtigen, von den Regierungen ja selbst für unhaltbar erklärten Zuständen zu einer Zeit schlüge, wo die Lehren der Jahre 1848 und 1849 bereits vergessen wären.


Deshalb schon und um dieser nützlichen Vergegenwärtigung der Lage willen, in welche Deutschland bei einer verhängnisvollen Krisis immer wieder aufs neue wird geraten können, sollte man das Exzentrische dieser Publikationen mit Ruhe hinnehmen. Manche von denen, die hier als „Schurken“ und „Halunken“ bezeichnet werden, leben allerdings noch, aber sie mögen doch nicht glauben, dass man sie um deshalb, weil sie hier so genannt worden sind, nun wirklich dafür halten und in der Geschichte als solche stempeln wird. Viele davon mögen ernsthaft genug ihr Teil verschuldet haben, aber auch diese mögen annehmen, dass die öffentliche Meinung an ihre Reue und an manche bessere Besinnung glaubt. Vor allem verrät der Ton dieser beiden neuerschienenen Bände, dass der Verfasser der „Tagebücher“ wirklich an der Zeit krank war und über die Täuschung seiner Hoffnungen oft sein Herz brechen fühlte. Die Wahrheit, mit welcher dieser Schmerz empfunden und geschildert wird, ist in der Tat erschütternd und versöhnt uns nicht nur mit der Herbheit seiner Aufzeichnungen selbst, sondern überhaupt mit manchen Zügen in Varnhagens Charakter, mit welchen wir uns früher nicht hatten befreunden können. Wir begegnen hier einem Glauben an die Rechte der neuen Zeit und an den letztlichen Sieg der Freiheit, einem Glauben an den Wert und den Adel des Volks, wie er sich schöner nicht in den Werken der berühmtesten Freiheitshelden, nicht reiner bei Franklin findet.

Auch diese neuen Bände werden vielen Federn Anlass bieten, in mannigfacher Weise auf ihren interessanten Inhalt einzugehen. Unserer Zeitschrift fehlt dazu der Raum. Nur eine Bemerkung wollen wir nicht unterdrücken, die auf den politischen Charakter Preußens und Berlins geht. Jene Jahre waren allerdings die der allgemeinen Verwirrung, aber am verworrensten sah es doch wohl in Berlin aus. Wir denken hierbei nicht an die Bassermannschen Gestalten, nicht an die ratlose, hin und her geäffte Bürgerwehr, nicht an den zu allen Zeiten schwer zu bewältigenden Straßengeist Berlins, sondern an die Sphäre der Intelligenz und der privilegierten Politiker. Letztere rekrutierten sich eigentümlicherweise aus frondierenden Beamten und pensionierten oder auf Disposition gestellten Militärs, wie denn Varnhagen selbst ein solcher zur Disposition gestellter Diplomat war. Das Hin und Her, das Zutragen, Besserwissen, die Medisance, das Klatschen gerade dieser Sphäre ist so höchst auffallend, dass man die Gefahren des Throns weit weniger versucht wird in der demokratischen Sphäre zu suchen als da, wo der Thron seine Stützen zu suchen pflegt. Eitelkeit, Unzuverlässigkeit, Rachsucht, hämische Schadenfreude verbinden sich hier mit einer müßiggängerischen Phantasie, die unausgesetzt sich selbst und andere alarmiert und an einen Nachen denken lässt, der im Sturm nur durch die Unruhe und das Hin- und Herlaufen seiner Passagiere untergeht. Dies ist ein bedenklicher Charakterzug jener Menschen und Gegenden, welche bekanntlich die deutsche Hegemonie und im Fall der Gefahr unsere Kriegsführung anstreben. Denkt man sich diese spezifisch berlinisch-preußischen Elemente beim Beginn eines Feldzugs oder am Vorabend einer Schlacht, so darf uns so außerordentlich viel Weisheit, so außerordentlich viel (nur durch die Furcht!) aufgeregte Phantasie, verbunden mit der im schwatzhaftesten Dreiachteltakt gehenden Suada, die niemanden zu Worte kommen lässt, ernstliche Besorgnisse einflössen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Berlin - Panorama einer Weltstadt