Varnhagens Tagebücher (1861)

Wir mögen nicht das Schlimme wiederholen, das sich schon reichlich in manchen Blättern über Ludmilla Assings neue Mitteilungen aus dem Nachlass ihres Oheims (zwei Bände, Leipzig, F. A. Brockhaus, 1861) gesagt findet. Die Ausdrücke der Anfeindung und Verachtung kommen meist aus der Region, wo man sich durch die guten Seiten dieser Tagebuchnotizen getroffen fühlt.

Wer die Zeit von 1835-43 (dies die Jahre, die die vorliegenden zwei ersten Bände treffen) mit all dem Unmut und dem Druck persönlichster Benachteiligung durchlebt hat, dem Varnhagen in seinen Aufzeichnungen Worte leiht, der entschuldigt das meiste von dem, was andere hier verurteilen wollen. Ihm bleibt es eine Erquickung, noch einmal bis in die kleinsten Details jenen traurigen Zeiten der Verfolgung und endlich zu Fall gekommenen Tyrannei nachzuleben. Ihm gewährt es einen hohen Genuss, sich sagen zu können: An alledem warst auch du mit den tiefsten Atemzügen deines Lebens beteiligt, fühltest dieselben Gewaltschläge der Schergen, hofftest auf dieselben Sonnenblicke der bessern Zeit! Bis ins einzelnste lebt sich ein älteres Geschlecht in diesen Varnhagenschen Mitteilungen noch einmal wieder sein eigenes Leben durch.


Und auch das ist eine der guten Seiten dieser Veröffentlichungen, sie lehren Hingebung an Zeit und Menschen, Verehrung und Pietät vor der gemessenen Stunde, auch vor fremder Bildung, fremdem Lebensschicksal und vollends vor dem eigenen, soweit wir nur zu oft geneigt sind, immer nur in hastiger Erwartung des Zukünftigen unsere Befriedigung zu finden. Je massenhafter die Zeit ihre Strebungen ansetzt, je verallgemeinerter die Wirkungen des Zeitgeistes sind, desto erhebender diese Beachtung des Einzellebens, diese sinnige Beobachtung des Individuellen und Persönlichen. Letztere Beobachtung ist bei Varnhagen nicht ganz von der Neugier, noch weniger lediglich vom Gefallen an dem medisanten Geflüster der Göttin Fama eingegeben; sie entspringt aus einem Persönlichkeitskultus, den wir nicht verwerfen oder um seiner etwaigen Abnormitäten willen verurteilen wollen.

Welche Fülle von interessanten Mitteilungen diese beiden Bände enthalten, ist in allen Zeitungen schon gesagt worden. Wir können allerdings den verstehen, der die Möglichkeit, solche Tagebücher zu führen, in mehr bedenklichen als guten Charaktereigentümlichkeiten finden will; das vor uns liegende Endergebnis solcher Art oder Unart ist jedoch lehrreich und nützlich. So viel lässt sich bei jedem einigermaßen Urteilsfähigen voraussetzen, dass ihm nicht jede dieser flüchtig hingeworfenen Äußerungen maßgebend sein wird--es kann in ihnen getadelt werden, was vielleicht alles Lobes wert ist--aber luftreinigend wirken diese Explosionen; Behutsamkeit werden sie nach allen Seiten hin verbreiten. Wie gut tut es nur allein schon den Hochgestellten und Mächtigen, dass sie überall sich eingestehen müssen: Hier ist zwar nicht durch Anschlag vor Fußangeln gewarnt, aber hüte dich bei jedem Schritt, unvorsichtig und unbedacht zu sein!

Auch darin müssen wir eine höchst interessante Wirkung dieser Veröffentlichungen sehen, dass wir die außerordentliche und fast unglaublich scheinende (Natürlichkeit) kennenlernen, die in gewissen höhern Regionen waltet. Möglich, dass zwei Dritteile dieser hier vom Hofe, den Prinzen, den Staatsmännern Preußens aus den oben genannten Jahren mitgeteilten Anekdoten unrichtig erzählt oder leere Erfindungen des Gerüchts sind; dennoch bleibt immer noch genug zurück, um uns ein Bild dieser steten Agitation zu geben, die um die hervorragenden Erscheinungen der Erdenmacht sich auf- und abbewegt. So stürmt der Zugwind am meisten um große, alleinstehende Kirchen und lässt schon in der Legende den Teufel da sein lustigstes Spiel treiben. Varnhagen hat Fürsten und Regierende genug selbst gesprochen, teilt Äußerungen von erlauchten Lippen genug selbst mit, die sein eigenes Ohr vernommen, um die Vorstellung zu erwecken: So also beängstigt euch Herrschende doch die Zeit und die tausendfache Verpflichtung, die gerade euch stets mahnend zur Seite steht! So jagen euch die unfertigen Gestaltungen dieser irdischen Welt hin und her; so bringt der Vorwitz und die Torheit und welche Leidenschaft der Menschen nicht--! unablässig Wirkungen hervor, deren Ursachen wir Fernstehenden kaum ahnten! In den Zeitungen stand das alles so kalt und so abgeschlossen fertig da, was sich hier hinter den Kulissen so heiss siedend und wallend erst formte, so unfertig, so nur wie vorläufig! Diese Hände konnten mächtige Fahrzeuge zimmern und doch nicht dem Sturm und den Wellen gebieten! Wir haben seit langem nicht so auf den Sieg des Wahren und Gerechten vertraut wie nach der Lektüre dieser Tagebuchmitteilungen, die uns die Gewalthaber der Erde als ebenso hilfsbedürftige Menschen schildern, wie wir selbst sind.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Berlin - Panorama einer Weltstadt