Drei preußische Könige (1840)

Indem ich an diese auch in der Form anspruchslosen kleinen Umrisse die letzte Hand lege, kommt die Trauerkunde vom Tode Friedrich Wilhelms III. Diese Botschaft musste mich, da ich in Berlin den Volksglauben, der König müsse in diesem Jahre sterben, allgemein verbreitet fand, doppelt erschüttern. Die häusliche Zurückgezogenheit, in der der Verstorbene lebte, hatte es unmöglich gemacht, seit Jahren über seinen Gesundheitszustand etwas Gewisses zu erfahren: Zeigte er sich öffentlich, so erschrak man zwar über die in letzter Zeit außerordentlich gealterten Züge, aber die Haltung des Königs war von jeher so grad und ritterlich gewesen, dass ihn diese auch in der letzten Zeit nicht verließ, und man an eine noch ausgedehntere Lebensdauer glauben durfte. Umso betroffener musste man über den Volksglauben sein. Man machte geltend, dass in jedem Jahrhundert das vierzigste Jahr den Preußen einen Thronwechsel oder irgend ein wichtiges Ereignis bringe, man sprach von den nächtlichen Umgängen der weißen Ahnfrau des Hohenzollerschen Hauses. Noch oft erschien der König hinter dem roten Vorhange seiner Proszeniumloge im Theater. Nur die ängstliche Einführung Schönleins in die innern Gemächer des ab und zu als kränkelnd Gemeldeten verriet ein tiefer gewurzeltes Leiden, dem der Monarch denn am ersten Pfingsttage wirklich erlegen ist.

Lässt sich eine ergreifendere Situation denken, als ein sterbender König und ein neuer, der ihm folgt, in dem Augenblick, als der Donner des Geschützes die Grundsteinlegung zu einem Denkmal Friedrichs des Großen verkündete? Wie drängen sich hier in eine kurze Spanne Raum und Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen! Wünsche und Hoffnungen müssen lebendig werden, Besorgnisse sterben, andre können erwachen, Gedanken aus den entgegengesetztesten Richtungen müssen sich durchkreuzen. Wer hat den Schlüssel, um zu erraten, was der jetzt Tote dachte, das Volk glaubte, der neue Herrscher ahnte? Wie kommt es, dass gerade die Erinnerung an den Begründer der preußischen Monarchie in ihrer Stellung zu Europa die letzte öffentliche Tatsache im Leben Friedrich Wilhelms III. sein musste? Ist dies eine Sühne der Vergangenheit oder ein Fingerzeig für die Zukunft? Den Ratschluss des Weltgeistes umhüllen noch tiefe Nebel und erst die Geschichtsschreibung ferner Zeiten wird die Sonne sein, die sie erhellt.


Bei den Ägyptern sprach man über die toten Könige Gericht. Man wird in öffentlichen langen Reden und in kurzen Inschriften viel Unwahres über Friedrich Wilhelm III. sagen, man wird seinem Geiste das zuschreiben, dessen sein Herz, man wird dem Herzen zuschreiben, dessen sein Verstand sich rühmen durfte. Man wird in dem seine Demut finden, was vielleicht sein Stolz war, und wird ihn vielleicht für das loben, wofür er sich selbst getadelt hat. Könige sind wie die Phänomene der Luft. Sie werden von Tausenden ihres Volkes für dasselbe verwünscht, wofür sie andern Tausenden die Heissersehnten sind. Ein Gewitter raubt der Mutter ihr Kind, das der Blitz erschlägt, und tränkt die dürstende Erde, die nach ihm schmachtete.

Mag man nun mit Montaigne glauben, dass „herrschen“ le plus aspre et difficile metier ist, oder mit einem italienischen Sprichworte (von Oxenstierna einst ironisch angewandt), dass zum Herrschen gerade das wenigste Hirn gehört (der Leipziger Professor Adam Rechenberg hat es übrigens schon 1676 in einem eignen Werke widerlegt), mag man auch von dem, was über den Verstorbenen gesagt werden wird, abziehen, was der rührende Moment oder persönliches Interesse überflüssig hinzufügt, so viel wird selbst die Nachwelt nicht umstoßen können, dass der innige Zusammenhang der Schicksale, die die preußische Monarchie trafen, mit der Person Friedrich Wilhelms III. ein in der Erinnerung nie erlöschendes Licht auf ihn geworfen hat. Eine freudenlose, umflorte Jugend machte ihn schon früh für eine stillere Ergebung in das Unglück reif. Die Mäßigung, die ihn in seinen Leidenschaften und Gefühlen beherrschte, lehrte ihn auch, das spätere Glück ohne Überhebung ertragen. Er nahm die Gaben des Geschicks mit einem Gefühl an, das ihn auf alles gefasst machte, wenn es nur nicht überraschend und ohne Voraussicht kam. Heftigere Aufregungen vermeidend beängstigte ihn jede leidenschaftliche Anmutung und so erhielt auch seine letzte Regierungsperiode jenen Charakter bescheidener Selbstbeschränkung, den Preußen, ein innerlich so kraftvoller und nach außen hin nicht ungedeckter Staat wohl aufgeben durfte, ohne für seine Erhaltung besorgt zu sein. Friedrich Wilhelm III. war durch sein Temperament vor übereilten Entschließungen geschützt und diese Tatsache war vielleicht die glücklichste Erfahrung für das Wohl des Staates in einer Zeit, wo der Zeitgeist so viel leidenschaftliche Faktoren in Bewegung setzte und es Staatsmänner gab, die so gern neue Manifeste des Herzogs von Braunschweig in die Welt gestreut hätten und dem Weltlauf mit kecker Hand in die Zügel gefallen wären. Friedrich Wilhelm III. war nicht so groß in dem, was er tat, als in dem, was er vermied.

Dass man sich in Preußen, da die Zeit des Zuwartens vielleicht vorüber ist und den Horizont keine Kriegswolken trüben, nach positiven Schöpfungen sehnt und das Feld für einen großartigem Anlauf zur Staatenlenkung nun geöffnet sieht, beweist die ängstliche Spannung Preußens, Deutschlands, Europas auf den Geist, in welchem Friedrich Wilhelm IV. regieren werde. Der neue Regierungsantritt hat das vor andern Thronwechseln voraus, dass wir hier nicht einen Jüngling auftreten sehen, dessen politische Ideen noch von dem Unterricht seiner Lehrer befangen sind, sondern einen gereiften Mann, der jahrelang den Zeitlauf und das Terrain der ihm nun anvertrauten Regierung gründlich beobachten konnte. Das neue Herrscheramt wird ihm wie ein bekanntes Buch sein, bei dessen Lektüre er sich Stellen unterstrich und hier und dort Merkzeichen einlegte. Und dass es solcher Stellen und Merkzeichen viele geben müsse, beweist der allgemein selbst in Berlin verbreitete Glaube an ein neues, durchdachtes, längst angelegtes und bald hervortretendes System.

Man erschöpft sich in Vermutungen über das politische Glaubensbekenntnis des neuen Königs. Man nennt ihn aristokratisch; aber verdanken nicht gerade einige talentvolle Bürgerliche ihre Berufung zum Ministerium der Empfehlung des ehemaligen Kronprinzen? Verwechselt man nicht die vornehmimponierende und doch gefällige Haltung des neuen Herrschers mit Sympathien, die durch nichts bewiesen sind? Man nennt ihn einen Freund der Richtungen, in welchen Steffens und ähnliche reaktionäre Geister geschrieben haben. Aber wenn der ehemalige Kronprinz Steffens persönlich kannte, so wird er bald gefunden haben, dass die naive Lebensunsicherheit dieses geistvollen, aber unpraktischen Mischdenkers am wenigsten zu seinen politischen Phantasmen und Träumereien Vertrauen einflössen kann. Wie würde auch die große Vorliebe, die der ehemalige Kronprinz für seinen ruhmgekrönten Ahn Friedrich II. empfinden soll, mit der Hinneigung zu politischen Theorien stimmen, deren Vertreter, wie Haller, Leo, Steffens und ihnen ähnliche, in Friedrich dem Großen nur einen gekrönten Jakobiner sehen?

Man rühmt von jeher den Geist des neuen Herrschers. Man schreibt ihm Verstandesschärfe und Witz zu. Er ist kein Freund des Gamaschendienstes und hat mehr Sinn für das Zivile als Militärische. Er liebt den Umgang mit Gelehrten und Künstlern, von denen viele sich seiner nähern Bekanntschaft erfreuen. Wie harmlos er gewohnt ist, sich dem Talente hinzugeben, bezeugt der gemütvolle, anspruchslose Brief, den er an Chamisso schrieb. (Siehe Hitzigs „Leben Chamissos“ Bd. 2, S. 93.) Der ehemalige Kronprinz ist ein talentvoller Zeichner und dass ihm selbst der schriftstellerische Ausdruck nicht fremd sein dürfte, beweist der Umstand, dass man ihn oft zum Verfasser anonymer Flugschriften machen wollte! Von sogenannten noblen Passionen, die man Großen eher nachzusehen pflegt, als Kleinen, weiß man nichts. Seine Sittlichkeit wird gerühmt. Er besucht die Kirchen anerkannt pietistischer Geistlicher; ob aus Neigung für ihr theologisches System, oder aus Achtung vor ihrer oft ausgezeichneten Rednergabe, weiß ich nicht. Jedenfalls würde eine religiöse Stimmung dieser Art bei ihm nicht aus einem Minus, sondern einem Plus der Bildung entstehen; d.h. es ist möglich, dass sie die Frucht einer entweder gemütlichen oder philosophischen Abneigung gegen einseitige Verstandesreligiosität wäre. Es ist kein Zweifel, dass der neue Herrscher historische Tatsachen den Abstraktionen vorzieht, aber es ist wahr, dass ihm die Hegelsche Philosophie nicht unbekannt geblieben, so wird ihm das Progressive in der Geschichte nichts Befremdendes und der Einfluss des Verstandes auf die Gestaltung der neuen Zeit nichts Feindseliges sein. Friedrich Wilhelm IV. wird keinen Schritt ins Ungewisse tun. Ein Ziel hat er gewiss im Auge, wenn auch die Zeit erst lehren muss, wo es liegt. Für gedankenlos halte man keine seiner Unternehmungen. Ratgeber wird er hören, ihnen aber nicht immer folgen. Reue wird ihm, trotz seines christlichen Sinnes, für öffentliche Schritte fremd sein. Er wird vielleicht bei einem Unternehmen seine Richtung ändern, nie aber einen Schritt wieder zurücktun. Es lodert viel Feuer in ihm und sein Geist wird oft in den schönen Fall kommen, heftigere Regungen des Gemüts zu zügeln. Der göttlichste Triumph, den uns der Himmel schenkte, Beherrscher unserer Leidenschaften zu sein, kann ihn oft beglücken. So urteilt die Sage und urteilt vielleicht falsch. Man kann darnach den Versuch machen, ein Porträt zu zeichnen und muss sich zuletzt doch eingestehen, dass der--Versuch eine Pfuscherei ist.

Es haben sich, von Herrn Varnhagen von Ense ausgebrütet, so viel kleine Gentze jetzt aus dem Ei gepickt, dass ich wohl begierig wäre, was einer von ihnen, dem Beispiel des ehemaligen Kriegsrats Gentz folgend (der eine Adresse an Friedrich Wilhelm III. bei seiner Thronbesteigung herausgab), dem neuen Herrscher ans Herz legen würde. Mit guten Lehren aus dem frommen Telemach, der ad usum delphini geschrieben ward, würde es wohl ebensowenig getan sein, wie mit dem Macchiavell. Ein Fürst soll keinem Schmeichler trauen, sagt Mentor alle Augenblicke; bändige eine Regierungsgewalt durch die andre, sagt der Florentiner; aber wir leben nicht in Versailles und nicht in Florenz. O der guten Lehren, die man Königen gegeben hat! Sie werden fast alle lächerlich, wenn man sie auf bestimmte Fälle anwendet, oder sie setzen an Fürsten dasjenige als lobenswert voraus, was sich an einem zivilisierten Menschen des 19. Jahrhunderts wahrhaftig von selbst versteht. Weit schwieriger sind Ratschläge, die einen schwebenden Status quo betreffen. Was würde wohl mit der katholischen Frage, was mit der kommerziellen Stellung Preußens zu Russland; was mit dem Wunsch nach einer Verfassung zu beginnen sein? Dem neuen Herrscher raten wollen? Er hat seit einer langen Reihe von Jahren den Geschäftsgang in der Regierung seines Vaters beobachtet: Er wird sich längst auf seinen eignen Antritt des Regimentes vorbereitet haben. Wer die Entwürfe kennte, die schon alle im Pulte harren! Es ist leicht möglich, dass Friedrich Wilhelm IV. für Europa einige Überraschungen im Sinne hat.

Man spricht jetzt soviel über Friedrich II. Was ist es, das an ihm so außerordentlich gerade jetzt in die Augen spränge? Will man einen schlesischen Krieg? Will man eine straffgezogene Regierungssouveränität? Nein. Es ist das Persönliche, das an Friedrich II. gerade jetzt so bewundert wird. Preuss und andere haben so herrliche Züge von der freien, unabhängigen, entschlossenen Denkungsart dieses Königs mitgeteilt. Man hat in Friedrichs Schriften Ansichten gefunden, die jetzt würden für staatsgefährlich erklärt werden. Es ist kein Zweifel, dass man mit dieser Vergötterung Friedrichs des Großen einen Wunsch für seine Nachfolger aussprechen will; denn das Lob der Vergangenheit ist immer eine Polemik gegen die Gegenwart.

Was könnte wohl ein heutiger Monarch an Friedrich dem Großen lernen? Vieles für die Personen, weniger für die Sachen. Nicht alles würde jetzt so am besten geschlichtet, wie es Friedrich II. geschlichtet haben würde. Wohl aber würde man für die Mittel und für die Ratgeber lernen können. Theoretiker am Staatsruder würde er mit Recht für Schwindler erklären und das Nächste würde ihm lieber als das Entfernte sein. Was Friedrich über die Religion dachte, war nicht gut für die Schule, besser schon für die Kirche, vortrefflich für die Wissenschaft. Der Voltairesche Verstand, der ihn beseelte, war schlecht für den Aufbau des Neuen, aber gut zum Niederreissen des Veralteten. Man darf diesen endlichen, witzelnden Verstand nie zum Feldzugsplan erheben, kann ihn aber gut als Waffe benutzen. Das klare, unbestochene, vorurteilsfreie Wesen ist an Friedrich II. bewundrungswürdig. Man fühlt, wenn man seine Antworten und Resolutionen liest, dass man für jedes Leiden bei seinem Gemüt wohl eben keinen Trost, bei seinem Verstande aber Abhülfe würde gefunden haben. Seine Phantasie und sein Geschäftseifer machten ihm das Verständnis jedes ihm vorgelegten Falles sogleich klar und man hatte nicht nötig, wenn man einen Minister verklagte, zu fürchten, dass man an eben diesen Minister würde verwiesen werden.

Die Erwartungen auf Friedrich Wilhelm IV. sind gespannt. Die erste Zeit seiner Regierung gebührt der Trauer. In dem dunklen melancholischen Grün des Fichtenhains, der die sterblichen Überreste seines Vaters und seiner Mutter beschattet, wird man ihn noch zu oft sehen, als dass man aus seinem Auge etwas andres erraten könnte, als Tränen. Er wird nicht damit beginnen, Schöpfungen seines Vaters umzustürzen, er wird niemanden, der des Seligen Vertrauen besaß, aus seiner Nähe entfernen. Aber die Aufforderung zu Taten wird nicht ausbleiben. Die Besetzung der bekannten erledigten Ministerstelle dürfte vielleicht das erste Symptom des Kommenden sein. Klio spitzt ihren Griffel, sinnend lehnt sie den Arm auf das neue Blatt im Buche der Geschichte und lauscht mit lächelndernster, mit bangfroher Erwartung.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Berlin - Panorama einer Weltstadt