Ein Frühgottesdienst für Briefträger.

Ein Nachmittagsgottesdienst für Milchkarrenschieber; denn auch diese Fuhrleute bringen ja jeden Sonntag die Milch zur Stadt. Gut, ich glaube, dass es wünschenswert ist, auch die Droschkenfuhrleute an die Kirche zu gewöhnen; aber hätte die gesunde Vernunft und die Billigkeit jenes überchristlichen Juden, wahrscheinlich eines Kommerzienrates, nicht einen andern Ausweg finden können? Wie nun, wenn man bei den Droschkenställen keinen Gottesdienst errichtet, wohl aber jedem Droschkenführer es möglich gemacht hätte, alle vierzehn Tage oder wenigstens alle vier Wochen einen halben Sonntag frei zu haben, einen halben Sonntag, wo er die Kirche besuchen kann? Erlaubte das die Dividende des Kommerzienrates nicht? Ihr habt ein so großes Mitleid mit der Seele des Droschkenfuhrmanns und sorgt für seinen Kirchgang, schenkt ihr ihm dann auch, dem geplagten, an seine Karre gebundenen Menschen, einen Erholungstag? Spannt ihr ihn einmal aus seinem Joche aus und errichtet einen Aktienverein zu einer Mittagsfreude, zu einer Nachmittags-Belustigung? Statt dass also die hiesigen Überchristen den Kommerzienrat zwingen sollten, jedem Droschkenfuhrmann alle vierzehn Tage oder alle drei Wochen, die Reihe herum, einen freien Sonntag zu geben, den er als freier Mensch, Christ und Staatsbürger anwenden kann, wie er will, schlüpfen sie über den Missbrauch des privilegierten Droschkenregenten hinweg, sanktionieren die Tatsache, dass kein Droschkenfuhrmann einen freien Sonntag hat, und sorgen nur einzig dafür, dass ihm morgens vor Ausfahren aus dem Stall das Evangelium gepredigt wird! O über den frommen Kommerzienrat!

Wenn dem religiösen Fanatismus keine Grenzen gesteckt werden, so erleben wir noch die krankhaftesten Erscheinungen. Die übertriebene Heiligung des Sonntags kann förmlich alttestamentarisch werden. Wenn sich z.B. Jemand in den Gedanken vertieft, dass die Eisenbahnen an Sonntagen befahren werden und das Bahnpersonal und die Lokomotivführer deshalb nicht die Kirche besuchen können, würde man einem solchen Gemüt nicht zurufen müssen: Behüte dich der Himmel vor Wahnsinn! Der religiöse Fanatismus, der sich ferner der Armen und Kranken annimmt, hat Ansprüche auf unsere vollkommenste Hochachtung, er steht den Geboten der reinen Humanität so nahe, dass man nicht untersuchen mag, welches die Quelle seiner Hingebung, Aufopferung und Liebe ist; wenn aber die Pflege der Armen strafend, die Wartung der Kranken lästig und beängstigend wird, dann muss man selbst gegen so an sich ehrenwerte Äußerungen des überchristlichen Sinnes kalt werden. Strafend aber ist die Armenpflege, welche nur dem gibt, den sie als rechten Glaubens erkennt; lästig und beängstigend ist die Krankenwartung, die uns zwischen den Schmerzen des Körpers von der Verworfenheit unserer Seele redet.


Es bereitet sich hier eine Menge praktischer Anwendungen des mildtätigen Christentums vor. Die meisten davon stehen noch auf dem Papiere, einige sind schon ins Leben getreten, z.B. ein Magdalenenstift zur Rettung gefallener Mädchen. Was man von letzterem hört, lässt auf eine gesunde und tatkräftige Ausführung dieser an sich löblichen Absicht nicht schließen. Schon dass diese unglücklichen Personen durch eine eigene Tracht kenntlich gemacht werden, ist einer jener finstern Nebengedanken, die wir strafende Armenpflege nannten. Wenn es einen Weg geben kann, um solche Personen einer sichern Besserung entgegen zu führen, so kann es nur der sein, sie auf eine möglichst geräuschlose, stillschweigend liebevolle Weise der Gesellschaft wiederzugeben. Eine schwarze Tracht mag allerdings bewirken, dass der, der sich dem Magdalenenstift in die Arme wirft, gleichsam die Tür hinter sich auf immer zuwirft und eine fast kartäuserartige Resignation zeigen muss, aber wie wenig Gemüter werden einer solchen Abtötung des letzten Restes von Stolz fähig sein! Gerade das, was Ihr zuerst brechen wollt, diesen letzten Rest von Stolz, gerade das ist nur das Samenkorn, aus dem sich eine neue Blüte des sittlichen Menschen erheben kann. Was wird das Ende dieses Beginnens sein? Dass eine solche Anstalt hinter ihrer guten Absicht zurückbleibt und, statt gebesserter, dem Leben wieder gewonnener Verirrten, Heuchlerinnen erzeugt, die, wie es der Fall ist, beim geringsten verführenden Anlass wieder in ihre alten Lasterwege zurückfallen.

Nach allem, was sich hier beobachten lässt, sieht man, dass man die Übel, an welchen die heutige Gesellschaft krankt, hier mehr als irgendwo erkannt hat. Man hat sie erkannt, weil man sie fühlt, weil sie sich zu unabweislich von selbst aufdrängen. Aber in den Mitteln, den gesellschaftlichen Schäden abzuhelfen, vergreift man sich. Man will den Schäden unmittelbar begegnen, statt dass sie nur da wahrhaft zu heilen sind, wo man ihrem ersten Grunde auf die Spur gekommen ist. Die Wurzel muss man entdecken und den Wurm töten, der an der Wurzel nagt. Das Begießen des welken Blattes an dem verkrüppelten Stamme fristet ihm eine Weile das frische Ansehen des Lebens, dann aber fällt es ersterbend ab, weil der aus der Wurzel quellende Balsam des Lebens, der Saft der Gesundheit ihm stärkend nicht zuströmt.

Theodor Mundt sprach in seiner kürzlich erwähnten Vorlesung von dem durchgreifenden Streben unserer Zeit nach „Glückseligkeit und Vergnügen“. Ich erschrak, wie er diese Tatsache so ohne weiteres als einen feststehenden Satz, wahrscheinlich als die Prämisse seiner frühern Entwickelungen einwerfen und voraussetzen konnte. Und doch stellt sich diesem Satze, um ihn zu widerlegen, wenig gegenüber. Er ist wahr, er ist bewiesen; bewiesen nicht nur durch den Luxus der Reichen, sondern auch durch die brennende Sehnsucht und Entsagungsunfähigkeit der Armen. Am unersättlichsten aber in Zerstreuungen ist der Mittelstand. Glückseligkeit und Vergnügen ist mehr denn je die Devise des Berliners geworden. Die öffentlichen und Privatgelegenheiten zu Erholungen aller Art haben sich reissend vermehrt. Die Straßenecken sind täglich mit mehr als einem Dutzend Zettel beklebt, um zu Zerstreuungen einzuladen. Dabei ist der Zudrang zu solchen Nahrungszweigen, welche wenig Anstrengung erfordern, unverhältnismässig. Wer früher nicht wusste, welches Gewerbe er treiben sollte, eröffnete einen Tabakshandel. Jetzt haben sich dazu Anlagen von Kaffeehäusern, Vergnügungsgärten, Konditoreien gesellt, die mit derselben Schnelligkeit aufschiessen, wie hier Mode-, Schnittwaren-, Kleiderhandlungen und Gewerbeläden von solchen eröffnet werden, die diese Gewerbe nicht selber treiben, sondern nur von andern treiben lassen. Und mitten in diesem Sausen und Brausen von Vergnügungen dann jene Zustände der Not und des Elends, die Bettina jenen menschenfreundlichen Schweizer im Anhange ihres Königsbuches hat schildern lassen--der Gegensatz ist schneidend.

Auswärts fühlt man diesen Gegensatz fast noch mehr als hier. Auswärts hat man sich verwundert, wie mitten in diesen Tatsachen des dringendsten Bedürfens, mitten in diesen beredten Schilderungen der hiesigen Verarmung plötzlich das Krollsche Etablissement hat auftauchen können. Ich gestehe, als ich diesen von allen Zeitungen für einen Feenpalast ausgegebenen Ort besuchte, konnte ich den störenden Gedanken, dass diese Schöpfung sehr mal a propos gekommen, nicht unterdrücken. Zum Glück bleibt auch dieser „Feenpalast“ hinter seinem Rufe zurück. Schon in der Ferne, wenn man durch Staubwolken durchzudringen vermag, sieht das Ganze wie eine große Ziegelhütte aus. Man sieht ein Konglomerat von Schornsteinen und hervorspringenden Hausecken und fühlt sich durch den ersten Eindruck eher abgestossen als angezogen. Dabei ärgert man sich über die Idee, ein solches von allen Fremden zu besuchendes Lokal auf die Achillesferse Berlins, die Sandwüste Sahara, auf den Exerzierplatz zu bauen. Der Berliner Staub, vergessen gemacht durch die freundlichen Anlagen des Tiergartens, tritt wieder beizend, augenverderbend, unausstehlich in den Vordergrund; denn recht in den Mutterschoss dieses Staubes ist das neue Gebäude gelegt worden. Man betritt es. Alles erscheint daran lückenhaft, hölzern, durchsichtig, leichte Ware, berechnet auf einen kurzen Effekt. Mit einem Blick übersieht man die gewaltige Reitbahn des Vergnügens. Keine Abwechslung, kein lauschiges Versteck, keine Möglichkeit des Alleinseins. Die nackten weißen Holzwände, mit Goldleisten zwar verziert und hier und da bemalt, aber keine Draperien, keine Vorhänge, das ganze Lokal auf einen Blick in die flache Hand gegeben. Das Unterhaltende an den Maskenbällen in der großen Oper zu Paris ist nicht der große Tanzraum, sondern das bunte Gewühl auf den Treppen, Korridoren, in den Foyers, in Einrichtungen, die hier, bis auf einige wenige Logen, nicht getroffen sind. Man kann allerdings sagen, Paris besitzt ein solches Etablissement nicht; aber man muss hinzufügen: Wenn man in Paris so oberflächlich wäre, zum blossen Dasitzen, Gaffen und Begafftwerden eine solche Unterhaltungsanstalt zu begründen, so würde sie großartiger, geschmackvoller, charakteristischer sein. Im Kellergeschoss dieses Tempels der Langeweile befindet sich ein so genannter „Tunnel“, eine Lokalität zum Rauchen, wie sie finsterer, schmutziger, erstickender kaum in London gefunden werden kann. Man glaubt, dass die „Mysteres de Paris“ hier ihren Anfang hätten nehmen können. Man glaubt den tapis franc zu betreten und sieht sich unwillkürlich nach der Ogresse um. Aber auch die „Mysteres de Berlin“ könnten hier anfangen. Gibt es solche? Gedruckt schon eine große Anzahl, und die zuerst kamen, von Schubar, schon in dritter Auflage ... Schade, dass sich originelle Köpfe nicht leicht entschließen werden, in die Fußstapfen eines andern zu treten; wohl aber bliebe es wünschenswert, dass sich jemand der deutschen Zustände so bemächtigen könnte, wie Eugene Sue der französischen. Hat nicht am Ende auch Sue den Boz nachgeahmt, und Boz wieder die alten humoristischen Romane der vorigen Jahrhunderte? Mysterien von Berlin müssten grelle Schlaglichter auf Deutschlands sittliche, gesellschaftliche und intellektuelle Zustände fallen lassen, müssten die Fackel der Aufklärung nicht nur in die Kellergewölbe der Armut und des Verbrechens tragen, sondern auch in die trübe Dämmersphäre der Schein- und Überbildung, der Lüge und Heuchelei.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Berlin - Panorama einer Weltstadt