Diese Kritik gehört Bettinen (1843)

Wie man nach einem Mittagsmahle, wo man beizende Speisen zu sich genommen hat, die uns austrocknen und einen brennenden, kaum zu ertragenden Durst erzeugen, einen Trunk des reinsten, erquickendsten Quellwassers die verschmachtende Kehle hinunterschüttet und mit Wollust die benetzte Lunge zum Atmen ausdehnt, so erquickt, so erfrischt das neue Buch Bettinens. Im Kristallglase ihrer stilistischen Schönheiten, mit all den wunderlichen, eingeschliffenen Blumen ihrer gewohnten Darstellungsweise kredenzt die anmutige Zauberin uns diesmal nicht etwa berauschenden Schaumreiz, der uns die Welt im phantastischen Rosenlichte zeigen soll, nicht südliches Rebenblut, durchduftet von den Blüten des Orients oder gewürzt von zerstoßenen Perlen der Märchenwelt, sondern diesmal nur reine, frische Quellflut, reines kristallhelles Nass vom Borne der Natur, aus der Zisterne der gesunden Vernunft. O welche Labung, dies herrliche, gedankenklare, gesinnungsfrische Buch! Nach so viel tausend gewürzten Speisen, die uns die Philosophie dieser Tage aufgetischt hat, nach dieser täglichen salzigen Heringskost unserer modernen Literatur, nach diesem ewigen Sauerkohl unserer philisterhaften Denk-, Schreib-, Lese- und Lebensmethode ein solches Buch! Ein solcher Trunk aus den Bergen, ein volles Glas, wo die Felsen-Kühle mit tausend Tropfen die innere Wand beschlägt! All ihr modernen Rheinweinpoeten und knallenden Champagnersänger, das konntet ihr nicht geben, was Bettina gibt, Labung und Kühlung, Erquickung und Stärkung, Trost für das Vergangene und Mut für das Werdende!

Das neue Königsbuch dieser merkwürdigen Frau ist kein Buch in dem Sinne, dass es wie herbstliches Geblätter eine Weile raschele und unterm Winterschnee vergessen sein wird, sondern es ist ein Ereignis, eine Tat, die weit über den Begriff eines Buches hinausfliegt. „Dies Buch gehört dem König“, es gehört der Welt. Es gehört der Geschichte an, wie Dantes „Komödie“, Macchiavellis „Fürst“, wie Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Es sagt Dinge, die noch niemand gesagt hat, die aber, weil sie von Millionen gefühlt werden, gesagt werden mussten. Man wird diese Dinge bestreiten, man wird des Frauenmundes, der sie ausspricht, spotten und man bestreitet und spottet schon lustig in den Allgemeinen und gemeinen Zeitungen unserer Tage. Aber bei Erscheinungen dieser Art heißt es, das starke Ende kommt nach. Mit des kühnen Strauss’ „Leben Jesu“ ging es ebenso. Vor dem wahrhaft Bedeutenden erschrickt man erst, ehe man vor ihm niederfällt.


Wer noch nicht nach den beiden kleinen Bänden gegriffen hat, wer noch schwankt, ob man ein Buch interessant finden soll, das man nicht wie einen Roman in einem Zuge, sondern in den „bekannten sieben Zügen“, wie die Studenten sagen, trinken und allmählich in sich aufnehmen muss, dem diene folgendes als Erläuterung: Das merkwürdige Buch trägt seinen persischen Titel wirklich mit vollem Recht. Es ist keine Affektation in diesem Titel. Dies Buch gehört wirklich dem König und musste so heißen, durfte nicht anders. Es ist ein Brief, ein offener Brief, an den König geschrieben und geradezu an Friedrich Wilhelm IV. Es ist eine Adresse der Zeit, von einem Weibe, einer mutigen Prophetin verfasst, und deshalb von Tausenden von Männerunterschriften bedeckt, weil Bettina hier nur das Organ einer allgemeinen Ansicht, die kühne Vorrednerin ist, die Jeanne d’ Arc, die nicht mit ihrem Arme, sondern mit ihrer Begeisterung, mit ihrem Glauben das Vaterland retten will. Traurig genug, dass nur ein Weib das sagen durfte, was jeden Mann würde hinter Schloss und Riegel gebracht haben. In diesem wunderbaren Zusammentreffen von Umständen, in diesem Zufall, dass eine Frau, der man die „Wunderlichkeit“ ihres Genies und ihrer gesellschaftlichen Stellung wegen nachsieht, aufsteht und eine Kritik unserer heutigen Politik, eine Kritik der Religion und der Gesellschaft veröffentlicht, wie sie vor ihr Tausende gedacht, aber nicht einer so resolut, so heroisch, so reformatorisch-großartig ausgesprochen hat, darin liegt etwas, was göttliche Vorsehung ist. Dem bedrängten Kampfe der Zeit ist ein Engel mit feurigem Schwerte zum Entsatz gekommen. Windet Euch, baut Bücher auf Bücher auf, sprecht Anathema über Anathema, die Macht einer Inspiration, die Macht einer Offenbarung, ausgesprochen in einem Weibe, das keine Professur, keine Ehre und irdische Anerkennung haben will, diese Glut einer Überzeugung, die sich wie ein feuriger Strom durch die Lande wälzen wird, ist nicht zu dämpfen, nicht auszulöschen. Den Handschuh für die Freiheit wirft hier die Poesie hin; die Poesie ist immer ein Ritter, gegen den alle Streiche in die Luft fahren.

Bettina gehört zu denen, die ohne Falsch wie die Tauben, aber auch klug wie Schlangen sind. Sie redet zunächst nicht zum König von Preußen. Sie malt zwar seine Politik, die Politik seiner Ratgeber, sie malt einen Minister nach dem Leben, aber, ihrer Poesie und dem „Anstand“ gemäss, kleidet sie ihre Polemik in das Gewand der Allegorie. Sie spricht scheinbar von anno 7, scheinbar von Frankfurt am Main, scheinbar von Napoleon und lässt die Frau Rat, Goethes Mutter, statt ihrer reden. Sentimentale und Tartüffe-Gemüter, die immer wollen, dass man die Sachen von den Personen scheidet und deren steter Jammer die „Indiskretionen“ sind, werden es schreckhaft finden, wie man der in geweihter christlicher Erde auf dem Frankfurter Friedhof schlummernden Frau Rat die Verantwortung so himmelstürmender Gedanken, wie Bettina ihr in den Mund legt, andichten kann. Wer aber zu Schleiermachers Füssen gesessen, weiß, welche Rolle Sokrates in Platons Dialogen spielt. Xenophon, der auch vom Sokrates berichtet, mag den anregenden Lehrer nur die Dinge reden lassen, die er wirklich gesprochen hat, Plato aber machte aus Sokrates einen Begriff, eine poetische Individualität, wie sie der Dramatiker schafft. Sokrates spricht beim Plato, was Plato will. Und Sokrates wird dafür im Jenseits nicht mit Plato zürnen. Der Vater ist verantwortlich für den Sohn, der Staat für den Bürger (Bettina führt diese Pflicht mit besonderer Vorliebe aus), der Lehrer für den Schüler. Von großen Menschen bleiben die Genien nachwirkend und leben fort in dem, was aus ihrem Geist geboren wird. Und so ist auch jenes Dämonion, jene höhere Weihe und plötzliche Offenbarung, was der Frau Rat innewohnte, wie dem Sokrates, nicht mit ihr verweht und verflogen, sondern hat mit geisterhaften Fittichen auch ihren Sohn Wolfgang umrauscht und umrauscht noch jetzt Bettinen, die es wagen darf, den kühnen Heldengeist jener Frau mitten unter den Truggespenstern des Tages zu zitieren und sie von den Grimms, von Ranke, von Humboldt reden zu lassen, als wenn sie vom Pfarrer Stein und dem Bürgermeister von Holzhausen redete.

Der erste Band des Königsbuches ist der Religion, der zweite dem Staate gewidmet. Die Beweisführung in beiden ist die des ursprünglichsten Radikalismus. Ein Geist, gefesselt seit Jahrhunderten an Vorurteil, Lug und Trug, ein Genius, niedergehalten von tausend Rücksichten der Selbsttäuschung und Denkohnmacht, scheint sich hier zu erheben, wie Pegasus aus dem Joche auffliegt mit seinen geflügelten Hufen, der Bahn der Sonnenrosse zu. Wie die rosenfingrige Eos streut Bettina Morgenröte aus. Sie hat die Tafeln eines neuen Gesetzes in ihren kühnen Händen, noch sind sie leer, aber nicht ein Wort der Lügen, die darauf standen und die sie mit dem Hauche ihres Mundes von ihnen tilgte, wird wieder auf ihnen stehen dürfen. Sie gibt Negation, aber in der Negation die vollste Positivität des freien Menschengeistes. Diese Freiheit ist keine indische. Sie ist kein Behagen, keine träumerische Wollust in sich selbst, sondern ringende, kämpfende Freiheit, griechische Freiheit, wie sie sich in der Palästra, in der Akademie, auf den olympischen Spielen erprobte. Auch diese Freiheit baut, aber nicht lichtscheue Kapellen im Waldesdunkel, sondern freischwebende Warten und Tempel auf den luftigen Bergeshöhen. Die blinkende Art bahnt den Weg durch Gestrüpp und Genist nicht ins blinde, wilde Ungefähr hinein, sondern nach einem erhabenen, edlen Plane, nach einem Grundrisse, der das All umfasst, Gotteswürde und Menschenwohl. Sie ist konservativ, diese Polemik im höchsten, im majestätischen Stil; denn was verdiente mehr konserviert zu werden als die Natur, die Vernunft und der freie Geist!

Die übliche, salarierte, verdammende und seligsprechende Theologie unserer Zeit wird über den ersten Band ihr schwarzes Kleid zerreißen und siebenmal Wehe! rufen. Dieser erste Band steht vom christlichen Standpunkte auf dem Fundament einer absoluten Glaubensunfähigkeit. Bettina weist hier jede Vermittelung zwischen der Vernunft und dem Dogma ab. Kein mystisches Blinzeln mehr mit den geheimnisvollen Möglichkeiten der Nachtseite des Lebens, keine Deutung mehr, keine Allegorie, sondern die einfache Frage: Kann Wein Wasser, kann Wasser Wein werden? Man sage nicht, dass sich Bettina durch diese absolute Negation des Christentums ganz aus den Voraussetzungen der modernen Welt hinauseskamotiert. Ein Blick auf unsere Zeit und ihre wissenschaftlichen Kämpfe lehrt, dass für die Freiheit schon unendlich viel gewonnen wäre, könnten wir nur auf der Hälfte des Weges, den Bettina schon zurücklegte, Hütten und Zelte bauen, geschweige Kirchen im Sinne dieser Hälfte. Der Erfolg dieses Buches, wie weit er der freisinnigen Theologie unserer Tage zu Hilfe kommen wird, lässt sich noch nicht ermessen. Erst muss die wilde Jagd der Gegner kommen. Warten wir die Gespenster der Wolfsschlucht ab!

Eingreifender aber noch und unmittelbarer wirkend ist der zweite Band. Man hat diese Partie des Buches kommunistisch genannt. Man höre, was er enthält, und erstaune über dies sonderbare Neuwort: Kommunismus. Ist die heißeste, glühendste Menschenliebe Kommunismus, dann steht zu erwarten, dass der Kommunismus viele Anhänger finden wird.

Dieser zweite Band ist den Verbrechern und den Armen gewidmet. Man hat schon drucken lassen, Bettina wolle die Verbrecher zu Märtyrern stempeln und zöge die Diebe den ehrlichen Leuten vor. Das letzte ist kindisch, das erste ist wahr. Man schreibt so viel Bände über die Gefängnisse, über die Verbrecher, über die Straftheorien, man stiftet auch Besserungsanstalten, und doch bleibt es unwiderleglich, dass die wahre Politik, die Politik im Lichte unserer Zeit, die sein sollte, den Verbrechen zuvorzukommen. Mögen wir nun an die ursprünglich gute oder ursprünglich böse Menschennatur glauben, so haben wir doch wenigstens von unserer Erziehung und Bildung einen so hohen Begriff, dass wir von ihrer Anwendung auf die Menschennatur Wunder voraussetzen. Warum verrichten wir diese Wunder so selten? Warum misslingen sie so oft? Unsere gewöhnlichen Quacksalbereien müssen doch wohl nicht ausreichen, um die immer garstiger werdenden Schäden der Gesellschaft zu heilen. Die alte Leier von den Volksschulen usw. ist ganz verstimmt, sie lockt keinen Hund mehr vom Ofen, geschweige dass sie bezauberte und Menschen zu Menschen machte. Der Cholera gegenüber war es mit aller Medizin aus. Da schuf man neue Spitäler, neue Quarantänen, neue Gesundheitsdistrikte und behielt vom Alten nichts mehr, als höchstens die sonst so verachteten Hausmittel. Nun, die moralische Cholera ist da: jeder Winter z.B. in Berlin bringt die sittliche Brechruhr, nicht etwa sporadisch, sondern so allgemein, dass die Gefängnisse keinen Platz haben. Guter Gott, man vermehrt die Zahl der Nachtwächter und Gensdarmen, die Bürger treten zusammen und bilden unter sich eine Sicherheitsgarde. Einer sperrt sich ab gegen den andern und der Störer dieses atomistischen Staates wird unschädlich gemacht. Wenn eine solche Politik von der Not des nächsten Augenblicks geboten wird, so muss man sie gelten lassen; erhebt man aber ihren praktischen Wert zu einer theoretischen, dauernden Bedeutung, so fragt man billig, ist die christliche Welt darum achtzehnhundert Jahre alt geworden? Gibt es keinen Ausweg, die Verbrechen schon im Keime zu ersticken? Ist der Staat immer und ewig nur ein Konglomerat von Egoismus, in dem sich nur der lauter, rein und glücklich erhält, den gleich bei der Wiege die holde Gunst des Zufalls angelächelt hat?

Neulich hat ein Geistlicher an einem vielbesprochenen Grabe ein herrliches Wort gesagt. Die Leiche des im Duell gefallenen Herrn von Göler in Karlsruhe wurde bestattet und der Geistliche, der keinen Beruf hatte, dieser Leiche so zu schmeicheln, wie es die Zeitungen getan hatten, äußerte in seiner würdigen Rede, als er vom Duell sprach: Er müsste für das Christentum erröten, wenn er bedachte, dass der milde Geist der Christuslehre noch so wenig in die Menschheit eingedrungen wäre, um nicht Vorkommnisse, wie jenen Streit, für immer unmöglich zu machen. Er sagte: Erröten! Der Geistliche, ein frommer Diener des Wortes, errötete für die geringe Wirkung seiner Lehre. Errötet wohl ein Beamter für den Staat, der ihn besoldet, ein Minister für die Lappalien, die er in seinem Portefeuille einschließt, erröten unsere Richter für die Verbrecher? Nein. Höchstens der arme Knecht zittert, der die Delinquenten abtun muss. Was nennen sie denn noch im 19. Jahrhundert Politik? Was konservieren denn unsere großen Staatsmänner nur als sich? Wie ist es möglich, dass durch diese Politik der Bürokratie, der Edikte, der Verbote, der Allianzen, Paraden, Gleichgewichtsinteressen usw. ein Lichtstrahl jener wahrhaft konservativen Politik dringen kann, die vor allen Dingen den Menschen dem Menschen bewahrt? Bettina erhebt sich, wenn sie auf dieses Gebiet kommt, zur Seherin, zur Prophetin. Sie richtet an den König, dem sie ihr Buch gewidmet hat, so hinreißende, so feurige Apostrophen, dass es rührend ist, wenn man sich sagen müsste, der Brief ist unsterblich, aber er wird seine irdische Adresse verfehlen.

Wer im zweiten Band jede Behauptung der Frau Rat wörtlich verstehen wollte, bewiese nur, dass er zu den Langweiligen gehört. Kein Langweiliger hat Sinn für den Humor. Humoristisch ist aber ein großer Teil der sittlichen Revolutionen zu verstehen, die die kühne Opponentin mit den Verbrechern zu stiften vorschlägt. Es ist ihr wahrhaftig nicht darum zu tun, einen Räuberhauptmann zum Feldherrn, einen Schinderhannes zum Kriegsminister zu machen, sondern sie beklagt in greller, ihr eigentümlicher Ausdrucksweise, dass das Kapital von Mut, Schlauheit und Standhaftigkeit, was von den Verbrechern konsumiert wird, nicht auf edlere und dem Gesamtwohl nützliche Zwecke verwandt wird. Die Dialektik dieser Beweisführung ist teils Überzeugung, teils Neckerei. Es ist durchaus ein platonisch-sokratischer Geist, der die kunstvollen Gespräche belebt, mit dem Scharfsinn und dem hohen Fluge der Divination zugleich gepaart, jene sokratische Ironie, die scherzend die schon gefangenen Vögel der Gegenpartei wieder flattern lässt, um sie nach kurzer Freiheit wieder aufs neue einzufangen. Fast im schäumenden Übermaß dieser Ironie sind die „Gespräche mit einer französischen Atzel“ geschrieben. Hier ist selbst die Frau Rat die überflügelte. Der schwarze Vogel auf dem Ofen mit seinen klugen Augen, seiner kecken Federhaube auf dem Kopfe, scheint ein verzauberter Höllenbote zu sein. Der kleine Spitzbube wettert und schimpft wie ein Kapuziner, der nicht dem Himmel, sondern dem Teufel dient. Er möchte, dass die ganze Welt des Teufels wäre und schwätzt die Dinge, die oben stehen, kopfüber nach unten und umgekehrt. Es wird nicht an Leuten fehlen, die die Elster beim Wort nehmen und ihre wilden Plaudereien als bare Blasphemie an die geistlich-weltliche Hermandad denunzieren werden. Bettina wäre mit der phantastischen Lyrik ihrer Seele humoristisch genug, für die Atzel aufzutreten und sie zu verteidigen, wie einst auf einem Konzil sogar die Heuschrecken ihren Anwalt fanden. Verschluckte einst eine Ratte eine Hostie und verrichtete Wunder, warum soll der Teufel nicht in eine Atzel fahren? Die Polemik, die nächstens die evangelische Kirchenzeitung gegen diese Atzel eröffnen wird, wird sehr komisch sein.

Das ausgezeichnete Werk behandelt aber zu ernste Fragen, als dass es komisch schließen dürfte. Es schließt mit dem Septimenakkord des tiefsten Schmerzes, es schließt erschütternd, herzzerreißend, tragisch. Wessen Auge über dieser Schilderung des Elends im Berliner Voigtlande verweilen kann, ohne in Tränen zu schwimmen, der muss ein Herz von Marmelstein haben. Bettina teilt die Aufzeichnungen eines edlen Menschen mit, der in dem sogenannten Berliner Voigtlande die von der Armut bewohnten Häuser durchwanderte, an die Türen pochte, eintrat und sich nach den bittern Lebensumständen, die hier zusammengepfercht sind, gründlich erkundigte. Die Namen sind genannt, die Türen bezeichnet, hier hört jede Fiktion auf. Tausende von Menschen leben hier in Hunger und Kummer, schlafen auf Stroh, stündlich gewärtig, ausgepfändet und auf die Straße geworfen zu werden mit Greisen und Säuglingen, im ewigen Kampf, entweder zu hungern oder zu betteln oder aus Verzweiflung zu stehlen, gehetzt von der Polizei und verlassen von jener Behörde, die ihr nächster Schutz und Schirm sein sollte, der städtischen Armendirektion. Für die Mitteilung dieses Gemäldes verdient Bettina den Dank jedes fühlenden Herzens. Jede Träne dieses Bildes wiegt die kostbarsten Brillanten einer stilistischen Phantasie auf; dieser echte, lebenswahre Murillo steht höher als jede idealische Transfiguration. Es kriecht Ungeziefer durch diese Farben, aber die Farben sind echt und der Fürst, dem sie ihr Buch widmete, hat in dem Augenblick, als er diese Schilderung las, sicher einen Hofball abbestellt, sicher die Zurüstungen eines glänzenden, nur Staub aufwühlenden Manövers auf die Hälfte des angesetzten Etats reduziert. Denn nicht die Armut allein durchschneidet hier unser Herz, nein, auch die Schilderung der Tugenden, die noch in der Verzweiflung dieser Menschen nicht erstorben sind, die Schilderung einer hochherzigen Anhänglichkeit an das Vaterland und den Fürsten, die sich selbst in diesen Lumpen noch erhalten hat. Eine arme Bettlerin überbrachte der Ordenskommission (fünf Orden), die ihr gestorbener Mann im Freiheitskriege erworben. Die Ordenskommission gab ihr ein für alle Mal fünf Taler (kaum den äußern Wert der Dekorationen) und nun hungert sie. Wenn auch die hohen freisinnigen Philosopheme der kühnen Frau, die dieses Werk geschrieben, von den Menschen, die sie in dem (Pfarrer) und dem (Bürgermeister) treffend charakterisiert hat, verworfen werden, von diesem Anhang kann man nicht glauben, dass er spurlos vorübergehen wird. Nicht nur, dass die Berliner Armendirektion, eines der unpopulärsten Institute der Residenz, einer gründlichen Reorganisation unterworfen werden muss, auch die höhere, den ganzen Staat umfassende, ja ich nenne sie die (kommunistische) Frage: was soll geschehen, um den Menschen dem Menschen zu retten, das Band der Bruderliebe wieder anzuknüpfen und einer unheilschwangern, furchtbar drohenden Zukunft vorzubeugen? Diese Frage wird um Antwort drängen und die Antwort wird nicht in Phrasen, nicht in Almosen, sondern in durchgreifenden Schöpfungen bestehen müssen. Und der edlen Frau, die diese Frage dicht an den Stufen des Throns aufwirft, auf dem Parkett der eximierten Gesellschaft, unter Luxus, sybaritischer Indolenz und transzendentaler, nichtsnutziger Nasen- und Bonzenweisheit, dieser edlen Frau steht der bescheidene Feldblumenkranz eines solchen Verdienstes prangender, als weiland ihre schönsten Blumenkronen aus der Periode ihrer romantischen Naturmystik.

Mit beklommener Erwartung sehen alle die, welche von dem Buche ergriffen wurden, nun auf den, dem es gewidmet ist. Numa Pompilius hatte seine Egeria, eine geheimnisvolle Sybille, die ihm die Weisheit lehrte, mit der er Rom aus einem Räuberstaate zu einem geordneten Gemeinwesen erhob. Der König von Preußen wird Bettinen nicht zu seinem ersten Minister machen, aber er hat ihr Buch in der Handschrift durchblättert, er hat die Widmung gestattet und es mit seinen tausend zensurwidrigen Freiheiten vorweg gegen die Verfolgung der Polizei in Schutz genommen. So darf Deutschland und Preußen insbesondere hoffen, dass von der mächtigen Beredsamkeit einer Feuerseele, die hier im Namen der Zeit wie eine Prophetin am Wege ihn angesprochen, wenn nicht ein begeisternder Funke, der zur Tat zündet, doch eine warme Erregung, die Schonung und Duldung übt, in ihm zurückgeblieben ist.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Berlin - Panorama einer Weltstadt