Ludwig Tieck und seine Berliner Bühnenexperimente (1843)

Es bestätigt sich denn wirklich, dass nach des Sophokles „Antigone“ nun des Euripides „Medea“ die Ehre hat, vom Königl. Hoftheater in Berlin zur Darstellung angenommen und zu demnächstiger Aufführung bestimmt zu sein. Als den Urheber dieses Planes bezeichnet man ziemlich einstimmig den geh. Hofrat Tieck. Mendelssohn ist bereits daran, die Chöre zu instrumentieren. Die Philologen freuen sich schon auf die gelehrten Abhandlungen, mit denen sie die Spalten der Berliner Zeitungen werden füllen können.

Die ästhetische, lebendige, durch und für die Zeit lebende Kritik kann aber in diese Freude nicht einstimmen. Im Gegenteil muss sie dieses pseudoartistische Treiben mit gerechtem Unwillen erfüllen. Sie muss es unerschrocken aussprechen, dass die Vergeudung der Kräfte, die eine solche scheinbare Wiederbelebung des verfallenen Staubes alter Zeiten kostet, eine unverantwortliche Beeinträchtigung der Gegenwart ist. Ja, nicht nur eine Beeinträchtigung, sondern eine Beleidigung der Gegenwart.


Tieck missachtet unsere Zeit. Er mag sich in dieser gehässigen Gesinnung gegen sein Jahrhundert gefallen, wo er will, in seinen Dresdener Leseabenden, unter den Eichen von Sanssouci, überall, nur nicht da, wo er durch seinen Einfluss der Gegenwart ihr lebendiges Recht, das Recht des Lebens, entzieht. Ja er mag auf einem Privattheater alle Dramen von Äschylus bis Holberg nach seinen Angaben vorführen lassen, nur eine dem Volk, eine der Zeit und ihren Rechten angehörende Bühne sollte vor dem Schicksal bewahrt sein, das Opfer dilettantischer Liebhabereien und literarhistorischer Proteste gegen die Mitwelt zu werden. Ist Herr v. Küstner schwach genug, sich freiwillig, aus Kassenzweck, solchen Chimären, die seinem dramaturgischen Bildungsgange gänzlich fremd, hinzugeben,--so ist dies schlimm. Ist sein Einfluss so gering, dass er unfreiwillig der gehorsame Diener der ihm angedeuteten Wünsche sein muss,--so ist es noch schlimmer.

Das Mittel, welches Ludwig Tieck ergreift, um unserer Zeit seine gründliche Verachtung zu erkennen zu geben, ist ein dilettantisches Experiment, welches, auf Sand gebaut, einen Nutzen für Kunst und Literatur nie und nirgends bringen kann. Wird uns „Antigone“ bessere Liebhaberinnen, wird uns „Medea“ bessere tragische Mütter bringen? Bedürfen wir in einer Zeit, wo es der Schauspielkunst gerade an der Wahrheit der Natur und den unmittelbaren Affekteingebungen gebricht, jambenkundige Verssprecher und Verssprecherinnen? Bedürfen wir zur Belebung des Sinnes für höheres Schauspiel solcher Hilfsmittel, die, überwiegend von der Musik unterstützt, durchaus ein für das rezitierte Drama nur zweideutiges Ergebnis erzielen können? Ist die Weltanschauung der antiken Tragödie eine erhebende für das Christentum, eine belehrende für den modernen Dichter, der ein ganz anderes Fatum zu schildern hat, als das blinde, hoffnungslose, starre antike? Werden Dichter, Schauspieler und Publikum sich durch solche aus der Luft gegriffene Mittel bessern, vervollkommnen, veredeln?

Ich höre, ein derlei praktischer Nutzen würde auch mit den Zitierungen jener klassischen Gespenster gar nicht bezweckt. Nun denn, so sei es die Sache an sich, so sei es das reine Experiment des Literarhistorikers, der befriedigte Gusto des artistischen Gourmands. Dann muss man herzlich die Täuschung bemitleiden, in welcher sich jeder befindet, der diese von Lampen erhellte, im Zimmerraum eingeschlossene und von moderner Musik unterstützte Tragödie für die griechische der alten Welt halten kann. Deckt das Dach einer Reitbahn ab, hebt die Parkett- und Parterreplätze für den tanzenden Chor auf, gebt etwas, das ungefähr aussieht, wie die Ruinen alter Theater in Rom und Sizilien, und wir wollen unsere Gymnasiasten klassen- und cötusweise in eure antiquarischen Spielereien führen! Das, was uns da als des Sophokles „Antigone“ und als des Euripides „Medea“ gegeben wird, ist aber auch nicht die Sache an sich, ist nicht eure unschuldige Gelehrsamkeit, nicht eure harmlose Freude am Gewesenen. Nein, einen Wechselbalg schiebt ihr uns unter mit ganz offen polemischer Tendenz. Ihr lügt dem Publikum ein Kunstgenre vor, das nie existiert hat, als in eurer Eitelkeit, eurem Hasse gegen die Gegenwart, die das Unglück hat, jünger zu sein als ihr! Um von den „Götzen des Tages“ abwendig zu machen, erfindet ihr falsche Götter, Götter, die nie existiert haben, Herön bei Lampenlicht, Ölgötzen, Ödipe mit Souffleur- kastenbegeisterung, Kreons, die auf Abgänge spielen, Chöre, die sich auf den Kontrapunkt verstehen! Lüge ist euer Beginnen, Zwitterwesen, luftige Seifenblase, aus Tonpfeifen erzeugt! Schämt euch, so eure Zeit zu betrügen und die Kunst zu hintergehen.

Der Grundzug der ganzen literarischen Laufbahn Tiecks ist die Frivolität. Frivol nenn’ ich alles, was Maschine ist und sich für Organismus ausgibt, alles, was Luft ist und Erde sein will, alles, was Willkür ist und den Schein der Notwendigkeit annimmt. Nie ist Tieck über das belletristische Prinzip hinausgekommen, nie durchgedrungen zur sittlichen Idee aller Kunst. Nie war ihm etwas anderes heilig als die Form; Inhalt war ihm lästig, Ernst drückend, das Erhabene nur willkommen, wenn es möglicher- weise in den Scherz umschlagen konnte. Wer ließe ihn nicht in dieser seiner Art gewähren? Er sei, er bleibe ironisch, aber die Ironie hat ihre Grenzen. Die Ironie hört auf, wo die Tendenz beginnt. Wir meinen unter Tendenz nicht irgendeine Pedanterie der Wissenschaft oder eine Tyrannei der Kunst, wir meinen jene Tendenz vom Willen zur Tat, vom Mittel zum Zweck, vom Anfang zum Ende. Sei ironisch im Sommernachtstraum deiner Häuslichkeit, deiner Novellen, sei ironisch unter den Puck- und Trollgeistern, die dich im grünen Waldrevier deiner Talente bewundern und bedienen--aber lass vor den heiligen Räumen des Ernstes deine Schelmenkappe zurück: Geschichte, Moral, Volksbildung, Kritik und die Bühne, was sie jetzt ist, die Bühne als Träger und Organ höherer Sittlichkeit: das sind Begriffe, in welcher die Ironie wenigstens nicht als Regulator auftreten darf.

Blickt man auf Tiecks literarische Laufbahn zurück, so muss sich unwillkürlich die Stirne runzeln. Was sieht man? Einen regen, berufenen, reichausgestatteten Geist, der von seinen Gaben keinen Gebrauch zu machen weiß, wenigstens keinen, der über einige heitere und witzige Schriften hinausging. Das Theater schien sein nächster Beruf. Er wäre gern Schauspieler geworden und würde in dieser Laufbahn, von der ihm Schröder abriet, vielleicht Großes geleistet haben. Er persiflierte in seinen unaufführbaren Komödien Iffland, ohne auch nur die Spur eines Ersatzes für ihn geben zu können. Er und seine Genossen, die Schlegel, machten Richtungen lächerlich, von denen sie später eingestehen mussten, dass sie noch lange nicht so verderblich waren, wie die ohnmächtigen romantischen Produkte, über welche Tieck in seinen spätern dramaturgischen Blättern berichten musste. Aus Verzweiflung, dass „Ion“, „Alarcos“, „Oktavian“ usw. für die persiflierte Richtung keinen Ersatz boten, warf man sich auf Calderon, Shakespeare, Goethe, die man wiederum so überpries, dass sich zwischen Altem und Neuem förmlich eine unüberschreitbare Kluft öffnete und der Begriff des Klassischen ins Ungeheuerliche, schier Anbetungswürdige erstarrte. Tieck, der das zu allen Perioden seines Lebens Neue nur immer tadeln, das Alte aber überschwenglich nur loben konnte, Tieck hat bei unleugbar reichen Mitteln, bei unleugbarer Bühnenkenntnis, nicht ein einziges Bühnenstück schreiben können. Nicht ein Trauerspiel, nicht ein Lustspiel, vom Schauspiel zu schweigen, das diese romantische Koterie nicht auf die unbesonnenste und noch jetzt, für jeden Produzierenden gefährlichste Weise in Verruf gebracht hat. Bei so viel Witz, bei so viel dramatischer Routine nicht ein Lustspiel! Freilich muss das Bewusstsein solcher Ohnmacht an dem ehrgeizigen Manne nagen und ihn gegen seine Zeit so missstimmen, dass er sich lieber in die antike Bühne wirft, als frei und tüchtig der Gegenwart Rede zu stehen....

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Berlin - Panorama einer Weltstadt