Abschnitt 1

Die Geschichte der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in den einzelnen Hauptrepräsentanten dieser Zeit, den Fürsten, den Städten und der Ritterschaft, vermag mehr, als die Geschichte jeder andern Zeit, den eigenthümlichen Entwickelungsgang des deutschen und skandinavischen Nordens aufzuhellen; namentlich ist es das Leben der sogenannten Vitalienbrüder, 1) Vgl. Voigt a. a. O. S. 41. Die Begebenheit kann wohl nicht "gegen den Ausgang des Jahres 1394" geschehen sein, da die Messe für die Errettung Johannis im Mittensommer 1394 gestiftet ward.
welches uns tiefe Blicke in jene bewegte Zeit gönnt, wenn man die einzelnen Ereignisse, Perioden und Personen scharf von einander sondert und beleuchtet. Namentlich ist es von der höchsten Wichtigkeit, die einzelnen Personen, welche in dem ungewöhnlichen Schauspiele wirken, klar zu erkennen. Wir können daher der Darstellung Voigts nicht ganz beistimmen, wenn er das Treiben der Vitalienbrüder aus allgemein menschlichen Neigungen, der Liebe der Meerstrandsbewohner zum Seeleben und dem Reize dieses Lebens, zu entwickeln sucht; vielmehr glauben wir in der Geschichte der Vitalienbrüder bedeutende politische und sociale Elemente zu erkennen.

Die wendischen Hansestädte entwickelten sich unglaublich rasch zu einer unerhörten Macht und Bedeutsamkeit; es war kaum ein Jahrhundert seit ihrer Gründung vergangen und schon gehörten sie zu den bedeutendsten Mächten des Nordens. Das erste Zeichen ihrer Bedeutsamkeit lag in der Abschließung des rostocker Landfriedens vom 13. Juni 1283, des ersten großen Bündnisses zwischen den Fürsten und Städten, und in Folge dessen im J. 1291 die Brechung der lauenburgischen und ratzeburgischen Raubschlösser. Im Gegensatze zu der Macht der Städte entwickelte sich jetzt dennoch immer mehr das Ansehen der Ritterschaft, theils aus innerer Kraft, theils aus dem Kampfe gegen die Fürstengewalt und die Städtemacht. Die Städte griffen aber schon im Anfange des 14. Jahrhunderte zu übermüthigen Handlungen über, während innerhalb ihrer Mauern die Revolution einer zügellosen Demokratie aufloderte. Da erhielt Meklenburg einen Fürsten, der fast das ganze 14. Jahrhundert hindurch alle Gewalten des Nordens in gleicher Waage hielt: Albrecht der Große (1329-1370), der Landfriedensstifter, vermochte es durch seine Klugheit, sein Ansehen und seinen gewaltigen Einfluß, die ganze Maschine in der strengsten Ordnung zu halten; durch unmittelbar fortgesetzte Landfriedensbündnisse 2) Vgl. Voigt a. a. O. S. 41. Die Begebenheit kann wohl nicht "gegen den Ausgang des Jahres 1394" geschehen sein, da die Messe für die Errettung Johannis im Mittensommer 1394 gestiftet ward.
seit dem großen norddeutschen Landfrieden von Lübeck vom 11. Januar 1338 verwirklichte er in den deutschen Ostseeländern ein Leben, wie es sich wohl selten geregt hat. Von dieser Seite steht Albrecht unübertroffen da. Die Städte gelangten zu einem Glanze, der uns noch heute Bewunderung abnöthigt: alle die erhabenen und herrlichen Bauten, die uns noch jetzt in Erstaunen setzen, stammen aus seiner Zeit. Handel und Gewerbe, und in Folge dessen Reichtum, blüheten üppig empor und die Gesetzgebung entwickelte sich in freier Bewegung mit Tiefe und Nachdruck. Albrecht schützte vor allem die Städte und stützte seine ganze Macht auf sie, wie sie wiederum sich ihm ganz hingaben. Vorzüglich durch ihren Einfluß gelangte sein Sohn Albrecht im J. 1363 auf den schwedischen Königsthron und erhielt sein Enkel Albrecht die Aussicht auf die dänische Krone.


Albrecht der Große starb nach einer fünfzigjährigen, ruhm- und segensreichen Regierung im J. 1379, und mit seinem Scheiden floh der Engel des Friedens aus dem Lande. Die Ritterschaft, auf den Glanz und den Einfluß der Städte eifersüchtig und der Segnungen des Friedens müde, fing an, von dem damals geltenden Fehderechte oft eigenmächtig und ungerechter Weise Gebrauch zu machen; die Städte, auch die Landstädte, der Plackereien ungewohnt, griffen zu den Waffen und übten oft harte Selbsthülfe und Gewalt.

Zwar suchte Albrecht's ältester Sohn Heinrich dem Unwesen zu steuern und führte das Schwert der Gerechtigkeit nicht umsonst: er ließ jeden Gewalttätigen ohne Ausnahme und ohne Gnade henken und soll oft selbst auf den Landstraßen die Schlinge um den Hals der eingeholten Verbrecher geworfen haben, weshalb er auch der Henker genannt wird; aber seine unerbittliche Strenge that nicht gut, und der Tod raffte ihn schon im J. 1383 dahin.

Schon während dieser Zeit erblicken wir den nordischen und norddeutschen Adel, durch die Verbindung mit Schweden an das Seeleben gewöhnt, öfter auf dem Meere und hier nicht selten das Gewerbe der Seeräuberei treiben; der Adel übertrug sein Fehdeleben vom Lande auf die See. Die Eifersucht des Adels gegen die Städte war ohne Zweifel die Veranlassung zu dem feindlichen Benehmen des Adels zu Lande und zur See und namentlich zu der ungewohnten Erscheinung, daß der Adel auf See ging. Die lübische Chronik von Detmar, herausgegeben von Grautoff, I, S. 373, sagt bei der Beschreibung der Feste nach der Befreiung des Königs Albrecht ganz klar:

In dem vastelavende dessulven iares 1396 do helt de koning van Sweden enen groten hoff to Zwerin. – – In deme hove was grot vroude unde hoverent, als de wise is in vorsten hoven; ok wart dar vele quades betrachtet up der stede arch, also men dat wol na bevant.

Nach Heinrich's des Henkers Tode war Meklenburg sehr übel berathen. Die im Lande residirenden Fürsten waren theils zu alt, theils zu schwach, theils zu jung, um das Staatsruder zu lenken, und der König Albrecht von Schweden war zu kraftlos, um sich gegen innere und äußere Feinde behaupten zu können. Er verlor in der Schlacht von Axenwalde am 24. Febr. 1389 Krone und Freiheit an die Königin Margarethe von Dänemark und mußte seine politische Leichtfertigkeit bis zum Sept. 1305 mit dem Verluste der Freiheit büßen.

Die Befreiung des gefangenen Königs Albrecht war nun mehrere Jahre hindurch die Losung zur allgemeinen Bewegung in Norddeutschland; theils war es das eigene Interesse, da die Seestädte ihre wichtigsten, kaum erworbenen Handelsprovinzen und die Ritter einen glänzenden Hof verloren hatten, theils war es politische Begeisterung für die deutsche Monarchie, die im Norden eine Zeit lang so glänzende Eroberungen gemacht hatte, welche eine seltene, allgemeine Erhebung hervorrief. Noch war nicht Alles verloren: dem Könige Albrecht war die Hauptstadt Stockholm treu geblieben, wo seines verstorbenen Bruders Magnus Sohn, der junge Herzog Johann, die königliche Regierung fortführte, jedoch von der Königin Margarethe belagert war. Der greise Herzog Johann von Meklenburg-Stargard, der Vaterbruder des Königs, der sich der Regierung der verlassenen meklenburgischen Lande angenommen hatte, suchte auch in Schweden zu retten, was möglich war: er unternahm zwei Male einen Seezug, um Stockholm zu entsetzen, beide Male ohne Erfolg.

Da griffen die Seestädte Rostock und Wismar zu dem letzten Mittel, den dänischen Feind zu vernichten, nämlich ihn durch ein Uebermaaß kleiner Plackereien und Ueberfälle zu entkräften. Noch war die politische Begeisterung wach und bei allen Ständen die Neigung lebendig, den durch ein Weib an Meklenburg verübten Schimpf auszulöschen. Die Städte Rostock und Wismar gaben im J. 1392 Kaperbriefe aus, d. h. sie verkündeten allen Partheigängern, die sich auf eigene Gefahr gegen die drei nordischen Reiche ausrüsten wollten, Sicherheit für ihre Schiffe und die von ihnen geraubten Güter. Alsbald wimmelte die See von Kaperschiffern, die mit herzhaften, kühnen Gesellen bemannt waren und jedes Schiff aufbrachten, das nur einigermaßen mit den nordischen Reichen in Verkehr zu stehen schien; gegen Lübeks Flagge war die Kaperei nicht weniger gerichtet, da man Lübek eines heimlichen Einverständnisses mit der Königin beschuldigte und man, wohl nicht ganz mit Unrecht, annahm, daß diese Stadt besondere Verbindungen mit Skandinavien anknüpfen wollte. Diese politischen Freibeuter bildeten "bald unter einem neuen Namen eine politisch anerkannte Macht." Man nannte sie Vitalienbrüder 3) Vgl. Voigt a. a. O. S. 41. Die Begebenheit kann wohl nicht "gegen den Ausgang des Jahres 1394" geschehen sein, da die Messe für die Errettung Johannis im Mittensommer 1394 gestiftet ward.
, weil sie zunächst besonders das belagerte Stockholm mit Vitalien, d. i. Victualien oder Lebensmitteln, versehen wollten: "Vitalien" ist in alter Zeit eine bekannte und allgemeine Form der Benennung für Lebensmittel; man nannte sie auch Likendeler, d. i. Gleichtheiler, weil sie die Beute unter sich zu gleichen Theilen theilten. Diese Vitalienbrüder waren in den ersten Jahren nur "ordentliche Kriegsleute", welche zur See den Krieg eben so führten, wie er damals zu Lande geführt zu werden pflegte: das Hauptgeschäft im Kriege war die Dörfer niederzubrennen, das Gut zu rauben, Menschen als Gefangene und Vieh als Beute wegzutreiben, freilich unterschied sich diese Art Kriegsführung von Räuberei nur dadurch, daß sie offen und von ehrlichen Leuten und so lange geschah, als die Fehde angesagt und noch kein Friede geschlossen war. So lange also der Krieg mit Schweden dauerte, waren diese Züge der Vitalienbrüder nach damaligen Ansichten ganz in der Ordnung. In Detmar's lübischer Chronik, herausgegeben von Grautoff, werden die ersten Vitalienbrüder ganz treffend geschildert:

In demsulven iare 1392 warp sik tosamende en sturlos volk van meniger iegen, van hoveluden, van borgeren ute velen steden, van amptluden, van buren, unde heten sik vitalienbroder. Se spreken, se wolden teen up de koninghinnen van Denemarken t o hulpe deme koninghe van Sweden, den se hadden gevangen, ene los to ridende, unde nemande nemen scolden noch beroven, sunder de dar sterkeden de koninghinnen mit gude edder mit hulpe. So bedroweden se leider de gansen see unde alle koplude unde roveden beide uppe vrunt unde viande, also dat de sconesche reise wart nedderlegget wol dre ioar.




1) Wir besitzen über die Vitalienbrüder eine neuere, umfassende Darstellung von Johannes Voigt in Fr. v. Raumer historischem Taschenbuche, Neue Folge, II, 1841, S. 1-159.
Gleich darauf sind noch schätzenswerte Beiträge geliefert über Klaus Störtebeker von Laurent und Lappenberg in der Zeitschrift des Vereins für hamburgische Geschichte, II, 1, 1842, S. 43-99.
2) Vgl. Albrecht der zweite, Herzog von Meklenburg, und die norddeutschen Landfrieden, von G. C. F. Lisch, 1865, und Jahrb. VI. S. 1 flgd., S. 49 flgd., S. 281.
3) Die Handlungen der Vitalienbrüder sind weitläuftig beschrieben in Reimar Kocks Chronik, im Auszuge gedruckt in den lübischen Chroniken, herausgegeben von Grautoff, I, S. 493 flgd.; jedoch leidet die Darstellung dieses Chronisten etwas an zu allgemeiner Auffassung der Seeräuberei.