Das Berufen von Brief und Siegel

In diesem Zusammenhang seien die Tötbriefe auf Grund der Berufung von Brief und Siegel besprochen; es war dies die einzige Art von Schriftstücken, die von einer jüdischen Behörde herrührend, allgemein gültige Zeugniskraft in sich schloss.

Die Berufung war vermutlich von der für die christliche Bevölkerung Österreichs erteilten Bestimmung ausgegangen, bei Antritt einer Erbschaft öffentlich in den Hauptsynagogen des Landes (Wien, Wiener-Neustadt, Krems) die Juden zur Anmeldung ihrer Forderungen innerhalb Jahresfrist bei sonstigem Verlust der Ansprüche aufrufen zu lassen. Die Berechtigung zur öffentlichen Berufung war in Wien im Verlaufe des 14. Jahrhunderts an die Hofschranne übergegangen, jedoch dergestalt, dass die Aufforderung zur Anmeldung von Forderungen sich auf die Gesamtbevölkerung erstreckte. Als Ursache für die Berufung ist nunmehr der Wunsch des Auftraggebers, Übersicht über seine Verhältnisse zu erlangen, anzusehen, so dass also der Antritt eines Erbes zwar noch häufig Veranlassung zu einer Berufung bot, aber nicht mehr wesentliche Voraussetzung war. Daneben kann die Berufung auch bei Verlust eines Siegels zur Vermeidung etwaiger Missbräuche dienen.


Für Steiermark hat Luschin Berufungen von Brief und Siegel erst seit 1426 nachweisen können. Die Berufung und die Ausstellung des Tötbriefes auf Grund derselben erfolgte von den christlichen oder jüdischen Behörden, und zwar vom Verweser in der Landschranne gegen Forderungen aller Einwohner von Steiermark, die zur Zeit des Aufrufes im Lande waren oder vom Stadtrichter gegen die Einwohner der betreffenden Stadt*) und schließlich vom Schamesch *).

*) Das hebräische Schamesch ist in den gleichzeitigen Urkunden und infolgedessen auch in modernen Geschichtswerken wenig sinnentsprechend mit Judenmesner übersetzt; der Schamesch besorgte jedoch in jener Zeit einen wesentlichen Teil der laufenden Geschäfte der jüdischen Gemeindeorganisation.

Dieser stellte nach dem Inhalte der mir bekannten Urkunden den Tötbrief für die gesamte Bevölkerung der Stadt gültig aus. *) Wenn sich christliche Auftraggeber trotz der viel weiter reichenden Rechtskraft des Tötbriefes des Verwesers um Tötbriefe der einzelnen jüdischen Gemeinden bewarben, so ist dies darauf zurückzuführen, dass Juden unter Berufung auf alte Freiheiten geltend machten, dass ein Tötbrief gegen sie nur dann in Kraft stehe, wenn die Berufung in der Synagoge stattgefunden habe. Der Vorgang, wie er sich bei Berufung durch die jüdische Behörde darstellt, war folgender: Der Schamesch, der über Verlangen eines Christen hierzu gesetzlich verhalten war, **) forderte in der Synagoge öffentlich etwaige Gläubiger des Auftraggebers auf, ihre Ansprüche gegen denselben innerhalb 30 Tagen anzumelden; die gleiche Aufforderung wiederholte er nochmals von Haus zu Haus. Nach Ablauf dieser Frist erteilte er, falls eine Anmeldung nicht vorlag,***) dem Auftraggeber einen von ihm und einem andern Funktionär, dem Kantor oder dem Judenmeister gefertigten (und fallweise besiegelten) Tötbrief in deutscher oder hebräischer Sprache, dem öffentliche Gültigkeit zukam. ****) Da es in Steiermark dem Auftraggeber anheimgestellt war (im Gegensatz zu Österreich, vgl. oben) die Berufung in jenen Synagogen vornehmen zu lassen, wo er es mit Rücksicht auf die Verhältnisse für notwendig hielt, ist es von Wert, festzustellen, dass Gregor Schurff 1429 die Berufung in den Synagogen zu Graz, Wiener-Neustadt, Judenburg, Hartberg, Voitsberg Radkersburg, Marburg und St. Veit, der Krainer Edelmann Friedrich Lamberger 1445 in den Synagogen zu Judenburg, Radkersburg, Marburg, St. Veit und Laibach vornehmen ließ.

*) An Tötbriefen, auf Grund der Berufung von Brief und Siegel, von jüdischen Behörden ausgestellt, sind mir bekannt: 1. Ein am 24. April 1427 von Schamesch und Kantor der Synagoge in Judenburg in hebräischer Sprache ausgestellter Tötbrief zugunsten des Moritz Billmer (Willmer, Weltzer). (Abgedruckt von Zahn in den „Mitt. d. Hist. Ver. f. St.“, XI, 195 ff. ; vgl. dazu Luschin, a. a. O. 64.) — 2. Acht ungefähr gleichlautende Tötbriefe zugunsten des Gregor Schurff, dessen Vater Michael Schurff und dessen Vetter Jörg Schurff mit je zwei Unterschriften. Die Briefe sind an verschiedenen Tagen Jänner-Februar 1429 ausgestellt; der in Graz erteilte Tötbrief ist als Beilage Nr. 16 abgedruckt. Handschriftlich im Schurffschen Kopialbuch im k.k. Statthaltereiarchiv in Innsbruck. — 3. Ein Tötbrief zugunsten des Edelmannes Friedrich Lamberger, gefertigt und besiegelt von zwei Juden. — Der Brief ist 1445 in Marburg ausgestellt; abgedruckt bei Valvasor, XV, 310; ebendort sind vier weitere, zweifellos ungefähr gleichlautende Tötbriefe erwähnt.
**) Mon. Habs., I. Abt. 2, S. 930 Nr. 1305. Friedrich III. an die Juden 1478: . . . daz ir in (einen genannten Auftraggeber) dann solh beruffung der bemelten brief und sigl durch der Juden mesner als sit und gwonhait ist allenthalben in den judenschulen berublich tun lasset, auch bestellet daz im ain yeder judenmesner durch den er solh beruffung ain kuntschaft und geschrift gebe . . .; vgl. dazu auch den ebendort enthaltenen Brief des Kaisers an seine Beamten.
***) Im Falle eines Einspruches, der mir jedoch nur gegen Berufungen, von christlichen Behörden ausgehend, bekannt ist, wurde das Verfahren entweder eingestellt (vgl. Beilage Nr. 28) oder aber unter Ausschluss der angemeldeten Forderungen für alle übrigen zu Ende geführt; bei den jüdischen Behörden ist für den erwähnten Fall ein gleiches Vorgehen anzunehmen.
****) Bei der Berufung durch christliche Behörden ergeben sich kleine Unterschiede: so unterblieb die Umfrage von Haus zu Haus; auch erfolgte die Ausstellung von Tötbriefen in der Regel erst nach vier Gerichtstagen, also frühestens in acht Wochen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Beiträge zur Geschichte der Juden in Steiermark