Unzufriedenheit in Hessen. Das diplomatische Corps.

Am 31. August traf Jerome in Cassel ein und Lerchenfeld erhielt schon Nachmittags ein Billet des Oberceremonienmeisters Grafen Bocholtz mit einem Reglement des Hofceremoniels und einer Einladung zur Audienz auf den 1. September. Lerchenfeld hatte kaum Zeit, seine Leute und Equipage in Ordnung zu bringen und die üblichen Visiten abzustatten, in Cassel war keine Wohnung zu finden und so mietete er sich in einem Waitzschen Hause (wo heute das Restaurant Germania) auf dem Wege nach dem in Napoleonshöhe umgetauften Wilhelmshöhe ein. Graf Fürstenstein, dem Lerchenfeld die Copie seiner Creditive übergab, war voll Freundlichkeit, sprach seine Freude darüber aus, dass beide Höfe gegenseitig Gesandtschaften unterhielten, und äußerte sich offen über die traurige Finanzlage, den Militärstand u. dgl. Der Creole Fürstenstein, Jeromes rechte Hand, gefiel Lerchenfeld sehr, Jerome selbst war voll Huld, sprach viel Schmeichelhaftes und die ersten Eindrücke des Gesandten waren durchaus günstig. Bald darauf reiste Jérôme nach Osnabrück, Napoleons Ankunft in Mainz beschleunigte seine Rückkehr, man glaubte, auch Jerome werde zur Zusammenkunft mit dem Kaiser Alexander von Russland gehen und Napoleon werde auf der Heimkehr Napoleonshöhe besuchen. Im Militärwesen herrschte große Rührigkeit, man sprach schon von einer zweiten Konskription und von der Absendung eines Corps nach Spanien*)**). Die erste Ständeversammlung tagte seit Juli im Orangeriepalais und war voll Anerkennung für die Leistungen Jeromes. Die Provinzialschulden wurden zu einer Generalschuld des Königreichs vereint, was natürlich bei den Departements und Provinzen, die keine Schulden hatten und nun partizipieren mussten, einige Unzufriedenheit erzeugte; die Maßregel fand jedoch die Majorität und schien auf dem Princip der Steuergleichheit begründet. Unzufriedene gab es schon damals genug im Königreiche und Lerchenfeld erzählt davon nicht selten. „Die Partei der Unzufriedenen,“ so sagt er am 19. September***), „ist im allgemeinen die, welche an der alten Regierung und am alten Kurfürsten hält; sie ist nicht zahlreich, ohne Bedeutung und nicht zu fürchten, jedoch überwacht man ihre Gesellschaften, Versammlungen und Korrespondenzen. Die Polizei hat letzte Woche eine Frau von Thümmel, geborene von Schlotheim †), fortgejagt; sie ist die Schwester desjenigen, der bei dem Kurfürsten ist“; bei ihr versammelte sich eine Gesellschaft Unzufriedener und da diese wenig Klugheit und Diskretion bewiesen und Frau von Thümmel, die nicht viel Geist hat, ohne Überlegung redete, so zwang man sie schließlich zur Abreise. Mit gleicher Rührigkeit und Genauigkeit wurde alles verfolgt, was Beziehungen zu den Fonds des Kurfürsten Wilhelm haben konnte, diese Fonds waren ein Hauptziel der Begehrlichkeit des Ministeriums; eine Kommission unter der Leitung zweier Staatsräthe betrieb die Nachsuchung nach denselben. Einige Wochen zuvor war der Agent Buderus, der für den Kurfürsten dessen Kapitalien arbeiten liess, verhaftet und in Mainz eingesperrt worden; man gab ihn nach vierzehntägigem Arreste erst frei, als er sein ganzes Vermögen, das sich auf 80.000 Thaler belaufen konnte, als Caution dafür stellte, dass er die genauesten Auskünfte über alle Kapitalien und Gelder, von denen er wisse, geben wolle. Buderus lieferte alle Bücher und Papiere, die er besaß, aus, doch ersah man daraus nichts, weil die Originale und die wichtigen Stücke dem Kurfürsten bei seiner Abreise ins Exil ausgeliefert worden waren. Man glaubte, es würde sich nicht mehr viel an Kapitalien im Lande befinden; die, von denen man wusste und die allmälig zur Kenntnis gelangt waren, wurden als dem neuen Souverän gehörig erklärt und die genauesten Nachforschungen wurden fortgesetzt.

*) Kleinschmidt, S. 123-124.
**) Depeschen Lerchenfelds an Max Joseph, 2., 10. u. 15. Sept. 1808. Bayr. Geh. St.-A.
***) An Max Joseph. Bayr. Geh. St.-A.
†) Schwester der Gräfin Hessenstein, der Geliebten des Kurfürsten; Hans Adolf von Thümmel galt den Franzosen darum als eine Art Schwager Wilhelms I., er wurde später Generallieutenant und Oberkammerherr und starb 1816.


Das Landesvermögen war ja tatsächlich in die Kassen des Kurfürsten geflossen, er ließ seine Kapitalien arbeiten und lieh sogar seinen Unterthanen Geld zu sehr mäßigen Zinsen. Das Land war arm und hatte wenig Industrie, es war apathisch bis zum Äußersten, man entbehrte alles und selbst der Reiz des Gewinns verlieh dem wenig wohlhabenden Landwirthe nur sehr wenig Tatkraft; zu diesem „lethargischen Eigensinne“ trug noch bei, dass der gemeine Mann kein Vertrauen in die Regierung des Königs Jérôme und in die Dauer des Standes der Dinge setzte. Das Casseler Publikum fühlte sich beunruhigt durch die Absicht des Hofs, die Residenz weg zu verlegen, und den Hof beschäftigten Aussichten auf Vergrößerung des Landes; es wäre nach Lerchenfelds Meinung weit klüger gewesen, wenn das Ministerium die Industrie ermutigt und das Jérôme notwendige Vertrauen befestigt hätte. Während der Kurfürst trotz seines vielbesprochenen Geizes denen, welche Häuser bauten, bedeutende Gratifikationen gab und während seine Regierung die Kosten der Pagade für Gebäude trug, welche auf in die Augen fallenden Stellen entstanden, unterließ Jérôme nicht nur solche Aufmunterungen, sondern verwies sogar die, welche bauen wollten und etwas Aehnliches reklamirten, nls Privatgläubiger an den Kurfürsten. Dies benahm natürlich das Vertrauen und den Muth zu jeder Unternehmung, man baute nur sehr wenig, obschon die Wohnungen außerordentlich teuer waren — Lerchenfeld zahlte für sein kleines unmöbliertes Haus jährlich 2.600 Thaler — , die meisten Hauseigentümer suchten ihre Häuser zu verkaufen und wollten vom Momente, den man als sehr prekär ansah, Nutzen ziehen. „War die Konskription bisher noch wenig lästig gewesen, so drohte sie es zu werden, sobald nach wenigen Jahren die westfälische Armee ihre volle Stärke, 25.000 Mann, haben musste. Bisher verhinderte der Finanzstand, dass auch nur die Hälfte komplet gestellt werden konnte; doch ging ein gut montiertes Cavallerieregiment von über 600 Mann jetzt nach Frankreich ab*); ein Infanterieregiment, das der Kaiser gefordert hatte, war noch nicht komplet und musste erst in Stand gesetzt werden. Der Finanzzustand war schrecklich, die Einnahmen genügten der Regierung bei weitem nicht, wie auch die Vorlage des Etats an die Reichsstände gezeigt hatte, die Civilliste überstieg die erforderlichen Summen wesentlich, der Hof kostete enorme Summen. Das diplomatische Corps vergrößerte sich, man erwartete von Seiten Rußlands als Gesandten den Fürsten Repnin-Wolkonski, der aber erst im Juli 1809 ankam, und einen Gesandten Neapels und in Wien sollte eine Gesandtschaft ihre Geschäfte beginnen, sobald der Friede mit Österreich befestigt wäre: schon länger war für Cassel von österreichischer Seite Graf Henricourt von Grünne bestimmt, der aber nie erschien. Nach St. Petersburg sollte Graf Wintzingerode, doch ging anstatt seiner Freiherr von dem Bussche-Hünnefeld im Januar 1809. Was kosteten diese vielen Missionen! Jérôme liebte den Prunk über alles, er hatte die glänzendsten Stallungen, fuhr nie aus ohne Garden und von mehreren sechsspännigen Karossen begleitet, war voll Freigiebigkeit und kannte keine Sparsamkeit. Eine von den Ständen bewilligte Anleihe ließ sich vorerst nicht effektuiren, verschiedene Agenten suchten in Holland und in Hamburg neue Anleihen zu bewirken, es fehlte eben der Regierung an Kredit und das Land hatte zu wenig Ressourcen; trotz aller Geschäftigkeit war bei der Neuheit des ganzen Staatswesens in den Departements noch kein solider Geschäftsgang.

*) Gemeint sind die 550 Chevauxlégers unter dem Obersten Freiherrn von Hammerstein, die auf dem Wege von Paris nach Bayonne große Indisciplin zeigten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bayern und Hessen 1799-1816.