Offenes Schreiben an Herrn Professor H. v. Treitschke

*) Es heißt in dieser Antwort u. A.:
Sie tun mir Unrecht, wenn Sie annehmen, ich halte den wenig erfreulichen Verlauf der deutschen Kolonisation in Livland und Estland für eine Schuld der Kolonisten. Ich glaube frei zu sein von jener moralisierenden Flachheit, welche große historische Katastrophen allein aus den Sünden der Menschen herzuleiten liebt. Ich habe die schweren Hemmnisse, welche der deutschen Kultur in Livland, Kurland und Estland entgegentraten, auf das Bestimmteste hervorgehoben, vornehmlich folgende drei Punkte. Die Deutschen bildeten hier eine schwache Minderheit. Sie waren wesentlich Niederdeutsche und empfingen nicht, wie ihre Landsleute in Preußen, unablässig Verstärkung durch frische Kräfte aus allen Gauen des Mutterlandes. Endlich, sie wurden nicht, wie die Deutschen in Preußen, durch eine starke Staatsgewalt geleitet, sondern es entfaltete sich von Anbeginn ein anarchisches Durcheinander ständischer Gegensätze: der Erzbischof und der Orden, Stiftsadel und Ordensadel, Bürgertum und Ritterschaft schwächten einander in sozialen Kämpfen, welche nur all zu oft zur Einmischung der auswärtigen Feinde führten. Es bleibt sicherlich eine ruhmvolle Erinnerung, dass die Deutschen trotz alledem ihre Herrschaft zu behaupten verstanden; aber die Ungunst der Verhältnisse hebt doch nicht jede sittliche Zurechnung auf. Der furchtbare Hass, der die Jahrhunderte hindurch die Unterworfenen gegen ihre deutschen Herren beseelte, kann unmöglich grundlos sein. Wenn wir noch im Jahre 1859 einen Aufruhr der Bauern Estlands erleben mussten, so scheint mir dadurch erwiesen, dass die Herren auch in jener späteren Zeit da eine Vertreibung der Deutschen ganz außer Frage stand, ihre Menschenpflicht nicht immer erfüllt haben.
Je länger ich den außerordentlichen Schwierigkeiten nachdenke, welche das Deutschtum in Livland zu überwinden hatte, desto fester muss ich die Behauptung aufrecht halten, dass die Kolonisation in Preußen von Haus aus einen anderen Charakter trug als an der Düna. Viele Schriftsteller Ihrer Heimat und auch Sie selbst nehmen an, die Germanisierung der Ostseelande sei bis zum sechzehnten Jahrhundert wesentlich gleichartig gewesen, wenn auch in Preußen erfolgreicher als im ferneren Osten; erst durch die große Russennot und die Wirren der nordischen Kriege hätten die Dinge in Livland eine unheilvolle Wendung genommen, während in Preußen unter vorteilhaften Verhältnissen das Deutschtum seine Herrschaft befestigte. Aber wo sind die Beweise? Der Orden in Preußen ging, nachdem er um 1281 den großen Preußenaufruhr niedergeworfen, mit bewusster Absicht darauf aus, die Ureinwohner auszurotten oder sie zu germanisieren, und erreichte sein Ziel. In Livland und Estland durfte die geringere Macht der Deutschen weder an die Vernichtung noch an die Verschmelzung der Eingeborenen denken; sie musste sich begnügen die Herrschaft zu behaupten. Als im sechzehnten Jahrhundert die evangelische Predigt die lateinische Messe verdrängte, stellte man in einzelnen Gemeinden des Herzogtums Preußen neben die deutschen Pfarrer Tolken, welche den „undeutschen" Bauern die Predigt übersetzen mussten; nach einigen Jahrzehnten wurden diese Dolmetscher überflüssig. Herzog Gotthard von Kurland dagegen bedurfte anderer Mittel, um den evangelischen Glauben einzuführen. Er ließ am Abend feines Lebens (1586 bis 1587) Luthers kleinen Katechismus, die Psalmen und das neue Testament „ins Undeutsche bringen". An diese Werke hat sich seitdem eine ganze Literatur lettischer Erbauungsschriften angeschlossen, und noch heute wird dem Landvolke in Livland und Estland undeutsch gepredigt. Der Gegensatz springt in die Augen: das Herzogtum Preußen war schon im sechszehnten Jahrhundert ein deutsches Land, worin sich nur vereinzelte Trümmer der altdeutschen Sprache noch behaupteten. In den drei östlichen Herzogtümern dagegen blieb die Masse des Volkes undeutsch, nur von Deutschen beherrscht, durch Deutsche für die Gesittung erobert. Dieser tiefgreifende Unterschied zwischen dem preußischen und dem baltischen Deutschtum bestand bereits am Ende des Mittelalters,; er war das Ergebnis der Ordensgeschichte. Dass die folgenden 150 Jahre für das deutsche Leben in Preußen besonders günstig gewesen seien, kann ich Ihnen durchaus nicht zugestehen. In Königsberg ein Herzog ohne Macht noch Ansehen, dazu ein meisterloser Adel, der beständig „polenzte," in Warschau und Krakau Hilfe suchte gegen den deutschen Landesherrn. Glauben Sie im Ernst, dass diese schwache Krone, dieser polenzende Adel die Germanisierung von Ostpreußen gefördert haben? Vollends im königlichen Preußen war das deutsche Element sogar noch schwerer bedroht als in Livland. Hier fand der polnische Herrscher ein erst halb germanisiertes blutsverwandtes Landvolk vor, und Jedermann weiß, wie gewaltsam der Pole die slawische Sitte wiederherzustellen wusste. Der Schutz einer kraftvollen Staatsgewalt wurde der deutschen Bildung in Westpreußen erst nach der Teilung Polens wieder zu Teil, oder richtiger: erst seit Friedrich Wilhelm I. — denn der große Kurfürst hat sich mit der preußischen Verwaltung nur wenig befassen können. Es wird dabei bleiben müssen: Altpreußen ist durch den deutschen Orden germanisiert, das jüngste Jahrhundert hatte nur das Dach zu setzen auf ein Haus, dessen Mauern schon am Schluss des Mittelalters fest standen.
Ich verkenne nicht die unvergleichlich bedrängte Lage Livlands im sechzehnten Jahrhunderte, noch die Mitschuld des Mutterlandes an dem Abfalle der Kolonie. Die Zwietracht und Schwäche des heiligen Reichs, die unselige Binnenlandspolitik der Habsburger hat an den baltischen Ländern nicht weniger gesündigt, als der Handelsneid unserer Hansestädte, die gegen Riga und Reval dieselben Künste monopolsüchtiger Handelspolitik anwendeten, welche später England mit dem gleichen Erfolge gegen Nordamerika gebrauchte. Dazu die unheilvolle Verwicklung der internationalen Verhältnisse des Nordens, die den Meistern von Preußen und Livland gemeinsames Handeln unmöglich machte. Aber dürfen wir die Schuld der Deutschen in Livland ganz übersehen? Wie Westpreußen durch die ständische Libertät an Polen verraten ward, so hat auch in Livland die ständische Anarchie der Fremdherrschaft in die Hände gearbeitet. Wie bitter hat das Ihr wackerer Landsmann Balthasar Rüssau von Reval empfunden.

Ich habe die Notwendigkeit aristokratischer Formen für die baltischen Gemeinwesen nie verkannt, sondern ausdrücklich zugestanden, dass die Rechte der ritterlichen Landtage dort das beste Bollwerk für die deutsche Sitte bilden. Aber in keinem Lande des Kontinents hat der Adel allein ein gesundes Staatsleben zu gründen vermocht, wenn nicht eine starke monarchische Gewalt ihn in Schranken hielt. Ich kann nicht finden, dass Ihre Heimat eine Ausnahme von dieser Regel bilde. Der baltische Adel hat seine Privilegien, und dadurch mittelbar auch die Eigentümlichkeit des deutschen Lebens, gegen Polen, Schweden, Russland wacker verteidigt; doch ihm fehlte ein Vaterland in jenen Jahrhunderten, da seine Söhne in den Heeren Preußens, Russlands, Österreichs, Frankreichs als Heimatlose Abenteurer dienten. Deshalb kann ich Ihnen auch nicht zugeben, dass der Adel Ihrer Heimat vor dem preußischen sich immerdar durch „einen gewissen politischen Instinkt" ausgezeichnet habe. Es war das Glück des preußischen Adels, dass eine nationale Monarchie ihn unter ihr gemeines Recht beugte, und es ist sein wohlverdienter Ruhm, dass er nach zähem Widerstande schließlich lernte, dieser monarchischen Ordnung mit Aufopferung zu dienen. Betrachten Sie die Staatsmänner und Generale Friedrichs des Großen. Ein glänzender Kreis von starken und patriotischen Männern, ein monarchischer Adel, der an sittlicher und politischer Tüchtigkeit den Hofadel der Bourbonen weitaus überragt und kaum durch den parlamentarischen Adel von England übertroffen wird. Glauben Sie in der Tat, dass diese Podewils und Hertzberg, die Winterfeldt und Ziethen nicht einmal so viel politischen Instinkt besessen hätten, wie die baltischen Ritter? Oder blicken Sie auf jenen glorreichen Königsberger Landtag von 1813, der ja zum guten Teile aus Edelleuten bestand. Wo sind die Leistungen des baltischen Adels, welche sich mit dieser Tat des preußischen „politischen Instinkts" vergleichen ließen? In Alledem liegt kein Vorwurf; eine nationale Politik in großem Stile war unmöglich unter dem Drucke einer dreihundertjährigen Fremdherrschaft.