Die deutsch-russischen Ostsee-Provinzen

Hochverehrter Herr! Der Anspruch, welchen Sie auf ein bleibendes Gedächtnis in der Geschichte der politischen Bildung des deutschen Volkes erworben haben, ist vornehmlich auf die rücksichtslose Wahrheitsliebe und die Unerschrockenheit gegründet, mit welcher Sie die Irrtümer der liberalen Schulweisheit in einer Zeit bekämpft haben, zu welcher dieselbe eine fast unumschränkte Herrschaft über die Gemüter der Gebildeten und Halbgebildeten der Nation ausübte. Sie haben in der vordersten Reihe derer gestanden, welche die preußische Fahne hoch hielten, als der Glaube an den deutschen Beruf derselben in den Herzen der Besten erschüttert war; Sie haben das Grundgesetz jeder wahren Politik, die Notwendigkeit nüchterner Rechnung mit den gegebenen Faktoren, der Anlehnung an reale Machtverhältnisse und historisch gewordene Tatsachen, unbeirrt durch das Geschrei ehrlicher und unehrlicher Doktrinäre, gepredigt, und der deutsche Liberalismus hat es zum guten Teil Ihnen zu danken, wenn ihm ein Anteil an dem großen Werk der Neugestaltung des Vaterlandes gesichert blieb, dessen erste Stadien mit dem Widerspruch der Führer des Volkes lange genug zu kämpfen gehabt hatten. Das Verdienst, welches Sie sich um unsere gemeinsame Sache erworben haben, kann von denen, welche sich zu derselben bekennen, nicht dankbarer und ehrenvoller anerkannt werden, als wenn Ihrem Beispiel gefolgt und auch zu Ihnen nicht anders als in der Sprache rückhaltloser Wahrheitsliebe und eines nüchternen Realismus geredet wird, der nichts nach den furchtsamen Lehrsätzen der Schule fragt. Erlauben Sie mir, von diesem, durch Sie selbst Ihren Verehrern eingeräumten Recht in einer Angelegenheit Gebrauch zu machen, die an und für sich kein deutsches Interesse berührt, bei der es sich aber um das Recht eines deutschen Stammes handelt, dem gleichfalls durch die liberale Doktrin Unrecht geschehen ist und dessen Geschichte Sie selbst, hochverehrter Herr, mit einer Strenge beurteilt haben, die, wie mir scheint, den Verhältnissen, welche maßgebend gewesen sind, nicht vollständig Rechnung trägt. Eine Auseinandersetzung mit den Resultaten Ihrer, in der Abhandlung „das Ordensland Preußen" niedergelegten Forschung über die deutsch-russischen Ostseeprovinzen dürfte in dem gegenwärtigen Augenblick um so notwendiger sein, als diese Provinzen zur Zeit mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, bei denen es sich um ihre gesamte Existenz handelt, und es Ihr Wille nicht sein kann, dieselben zu vermehren. Eine Verurteilung aus Ihrem Munde ist aber ganz besonders dazu angetan, den Mut der Sohne meines Vaterlandes zu schwächen, wo Alles darauf ankommt, dass ihnen bewiesen werde, das westliche Europa habe ein Verständnis für die Treue, mit welcher sie an den Traditionen der Kultur festhalten, die das heilige Erbe unserer gemeinsamen Vergangenheit ist. Wenn die Sache des deutschen Elements an der Ostsee nicht einmal vor dem unbefangenen Realismus Ihrer politischen Anschauungen bestehen kann, — wie soll dieselbe Hoffnung haben, bei denen Verständnis zu finden, welche keinen andern Maßstab für die Beurteilung abnormer geschichtlicher Bildungen haben, als die Elle der Theorie? Ihre politische Vergangenheit legt es dem Livländer, der für das gute Recht seiner Heimat das Wort ergreifen will, nahe, sich zunächst an Sie zu wenden und mit Ihrer Beurteilung zu rechten, denn er weiß, dass — wenn eine Rechtfertigung der Existenzformen seines Vaterlandes überhaupt möglich ist — Sic zu einem Verständnis derselben am ehesten durchdringen und am bereitwilligsten die Irrtümer zurechtstellen werden, welche bezüglich der vergessenen deutschen Kolonie im baltischen Norden herkömmlich geworden sind.

Gestatten Sie mir, die Bemerkungen, welche ich Ihren Ausführungen über das livländische Ordensland entgegenstellen möchte, zunächst an die verschiedenen Sätze zu knüpfen, welche sich bezüglich desselben in der Abhandlung über das preußische Ordensland (dritte Auflage der historisch-politischen Aufsätze, S. 1—68) vorfinden, und diese Sätze selbst einer nähern Betrachtung zu unterziehen. Durch eine direkte Anlehnung an ihre Anschauungen bietet sich die beste Gelegenheit, gerade diejenigen Punkte baltischer Vergangenheit und Gegenwart ins Auge zu fassen, welche deutschen Beurteilern derselben den meisten Anstoß gegeben haben und auf die es in erster Reihe für denjenigen ankommen wird, dem das Schuldmaß der deutschen Kolonisten jenes Landes minder hoch angehäuft erscheint, als Ihnen.


Die Abhandlung „das deutsche Ordensland Preußen" nimmt einen wesentlichen Unterschied zwischen der preußischen und der livländischen Kolonialpolitik an. „Preußen", heißt es am angeführten Orte, „wurde germanisiert, in Livland, Kurland und Estland lagerte sich bloß eine dünne Schicht deutschen Elements über die Masse der Urbewohner." Nach einer ausführlichen Begründung dieses Satzes heißt es weiter: „Also hat unser Volk auf enger Stätte jene beiden Hauptrichtungen Kolonialer Politik vorgebildet, welche später Briten und Spanier in den ungeheuren Räumen Amerikas mit ähnlichem Erfolg durchführten. Bei dem unseligen Zusammenprall feindlicher Rassen ist die blutige Wildheit eines raschen Vernichtungskrieges menschlicher, minder empörend als jene falsche Milde der Trägheit, welche die Unterworfenen im Zustande der Tierheit zurückhält u. s. w. Ein Verschmelzen der Eindringlinge und der Urbewohner war in Preußen unmöglich . . . Ein menschliches Geschenk daher, dass nach der Unterjochung der Herr dem Diener seine Sprache gab, ihm so den Weg eröffnete zu höherer Gesittung. Weit tiefer als die Preußen stand das Volk der Letten und Esten, vorlängst ermattet und der Knechtschaft gewohnt, sogar des Gemeindelebens nicht fähig . . . Diese wenig bildungsfähigen Völker mit deutscher Sprache und Bildung zu befreunden, war bei den anarchischen Zuständen des Landes, bei der geringen Zahl der Deutschen unmöglich. Der Sieger hält die Unterworfenen dem deutschen Wesen fern; ihm genügt es, wenn der Este den harten Frondienst, den Gehorch leistet. So erhält sich hier zähe das unberechtigte Volkstum eines Volkes von Knechten, während der preußische Bauer mit der deutschen Sprache allmählich auch die Freiheit des Deutschen gewinnt. Die Kinder schreien, die Hunde verkriechen sich, wenn der Deutsche die raucherfüllte Hütte des Esten betritt. In den hellen Nächten des kurzen hitzigen Sommers sitzen dann die Unseligen unter der Birke, dem Lieblingsbaum ihrer matten Dichtung, und singen hinterrücks ein Lied des Hasses wider den deutschen Schafsdieb . . . Jahrhunderte lang hat solcher Hass der Knechte, solche Härte der Herren angehalten; erst in der Zeit der russischen Herrschaft entschloss sich der deutsche Adel, den Bauer von der Schollenpflichtigkeit zu befreien. — An diesem Gegenbilde ermessen wir, was die Germanisierung von Altpreußen bedeutet."

Der am angeführten Orte behauptete wesentliche Unterschied zwischen der preußischen und livländischen Kolonialpolitik scheint mir an und für sich bestreitbar, — die Schroffheit aber, mit welcher er dem Gegensatz britischen und spanischen Kolonisierens verglichen wird, dürfte durch genauere Betrachtung der geschichtlichen Tatsachen kaum gerechtfertigt werden. Einmal waren die Letten und Esten zur Zeit der Eroberung Livlands weder „vorlängst" ermattet, noch der „Knechtschaft" gewohnt Nahmen sie auch eine niedrigere Stufe der Kultur ein als die alten Preußen, so gaben sie denselben an Tapferkeit und Unabhängigkeitssinn nichts nach. Insbesondere die Esten waren ein Volk von unbändiger Kraft und mannhaftem Freiheitsgefühl, als Seeräuber bis nach Schweden hinüber gefürchtet, in ihrer Heimat Niemand untertan als den selbstgewählten Häuptlingen. Die Tributpflicht gegen die benachbarten russischen Teilfürsten war weder alt noch allgemein, sie ist von den Bewohnern des nördlichen Liv- und Estlands niemals anerkannt worden und beschränkte sich auf gewisse Gegenden des Aa- und Dünatales und die nächste Umgebung Jurgews (Dorpats). Dass sie jemals in wirkliche Knechtschaft ausgeartet, kann nicht nachgewiesen werden. Der Este zeigt noch heute das Gepräge eines mächtigen, ungebrochenen Menschenschlags, und seine Poesie, weit davon entfernt, eine matte zu sein, erwärmt sich bis in die Gegenwart hinein an der kriegerischen Größe der Helden und Riesen seines Volkes. Gerade der Tapferkeit und ungebrochenen Wildheit dieses Stammes ist es zuzuschreiben, dass das Joch, welches der deutsche Herr auf seinen Nacken legte, ein so hartes war, und die unaufhörlichen, bis in das fünfzehnte Jahrhundert hinein wiederholten Aufstandsversuche waren die Hauptgründe für die beständige Erschwerung des Druckes, der auf der ländlichen Bevölkerung ruhte. Auch die klimatischen Unterschiede waren, namentlich was das südliche Livland und Kurland anbelangt, nicht so durchschlagend, dass sie eine von der preußischen absolut verschiedene Art der Besiedelung und Kolonisierung bedingt hätten. Waren die Bedingungen für die Assimilation des unterworfenen Stammes mit dem siegreichen auch in Preußen entschieden günstiger als in Livland, so haben sie doch an dem Riga’schen Meerbusen nicht vollständig gefehlt, sie bedingten nur einen langsameren Gang der Entwicklung als im Weichseltal, und dieser wurde in der Folge durch äußere Ereignisse gehemmt, die vom Willen der Kolonisten unabhängig waren und die dem preußischen Ordenslande erspart blieben.

Resultat theoretisch konstruierter Pläne ist die Germanisierung Preußens ebenso wenig gewesen wie die Nichtgermanisierung Livlands. Die Verschiedenheit der realen Verhältnisse und des Entwicklungsganges, den dieselben hüben und drüben genommen, hat verschiedene Früchte getragen. Diese Verschiedenheit scheint mir aber nicht absolut, sondern nur relativ gewesen zu sein. Die durch die größere Nähe Deutschlands und die mächtige Beihilfe bäuerlicher Kolonisten unterstützte Germanisierung Preußens war am Ausgang der Ordenszeit keine vollständige, sondern im Werden begriffen, der Anteil, welchen der preußische Bauer an der Kultur seines Herrn hatte, ein beschränkter; die Germanisierung des livländischen Ordenslandes stand weiter hinter der preußischen zurück, — aber auch für sie war der Grund gelegt. Der Gegensatz, welchen die Abhandlung über das preußische Ordensland zwischen den Zuständen Livlands und Preußens annimmt, dürfte um die Zeit der Auflösung des alten Ordensstaates kein so schroffer gewesen fein, als von Ihnen angenommen wird, und von einem andern Zeitpunkt als diesem kann am angeführten Orte nicht wohl die Rede sein. Weder war der lettische und estnische Bauer während der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts auf eine Stufe der Tierheit herabgesunken, die ihn den Indianern des spanischen Amerikas vergleichbar machte, noch war die über die Masse der Urbewohner gelagerte Schicht deutscher Einwanderer so dünn, dass sie keinerlei sittigende Einflüsse ausgeübt hätte. Als Walter von Plettenberg sein ruhmreiches und weises Leben beschloss, war ein dichtes Netz deutscher Kulturpunkte über das gesamte Land gespannt. Livland allein zählte sechzig zum Teil stark bevölkerte deutsche Städte und Flecken und die Zahl der deutschen Bewohner des Landes hatte eine Höhe erreicht, zu der sie es nie wieder gebracht hat. Die Wohlhabenheit, welcher sich alle Teile des Landes erfreuten, war so bedeutend, dass die Lage der ländlichen Bevölkerung durchaus keine bettelhafte, sondern sehr viel günstiger war, als während der folgenden zwei Jahrhunderte; die Bekanntschaft mit den nicht nur gegen Edelleute, Pfaffen und Bürger gerichteten Luxusgesetzen damaliger Zeit reicht hin, um eine Vorstellung von der relativ erträglichen materiellen Lage des Landvolks zu ermöglichen. Noch waren die Leistungen des Bauern normiert und zu seinem Besitz in ein festes Verhältnis gesetzt, und erst in Folge der russisch-tartarischen Zerstörung, welche der Auflösung der alten Verhältnisse folgte, steigerte sich der Druck der Fronen und Gehorchsleistungen bis zu der entsetzlichen Höhe, welche die Abhandlung „das deutsche Ordensland Preußen" als permanente anzusehen scheint. Nach dem übereinstimmenden Urteil aller derer, welche die Geschichte der Ostsee-Provinzen zum Specialstudium gemacht haben, war die Germanisierung der Letten und Esten in der Mitte des 16. Jahrhunderts vollständig angebahnt und nur noch eine Frage der Zeit. Die von Ihnen, hochverehrter Herr, aufgestellte Antithese, welche hüben eine gedeihliche Grundlage zur Kulturentwicklung im deutschen Sinne, drüben einen von Hause aus hoffnungslosen Zustand annimmt, antizipiert, wie ich glauben möchte, für Preußen die Segnungen, für Livland die Verwüstung und Verwilderung des folgenden Jahrhunderts; erst als diese zufolge des entsetzlichen Einfalls der wilden Horden Iwans vollbracht war, sank das baltische Land in jenes tiefe sittliche und materielle Elend herab, das Sie für eine Folge der verkehrten Kolonisationspolitik der Eroberer meines Vaterlandes ansehen. Sünden und Irrtümer dieser Letzteren haben allerdings auch vor dem Jahre 1561 in reichlichem Maße vorgelegen; das Maß von Verkommenheit, welches die Schilderungen Ihrer Abhandlung annehmen, war aber erst die Folge der blutigen Kriege, welche sich aus dem Zerfall des livländischen Bundesstaates entwickelten. Für eine billige Beurteilung der Zustände baltischer Gegenwart und Vergangenheit kann der russisch-tartarische Einfall unter Kurbsky nicht schwer genug ins Gewicht fallen; allein jenen Mongolenzügen kann er verglichen werden, welche unter Tschingischan und Batu die uralte Kultur der mittelasiatischen Länder bis auf die Spur ausgerottet hatten. Von den Städten, welche der Feind vorgefunden, war, als er wieder abzog, kaum ein Viertel übrig geblieben, die Bevölkerungszahl auf die Hälfte herabgesunken, der Viehstand auf ein geringes Minimum reduziert; was von Einwohnern den Krieg überlebt hatte, war durch die entsetzliche Not der Zeit verwildert und bis zur Bettelhaftigkeit verarmt, die Kulturarbeit von vier Jahrhunderten so gut wie verloren. Das rohe, gesetzlose Polenregiment, das jetzt folgte, war nicht geeignet, die Wunden, welche dem Lande geschlagen waren, zu heilen, sittigende Einflüsse irgend welcher Art auf Herren oder Bauern, Städter oder Landleute auszuüben. War es da zu verwundern, dass der Livländer, der sein heimisches Recht und die protestantische Kirche nur mühsam gegen den Andrang wüster Staroste und fanatischer Jesuiten zu wahren vermochte, den nicht enden wollenden Pressungen um den Rest dessen zu bringen drohten, was der Krieg übrig gelassen, — dass dieser ein finsterer und harter Herr wurde und der Zuchtlosigkeit, welche sich des unglücklichen Landvolks bemächtigt hatte, mit blutiger Strenge und unerbittlicher Härte zu begegnen suchte? Und diese Ungunst der Verhältnisse dauerte noch lange fort. Noch hatten die Russen die nördliche Hälfte Livlands nicht vollständig geräumt, so brach der schwedisch-polnische Erbfolgekrieg aus, um auf baltischer Erde ausgefochten zu werden, und erst jenseits des ersten Viertels des 17. Jahrhunderts war die schwedische Eroberung vollbracht, brach eine Zeit des Friedens und der Sammlung dessen an, was von Kräften überhaupt übrig geblieben war.

Dass das Jahrhundert zwischen der Auflösung des livländischen Ordensstaates und der schwedischen Eroberung nur Elend und Zerstörung brachte, dass während desselben kein Fortschritt im Sinne der Germanisation möglich, vielmehr ein Rückschritt notwendig war, der das Land um Jahrhunderte zurückwarf, alle Errungenschaften früherer Zeit in Frage stellte und die Rettung eines Restes von deutscher Bildung wunderähnlich erscheinen lässt, — das dürfte des Nachweises kaum mehr bedürfen. Ein Blick auf die gleichzeitige Geschichte Preußens genügt zu der Überzeugung, dass von Proben so harter Art auch nicht entfernt die Rede gewesen; aus dem 16. in das 17. Jahrhundert verlegt, gewinnt die Parallele, welche die S. 19 der Abhandlung „das deutsche Ordensland Preußen" zwischen Preußen und Livland zieht, ein unbestreitbares Recht, aber die Faktoren, welche in Rechnung kommen, haben sich innerhalb dieses Zeitraumes und zwar ohne Zutun der Livländer unkenntlich verändert. Ein Blick auf das Herzogtum Kurland, das von den Gräueln, welche Livland und Estland verheert hatten, wenigstens zum Teil verschont blieb, genügt zu dem Beweise, dass auch die nordischen Kolonisten im Stande waren, den Anforderungen der Humanität und einer gesunden Kolonialpolitik gewisse Rechnung zu tragen, wenn ihnen das durch die Verhältnisse irgend gestattet wurde. Kurland besaß keine großen Städte, kein lebenskräftiges Bürgertum, die Zahl der Deutschen war hier geringer gewesen als in den städtereichen Nachbarprovinzen; der Einfluss der polnischen Lehnsherrschaft begünstigte den Trotz eines faktiösen Adels gegen den ohnmächtigen Landesherrn, das Land war von Kultureinflüssen wohltätiger Art durch die polnische Nachbarschaft von allen Seiten gleich abgeschnitten. Und doch entwickelten sich hier die Keime eines gesunden Lebens; Herzog Gotthard ordnete das Kirchenwesen in einer für seine Zeit mustergültigen Weise, Kirchen und Schulen sorgten dafür, dass der Bauer zum Menschen wurde, und die Tradition weiß noch heute von dem Eifer zu erzählen, mit welchem der Herzog selbst an den Visitationen Teil nahm, die Bauern über die Glaubensartikel examinierte und den Ahnherrn jenes Aufsehers Jahn, von dem Hippels Lebensläufe berichten, für die tadellose Kenntnis des zweiten Hauptstücks mit einem Geschenk belohnte. Der Wohlstand der bäuerlichen Bevölkerung war trotz der Aufrechterhaltung der Leibeigenschaft so bedeutend, dass er den Vergleich mit dem preußischen Osten nicht zu scheuen hatte und dass, wie ein Geschichtsschreiber jenes Landes sagt, selbst gegen die Bettler Aufwandsverbote erlassen werden mussten. Zieht man in Betracht, dass die Herrschaft des kurländischen Adels beinahe unbeschränkt war, die Nachfolger Gotthards nur mühsam irgend welche Autorität behaupten konnten, dass das böse Beispiel des polnischen Magnatentums das einzige war, mit welchem man in Berührung kam, dass die bändigende Kraft des aufgeklärten Despotismus, dem der Bauernstand fast des gesamten Europa seine Emanzipation verdankt, in Kurland vollkommen fehlte, so wird, man die Bedeutung dieser Tatsachen, die durch die Beobachtungen deutscher Reisenden des 18. Jahrhunderts vollständige Bestätigung finden, kaum zu unterschätzen geneigt sein.

Die livländische und estländische Geschichte des siebzehnten und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist in Ihrer Schrift, hochverehrter Herr, der Natur der Sache nach nur beiläufig und in Kürze erwähnt worden; erlauben Sie mir, das Bild derselben durch einige Striche zu vervollständigen.

Die schwedische Periode brachte Livland mannichfache Segnungen: die Gründung der Universität Dorpat und verschiedener Gymnasien, die Neugestaltung der kirchlichen Verhältnisse, eine vollständige Katastrierung des gesamten ländlichen Grund und Bodens, endlich die Beschränkung der Leibeigenschaft, deren vollständige Aufhebung nur durch den nordischen Krieg verhindert wurde. Aber alle diese Wohltaten wurden in Frage gestellt, als Carls XI. Willkür die Güterreduktion auf Livland ausdehnte, fünf Sechstel aller Rittergüter einzog, dadurch den größten Teil des Adels im eigentlichsten Sinne des Wortes an den Bettelstab brachte und als derselbe König behufs bequemerer Durchführung dieses Werkes die Landesverfassung aufhob und seine General-Gouverneure zu unbeschränkten Paschas der beiden Provinzen Livland und Estland machte. Dann folgte aufs Neue ein mehr denn zwanzigjähriger Krieg; wiederum erlag ein großer Teil der Menschen und ihrer Tiere den Verheerungen der Pest, der Hungersnot und der Waffen, wiederum verschwanden blühende Städte vom Erdboden (z. B. Dorpat, dessen Bewohner in das Innere Russlands geschleppt wurden, nachdem die meisten Gebäude in die Luft gesprengt worden waren), wiederum wurde durch Jahre nicht gesät und nicht geerntet, sondern unbarmherzig zerstört, was der Fleiß des Bauern und die Sorgfalt der schwedischen Regierung mühsam geschaffen hatten. Von je fünf Landpredigern blieb einer übrig, von zwanzig Geistlichen der Stadt Riga überlebte einer die Schrecken der Belagerung von 1710; die Armut war so groß und so allgemein, dass selbst adelige Familien bettelnd von Hof zu Hof zogen und die hohen Steuern, welche Peter der Große seiner Kriegsnöte wegen erheben musste, nur durch Verkauf eines Teiles der fahrenden Habe aufgebracht werden konnten. „In diesen Jahrhunderten der Kriege", heißt es in Ihrer Abhandlung, „gelangte der baltische Adel zu seiner Selbständigkeit, ein Geschlecht, herrisch gegen die Bauern, ausgestattet mit dem Rechte der fliegenden Jagd und zahlreichen anderen adeligen Vorrechten, zähe haftend an den alten Sitten mittelalterlicher Gastfreundschaft gegen Gäste und Krippenreiter — ein Geschlecht von Deutschen freilich, doch mit einer Sprache, welche seit Luthers Tagen aller Lebenskraft entbehrt, arm und ärmer wird, mit einem geistigen Leben, das an Gustav Adolfs edler Schöpfung, der Hochschule Dorpat, kümmerlich zehrt. Als dann Peter der Große und Katharina die deutsche Pflanzung ihrem Zepter unterwarfen, da brachte die neue Herrschaft zwar den einen Segen des langentbehrten Friedens" u. s. w.

Es wird sich schwerlich nachweisen lassen, dass der baltische Adel des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts von dem Deutschlands wesentlich verschieden gewesen, wohl aber ließe sich behaupten, dass die Edelleute der baltischen Ritterschaft auch des 18. Jahrhunderts mannigfache Vorzüge vor ihren deutschen, zumal preußischen Standesgenossenschaften aufzuweisen hatten. Der Adel, welchen Friedrich Wilhelm I. und der große König bändigten, indem sie ihn in den Kriegsdienst zogen, hat in Beziehung auf Bildung und Gesittung vor dem baltischen absolut nichts voraus gehabt. Rohheit, Selbstherrlichkeit und Genusssucht waren hier wie dort heimisch, nur mit dem Unterschiede, dass in den Ritterschaften von Livland, Estland und Kurland ein gewisser politischer Instinkt übrig geblieben war, nach welchem man sich in den preußischen Adelsverbänden der Vergangenheit wie der Gegenwart vergeblich umsieht. Während die preußischen Monarchen des vorigen Jahrhunderts im Sinne der Zivilisation und Kultur vorgingen und bei dieser Arbeit im Adel — vom Heere abgesehen — kaum irgend welche Unterstützung fanden, herrschten in dem Russland des 18. Jahrhunderts mit wenigen Ausnahmen Frauen, die das Regiment in die Hände ehrgeiziger, meist unwürdiger Günstlinge legten; während dieser Epoche, in welcher der russische Staat völlig außer Stande war, etwas für die Kultur seiner Untertanen zu tun, alle Kräfte in den Dienst mit wechselndem Glück geführter Kriege zur Erweiterung der Reichsgrenzen genommen wurden, der Absolutismus sich in seinen schroffsten und unheilvollen Formen ausbildete, die Staatsgewalt für alle Fragen des inneren politischen Lebens Null war, kein Strahl von Aufklärung aus dem Kaiserpalast in die Hütte fiel, — in dieser Epoche ist es fast ausschließlich der baltische Adel gewesen, der die Aufrechterhaltung deutschen Rechtes, deutscher Sprache und protestantischer Religion in den Ostsee-Provinzen trotz zahlloser Gefahren und Hemmnisse ermöglicht hat und der Träger einer Art von Fortschritt gewesen ist. Während das Genie Friedrichs des Großen durchaus neue Grundlagen für das preußische Staatswesen schuf, in alle Verhältnisse des Lebens mächtig und neugestaltend eingriff, die Kultur des Landes tausend neuer Segnungen teilhaft machte und mit eiserner Hand jede selbständige Regung seiner Junker niederhielt, lagen die deutsch-russischen Provinzen, von den Folgen des nordischen Krieges ermattet, in einer dumpfen Apathie da, aus welcher sie von keiner rettenden Hand aufgeschüttelt wurden; die überkommenen Zustände, so elend sie waren, galten immer noch als Muster für das gesamte übrige Reich, und der Staat hatte mit dem baltischen Provinzialleben kaum andere Berührungen als die, welche durch unersättliche Steuer- und Proviantempfänger vermittelt wurden. Sich mit wahrhaft aristokratischem Sinn an die Spitze einer Reformbewegung zu stellen, war der baltische Adel, der durch Jahrhunderte nur Druck und Not gekannt hatte, allerdings außer Stande; während aber das preußische Junkertum der Aufklärungs- und Reformarbeit des großen Königs missgünstig zusah und keinen andern Beruf als den Kriegsdienst kannte, vermochte der baltische Adel doch langsam an den Zuständen seiner Heimat zu bessern und dem Hass der nationalrussischen Günstlinge, welche seit dem Sturze der Münnich und Biron in Petersburg am Ruder saßen und allen Fremden den Tod schworen, unter Verhältnissen der schwierigsten Art die Stirn zu bieten. Dass das Kirchenwesen geordnet, der Grund zum Volksunterricht gelegt, eine Art von Justiz geübt, wenigstens eine gelehrte Schule in Livland erhalten wurde, war dem Adel allein zu verdanken. Die Aufhebung der Leibeigenschaft unterlassen, später gehemmt zu haben, war allerdings seine schwere Schuld. Aber hat irgend eine deutsche Ritterschaft sich freiwillig ihrer Privilegien und Herrenrechte begeben? Weist die deutsche Geschichte ein Beispiel auf, dass die Besserung ländlicher Zustände durch adelige Initiative vollzogen worden wäre? Wo der deutsche Adel feine mittelalterliche Machtstellung behauptete, wo es dem liberalen Despotismus des Aufklärungszeitalters nicht gelang, gewaltsam mit dem Feudalsystem aufzuräumen, — da hat (wie das Beispiel Mecklenburgs beweist) dieser Adel schlimmer gehaust als irgend eine der drei baltischen Ritterschaften, ohne dass zu seiner Entschuldigung angeführt werden könnte, er sei weitab von den bildenden Einflüssen der Zeit sich selbst überlassen gewesen, habe rings um sich her keine andere bäuerliche Entwickelung gekannt als eine unfreie und sei — wie das bei dem baltischen Adel tatsächlich der Fall war — nicht nur ein strenger Herr, sondern zugleich ein kluger und mutiger Hüter der Traditionen seines Volkes und ein Verwalter gewesen, den die Mehrzahl der Mitbewohner seiner Heimat immer noch lieber im Amte sah als den Beamten, der eine Staatsgewalt repräsentierte, die mit der Anarchie eines barbarischen Magnatentums zu ringen hatte! Edelleute, welche seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts für die Besserung der bäuerlichen Zustände tätig waren, hat Livland manche, wenn auch nicht allzu viele, aufzuweisen, aber dieselben Männer, welche das Werk der Bauernemanzipation hinderten, haben doch wenigstens politischen Menschenverstand genug besessen, um unermüdlich auf die Kodifizierung des heimischen Rechts hinzudrängen, das damals eine in verstaubten Folianten begrabene Geheimlehre war, für Wege und Straßen zu sorgen, die Aufrechterhaltung der alten Verfassung und den Zusammenhang mit der deutschen Kultur unermüdlich im Auge zu behalten und zu diesem letzteren Zweck die Regierung unablässig mit dem Gesuch zu drängen, ihnen die im Jahre 1710 verhießene Retablierung der Dorpater Universität zu gestatten.

Was diese Universität anlangt, von der Sie, hochverehrter Herr, behaupten, sie nähre das geistige Leben des deutschen Elements an der Ostsee auch heute nur kümmerlich, so lässt sich für das laufende Jahrhundert nahezu das Gegenteil Ihres Satzes beweisen; für das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert kommt diese „edle Schöpfung" Gustav Adolfs kaum in Betracht. Während der kurzen Dauer ihres ersten Bestehens am Embach (1632 bis 1690) war sie eine schwedische Anstalt, dann wurde sie nach Pernau verlegt, wo sie beim ersten Erscheinen der Russen erlosch, ohne je geglänzt zu haben. Erst 1802 wurde sie wiederhergestellt. Die Lebenskraft des deutschen Geistes, der in den baltischen Junkern lebte, war während des gesamten achtzehnten Jahrhunderts lediglich auf sich selbst angewiesen und entbehrte, wie der Universität, so zahlreicher anderer Hilfsmittel, welche dem deutschen Adel zu Gebote standen. Dass der Schlag dieser Jünger der „fliegenden Jagd" und des „Krippenreitertums" doch die Fähigkeit behielt, die Aufrechterhaltung der Traditionen seiner Väter für die höchste Aufgabe zu halten, das Land fast ohne Beihilfe, wenigstens ohne heilsames Korrektiv durch die Staatsgewalt so zu verwalten, dass es für den bestregierten Teil Russlands gelten konnte, — das stellt seiner angeborenen Tüchtigkeit ein Zeugnis aus, das, wie mir scheint, den Vergleich mit keinem der begünstigteren deutschen Adelsverbände zu scheuen nötig hat.

Aber das Geschlecht von Deutschen, welches an der Ostsee übrig geblieben ist, besteht es denn ausschließlich aus den Edelleuten, deren Sie Erwähnung tun? Hat es denn in diesem Lande gar keine Bürger gegeben oder nur solche, welche — wie es im weitern Verlauf Ihrer Abhandlung heißt — in „kleinstädtischem Wesen verkümmert" waren und in Städten lebten, „die meist ihre alte Verfassung verloren hatten". Wenn ich den Zeitraum der sogenannten statthalterschaftlichen, Periode in Abzug bringe (1783 bis 1796), der als bedeutungslose Episode nicht in Betracht kommt, so sehe ich mich vergeblich nach Tatsachen um, welche bestätigten, dass auch nur eine Stadt Livlands, Estlands und Kurlands ihre alte Verfassung verloren hätte, — im Gegenteil, die alten städtischen Ordnungen bestehen noch heute allenthalben zwischen Njemen und Narowa und die Veränderungen, welche an denselben demnächst auf Wunsch ihrer eigenen Bürger vorgenommen werden sollen, werden zweifellos Ihren und aller deutschen Liberalen Beifall haben. Neben den kleinen gibt es in Livland und Estland auch große Städte, und zwar solche, welche einen kräftigen und strebsamen Kommunalgeist auch zu den Zeiten bewahrt haben, in denen die preußischen Städte willenlose Instrumente in den Händen der Bürokratie waren. Die Stadt Riga hat sich seit sieben Jahrhunderten eines stolzen und unabhängigen Bürgertums zu erfreuen gehabt, das weder durch Junker- noch durch Beamtentum jemals gebrochen ist, sondern sich in selbständigster Weise und trotz zahlreicher Hemmungen und Feindseligkeiten aller Art entfaltet hat und zu einem würdigen Träger deutscher Kultur geworden ist, der manche der alten Hansestädte, z. B. Lübeck, beträchtlich überragt. Während der Kommunalgeist in Deutschland und namentlich in Preußen während des achtzehnten Jahrhunderts zu beschränktem und abhängigem Pfahlbürgertum verkümmert war, trieb er am Strande der Düna noch so kräftige Blüten, dass die Stadt Riga durch das ganze vorige Jahrhundert eine nahezu republikanische Stellung behaupten konnte. Herder, der 1764 ein Schulamt in dieser Stadt bekleidete, hat erst durch sie erfahren, was öffentliches Leben heißt, und wiederholt eingestanden, in Riga ein Bürgerleben und einen patrizischen Sinn kennen gelernt zu haben, von dem er in seiner preußischen Heimat kaum eine Vorstellung gehabt. Die begeisterten Worte, in denen er den großartigen Eindruck schildert, welchen er aus der Betrachtung dieses strebsamen und selbstbewussten Gemeinwesens empfangen, schließen mit dem fast überschwänglichen Ausdruck: „Riga — beinahe Genf". Hier lebten Männer, deren belebender und fördernder Einfluss (nach dem Zeugnis der Gervinus'schen Literaturgeschichte) bis nach Königsberg hin empfunden worden; Herder und Hamann ist diese Stadt eine zweite Heimat geworden, von deren Großsinnigkeit sie bis an den Abend ihres Lebens nicht ohne Rührung reden konnten; der Rigasche Buchhändler Hartknoch war der Verleger Kants, der großmütige Gönner, Förderer und Freund Herders und zahlreicher anderer Heroen unserer National-Literatur. Und der Stand, den diese Stadt bis in die neueste Zeit feindlich andrängenden Gewalten gegenüber gehabt hat, ist ein so schwieriger gewesen, dass ihm kein Beispiel aus der deutschen Städtegeschichte auch nur annähernd an die Seite gestellt werden kann. Während der deutsche Elsaß in hundert Jahren zu einem stockfranzösischen Lande geworden ist, hat sich Riga an der Spitze der drei Provinzen in einem Kampfe bewährt, der bis jetzt noch keinen Fußbreit dessen verloren hat, was hier vom deutschen Leben überhaupt jemals bestanden. Das baltische Bürgertum kommt aber nicht nur als Träger des städtischen Lebens in Betracht, es hat sich zugleich um das lettische und estnische Landvolk große und bleibende Verdienste erworben und besitzt an der protestantischen Landgeistlichkeit Livlands, Estlands und Kurlands einen Predigerstand, wie er in Deutschland nur noch als Ausnahme vorkommt. In harter, unverdrossener Arbeit haben die deutschen Pastoren, welche in die undurchdringlichen Wälder des Nordens verschlagen wurden, das verwilderte Bettler- und Sklavenvolk, welches nach den polnischen, schwedischen und russischen Kriegen den Bauernstand repräsentierte, ohne jede Staatsunterstützung und trotz des ehernen Druckes, den der Adel ausübte, zu einer gesitteten Nation gemacht, die ein reich entwickeltes religiöses Leben besitzt und in den Anfangsgründen menschlichen Wissens schon vor sechzig Jahren ebenso gut beschlagen war als ihre Nachbarschaft an der preußisch-polnischen Grenze oder in Mecklenburg. Diese Geistlichkeit hat nicht nur Bibel, Katechismus und Gesangbuch in die Volkssprachen übersetzt, sondern auch eine kleine lettisch-estnische Literatur geschaffen, die mindestens den dringendsten Bedürfnissen genugtut und der allein es zu danken ist, dass die Urbewohner meines Vaterlandes die politischen Krisen und Erschütterungen der letzten Jahrzehnte durchgemacht haben, ohne den Zusammenhang mit der deutsch-protestantischen Kultur zu verlieren und in den Wirren einer Jacquerie unterzugehen, auf welche von mehr denn einer Seite hingearbeitet worden ist.

Der Wert oder Unwert dessen, was das vielgescholtene Geschlecht der livländischen, estlandischen und kurländischen Deutschen geleistet hat, wird am besten an dem Maßstabe der Fortschritte festgestellt werden, welche in den letzten Jahrzehnten auf den verschiedenen Gebieten baltischen Lebens gemacht worden sind, denn erst während dieser war den baltischen Deutschen eine gewisse Freiheit des Handelns eingeräumt. Dabei darf nicht übersehen werden, dass das Verhältnis der Staatsgewalt zu den provinziellen Faktoren Livlands, Estlands und Kurlands wesentlich von dem verschieden ist, in welchem Staat und Provinz in den Ländern West-Europas zu einander stehen. Das Landschulwesen und die Kirche werden ohne jede Beihilfe von Staatsmitteln durch die Provinz selbst erhalten; die gesamte Justiz- und die Lokalverwaltung sind ausschließlich auf die Steuerkraft des Landes angewiesen, ebenso das Kommunikationswesen und ein großer Teil der höheren Lehr- und Bildungsanstalten; selbst die Rigaer Zollbeamten beziehen den Hauptteil ihres Einkommens aus Zuschüssen der Kaufmannschaft, die sich auf Zehntausende von Silberrubeln belaufen. Dabei sind die Steuern in Livland, Estland und Kurland beträchtlich höher als in irgend einem andern Teil des russischen Reiches, obgleich der Staat für die übrigen Provinzen mehr zu leisten hat als für die baltischen, in denen die dem Reichsschatz zu entrichtenden Abgaben eigentlich nur den Charakter von „Gewerbesteuern für Ausübung der Autonomie und des Selfgovernment" tragen. Ist von neuen Einrichtungen oder von Reformen alter Institute die Rede, so versteht es sich in der Regel von selbst, dass dieselben auf Unkosten des Landes ausgeführt werden. Ferner ist im Auge zu behalten, dass während der letzten Dezennien der vorigen Regierung der Zusammenhang zwischen dem Ostseelande und dem übrigen Europa so gehemmt und erschwert war, dass nur spärliche Kunde von dem, was sich im Westen vollzog, zu uns drang. Bis zur Thronbesteigung Alexanders II. und dem Beginn der neuen russischen Ära war jede liberale Regung, jede Teilnahme an den Zeitideen streng verpönt, ja unmöglich gemacht. „Was jenseits der Grenze des Bestehenden lag", so heißt es in einer Charakteristik der dreißiger und vierziger und des ersten Lustrums der fünfziger Jahre, „gehörte zu den verbotenen Früchten, und für die Bewohner dieses Landes war nur auf der Welt, was sich zwischen die Blätter der Provinzialgeschichte, der Privilegien und Quellen legen ließ; der ganze Reichtum moderner Staatsentwicklung war uns mit sieben Siegeln verschlossen, und für einen guten Patrioten galt, wer diese Entbehrungen mit Würde und Entschlossenheit zu tragen wusste und weder nach rechts noch nach links schielte. Ein Fortschritt im Sinne der Zeit war unmöglich, die Aufrechterhaltung des status quo das allein mögliche Ziel. Der größte Teil der jetzt lebenden Generation ist unter dem Drucke einer Beschränkung und Isolierung aufgewachsen, der um so peinlicher empfunden wurde, als ihr eine Zeit geistigen und literarischen Aufschwungs (unter Alexander I.) vorhergegangen war. Die heute an der Neugestaltung baltischen Lebens arbeiten, sind die Kinder einer Epoche, in der es schon verzweifelte Anstrengungen kostete, sich auch nur das Verständnis und die Empfänglichkeit für die Zeitideen offen zu halten. Die Generation der Männer, welche hier mit der Reform des gesamten Rechtslebens beschäftigt sind, dort den schwierigen Dienst der Presse versehen, die in der Generalgouverneurs-Kanzlei eine neue Gemeindeordnung ausarbeiten, im Ritterhause ein neues Steuersystem, in der Rats- und Gildenstube eine liberale Stadtverfassung beraten sollen, — diese Generation ist in einer Zeit aufgewachsen, in der selbst das Studium des modernen Staatsrechts zu den verbotenen Früchten zählte, in der die Lichtstrahlen europäischen Denkens und Wissens nur durch heimliche Fugen und Spalten den Eingang fanden und der persönliche Weltverkehr mit tausend Schwierigkeiten umgeben war." Wenn man sich vergegenwärtigt, dass in den Jahren 1849 bis 1856 selbst die Spener’sche Zeitung in Russland verboten war, die Strenge der Zensur so weit ging, den gesamten Buchhandel Livlands, Estlands und Kurlands einmal für sechs Monate zu hemmen, dass eine Reise nach Deutschland damals so gut wie unmöglich war, dass 1843 und 1850 diejenigen Professoren der Dorpater Universität, die im Geruch entschieden deutscher Gesinnung oder liberaler politischer Ideen standen ohne Weiteres entfernt wurden, dass die Zahl der Dorpater Studenten auf dreihundert beschränkt, der Universität das Recht eigener Rektorwahl zehn Jahre lang genommen war, dass gleichzeitig der Stadt Riga verboten wurde, den Ingenieur, der auf ihre Kosten den Hafen neu bauen sollte, zum Behuf der Kenntnisnahme deutscher und englischer Neubauten verwandten Charakters ins Ausland zu senden, dass während desselben Zeitraumes wiederholte schlechte Ernten und durch den orientalischen Krieg verursachte jahrelange Handels- und Schifffahrtssperren, selbst das materielle Behagen, mit welchem man sich herkömmlich für geistige Entbehrungen entschädigt hatte, illusorisch machten, — so wird man nicht umhin können, die Langsamkeit der Fortschritte, welche mein Vaterland gemacht hat, minder hart zu beurteilen, als Sie, hochverehrter Herr, es getan, und zugleich einzuräumen, dass die Zähigkeit, mit welcher das baltisch-deutsche Element an dem Zusammenhang mit der Kultur des Mutterlandes festgehalten hat, die Energie, mit welcher der livländische, estländische und kurländische Adel den idealen Inhalt des feudalen Provinzialstaates zu wahren gewusst hat, einer gewissen Anerkennung nicht unwert sind. Es ist nicht sowohl „der Übertritt zahlreicher baltischer Edelleute in den russischen Staatsdienst" gewesen, der den Ostsee-Provinzen den Fortbestand der Landesverfassung sicherte, als vielmehr die eiserne Konsequenz, mit welcher Ritterschaften und Städte des Ostseelandes jedem Versuch des Eindringens fremder Elemente einen Widerstand entgegensetzten, der — auch mit der Opposition Schleswig-Holsteins verglichen — beispiellos in der neueren Geschichte genannt werden muss; weil man der Regierung nachzuweisen wusste, dass die Kultur dieses Küstenstriches trotz der Mittelalterlichkeit seiner Einrichtungen höher stand als die russische, dass die Steuerkraft des Landes durch die Einführung russischer Ordnungen abnehmen müsse, und weil man gleichzeitig klug und ehrlich genug war, an der beschworenen Untertanentreue unbeirrt festzuhalten und jeden Gedanken an illoyale Umtriebe zu verbannen, hat diese Regierung den Fortbestand deutschen Wesens an der Ostsee dulden müssen, hat kaum einer der kaiserlichen Statthalter, die im alten Ordensschloss zu Riga residierten, dasselbe verlassen, ohne ein Anwalt des deutsch-baltischen Wesens zu werden. Es muss ferner bestritten werden, „dass die enge Verbindung der deutschen Adelsgeschlechter mit dem Petersburger Hofe die Verschmelzung der Provinzen mit dem russischen Staate wesentlich gefördert habe". Im Gegenteil, die Mehrzahl der baltischen Barone, die im Senat, Reichsrat oder Ministerkomitee saßen, hat das Wohl des Reiches nicht besser zu fördern gewusst als durch Anerkennung der historischen Grundlagen ihres heimischen Provinzialwesens, und nicht die Minderzahl jener Männer, die das ungeheure Reich beherrschten, ist in alten Tagen in das kleine Vaterland zurückgekehrt, um demselben in den untergeordneten Ämtern bloßer Landräte oder Kreisdeputierter den Rest ihrer Kräfte zu weihen und den Beweis zu führen, dass sie trotz der Ordensbänder und prunkenden Titel, die sie am Kaiserhof erworben, ehrliche und, getreue Livländer, Estländer oder Kurländer geblieben seien.

Eine ausführliche Aufzählung dessen, was trotz aller der Hemmungen und Schwierigkeiten alter und neuer Zeit am Ostseestrande während der letzten Jahre getan worden, um würdigere Zustände herbeizuführen, ist bei dem beschränkten Raum dieser Blätter kaum möglich. „Dass das Volk zurückzukehren beginnt zu der in Torheit verlassenen Landeskirche, dass das Schulwesen langsam fortschreitet und das Verhältnis zwischen Herren und Bauern sich erträglicher gestalte" wird auch von Ihnen anerkannt. Aber das ist nicht Alles. Was zunächst die Agrarverhältnisse anlangt, so ist zu konstatieren, dass zufolge von Landtagsbeschlüssen der letzten Jahre die alte Frone nicht mehr besteht, der Bauer gegen willkürliche Pachtsteigerungen durch ein seinem Interesse außerordentlich günstiges Entschädigungsgesetz geschützt ist, das Bauernland vor Einziehungen zu Gunsten der herrschaftlichen Höfe durch eine Demarkationslinie gesichert ist, dass endlich die Gemeindeverwaltung und bäuerliche Justiz so selbständig konstituiert sind, dass sie keinerlei Beziehungen zu den Herren haben. Die Revisionsinstanz allem ausgenommen, fungieren bäuerliche Beisitzer in allen Gerichtshöfen, welche mit agrarischen Dingen zu tun haben. Trotzdem, dass eine zwangsweise Verwandlung der Pachtstücke in bäuerliches Eigentum nicht stattgefunden hat, sitzt bereits ein beträchtlicher Teil der ehemaligen Pächter auf zum Eigentum erworbenem Grund und Boden. Der bäuerliche Wohlstand ist in so raschem Aufschwung begriffen, dass die Summe der in den Kreditanstalten des Ostseelandes von Bauern niedergelegten Kapitalien sich bereits auf viele Millionen beläuft und die Militärpflicht, trotz der hohen Loskaufsumme von 1000 Rubel Silber per Kopf, jährlich von Hunderten lettischer und estnischer Rekruten aus eigenen Mitteln abgelöst wird. Entsprechend dem materiellen Aufschwung bietet auch der intellektuelle ein durchaus erfreuliches Bild. Dank dem Eifer der Geistlichkeit und der Beihilfe des Adels, der vier Volkslehrerseminare auf eigene Kosten erhält, gibt es allenthalben Schulen, in denen neben Schreiben, Lesen und Rechnen auch die Anfangsgründe der Geschichte und Geographie, häufig die deutsche Sprache, in den handeltreibenden Gegenden auch die russische gelehrt werden. In der jüngeren Generation kommen Individuen, die des Schreibens und Lesens unkundig wären, nicht mehr vor; die religiöse Bildung ruht auf einer so gesunden und lebenskräftigen Grundlage, dass der moderne Lette und Este auf die Rohheit und Unbildung der in den letzten Jahren zahlreich eingewanderten mecklenburgischen und pommer'schen Bauern nicht selten ziemlich hochmütig herabsieht. Kaum eine wohlhabendere Bauerngemeinde entbehrt eines vom Prediger oder Schulmeister geleiteten Gesangvereins; in jeder der drei Provinzen gibt es mehrere Zeitungen und Journale in den Volkssprachen und der lettische Buchhandel hat in jüngster Zeit eine Ausdehnung genommen, die die lettische Schriftstellern zu einem bessern Geschäft macht als die deutsche. — Dass diese Früchte ausschließlich durch das Zusammenwirken von Adel und Geistlichkeit und binnen weniger Jahrzehnte erzielt worden sind, braucht nach unseren früheren Ausführungen nicht erst gesagt zu werden. Die Ritterschaften haben aber auch auf anderen Gebieten bewiesen, dass die Zeiten vorüber sind, in denen das baltisch-deutsche Wesen mit Krippenreitertum, luxuriöser Gastfreundschaft und zähem Festhalten an alten Bräuchen identisch war; sie haben sich des Rechtes auf den ausschließlichen Besitz von Rittergütern freiwillig begeben und der Regierung neuerdings den Plan zu einer Umgestaltung der Justiz vorgelegt, welche die privilegierte Gerichtsbarkeit, das adelige Recht, nur durch Standesgenossen gerichtet zu werden, das Privilegium, nach welchem sämtliche ländliche Richter von den adeligen Kreisinsassen ernannt wurden, — freiwillig dem Zeitgeist zum Opfer bringt. Angesichts der nicht eben ehrenvollen Rolle, welche die Adelsverbände in den annektierten preußischen Ländern gespielt haben, und der unbestreitbaren Tatsache, dass der deutsche Adel für die Bildung und Entwickelung unserer Nation überhaupt nicht mehr in Betracht kommt, dass er längst aufgehört hat eine wirkliche Aristokratie zu bilden und seine Aufgabe nur noch in der Anlehnung an Absolutismus und Kleinstaaterei, mithin in der Hemmung des nationalen Fortschrittes sieht, — wird nicht in Abrede gestellt werden können, dass der baltische Adel, so groß auch das Maß seiner Verschuldungen ist, wenigstens den Charakter einer wirklichen Aristokratie zu wahren, ein nationales Interesse zu repräsentieren und sich einen Beruf zu schaffen gewusst hat, der zu den Forderungen der Zeit wenigstens nicht im Gegensatz steht. Der Gang, welchen die Geschichte nimmt, um einen Staat oder eine Provinz der Segnungen der Freiheit teilhaftig zu machen, ist nicht überall derselbe. Unter Verhältnissen, in denen es sich darum handelt, dass eine Kolonie den Charakter ihrer nationalen Bildung wahre und dieselbe auf Stämme ausdehne, deren Germanisierung widrigen Verhältnissen zufolge gehemmt wurde, ist die Aristokratie, so zu sagen, ein notwendiges, wenigstens zu Zeiten unentbehrliches Übel, kann sie nicht entbehrt werden, zumal wo es sich um den Kampf gegen fremde Elemente handelt, die im Namen falsch verstandener demokratischer Ideen ein Nivellement im Sinne gleicher Unbildung und Abhängigkeit Aller verlangen. Dass die deutsche Kolonialarbeit an der Ostsee nicht untergehe, dass die von dem deutschen Orden begründete Herrschaft über das baltische Land überhaupt erhalten werde, darauf kam es in erster Reihe an; diesem Beruf treu geblieben zu sein und bei allem Streben nach ausschließlichem Adelsregiment doch die Interessen des gesamten Landes mit denen des eigenen Standes in gewissem Sinne identifiziert und dabei die Möglichkeit offen gehalten zu haben, die ursprünglich adeligen Rechte und Prärogativen allmählich auf alle Schichten der Bevölkerung auszudehnen, — das bildet ein Verdienst, dem auch Sie, hochverehrter Herr, Ihre Anerkennung nicht ganz versagen werden. Gestatten Sie mir, dieser Hoffnung die bescheidene Bemerkung hinzuzufügen, dass der Schreiber dieser Zeilen an den Rechten seiner adeligen Landsleute niemals irgend welchen Anteil gehabt, sondern die besten Jahre seines Lebens im Kampf gegen die Präponderanz und das Fortbestehen der ritterschaftlichen Allmacht in den Ostseeprovinzen gewidmet hat und dass er darum wohl den Anspruch erheben darf, für einen unbefangenen Beurteiler jenes Geschlechts zu gelten, das Ihrer Ansicht nach längst in Junkertum und Egoismus untergegangen ist, dem aber in Wahrheit doch noch viele und mannhafte Tugenden anhaften, die der deutsche Adel längst verloren hat.

Dass das städtische Leben mit den Fortschritten des flachen Landes der deutsch-russischen Provinzen Schritt gehalten hat, braucht wohl kaum gesagt zu werden. Binnen elf Jahren hat allein die Stadt Riga äußerlich und innerlich alle die Banden gesprengt, welche sie aus den Zeiten des Mittelalters einengten. Ohne jede Beihilfe des Staates hat sie sich mächtig erweitert, eine Reihe großartiger Hafenbauten geschaffen, die alten Wälle geschleift, alle öffentlichen Gebäude neu aufgeführt, die Grundzüge einer neuen freisinnigen Kommunalverfassung entworfen, die nur noch der kaiserlichen Bestätigung harrt, das alte Zunftwesen beseitigt, die erste baltische Eisenbahn gebaut, ein über alle Städte Livlands und Kurlands verzweigtes Genossenschaftswesen ins Leben gerufen, aus eigenen Mitteln ein städtisches Gymnasium, eine Navigationsschule, endlich eine große polytechnische Schule gegründet und erhalten. Diese Stadt hat zugleich eine periodische Presse geschaffen, von welcher noch vor acht Jahren nicht die Spur zu finden war und die heute die Kraft besitzt, trotz des strengen Zensurzwanges, dem sie unterworfen ist, zugleich an der Spitze der baltischen Reformpartei zu stehen und den schwierigen Kampf gegen die systematischen Anfeindungen durch die fanatische Moskauer und Petersburger Journalistik — eine Großmacht, der es weder an Freiheit des Handelns noch an einer Menge glänzender Talente fehlt — in erfolgreichster Weise zu führen. — Es wird schließlich noch übrig bleiben, nach den Gründen zu fragen, aus welchen den baltischen Deutschen vorgeworfen wird, „ihre Sprache entbehre seit den Tagen Luthers aller Lebenskraft und werde arm und ärmer, während das geistige Leben sich an der Universität kümmerlich nähre." Von den Hemmungen, welche diese Universität durchzumachen gehabt habe, ist bereits andeutungsweise die Rede gewesen, nichtsdestoweniger hat dieselbe die Fahne deutscher Bildung und Wissenschaft siegreich zu verteidigen gewusst und zu allen Zeiten Glieder gezählt, welche dem deutschen Namen die höchste Ehre gemacht haben und die in der gesamten zivilisierten Welt bekannt sind. Der Naturforscher Baer, ein Gelehrter vom allerersten Range, verdankt dieser Anstalt seine Bildung — der Chemiker Karl Schmidt, die Astronomen Struve und Mädler, der Mediziner Buchheim, der Physiolog Widder, die Juristen Dabelow, Clossius, Osenbrüggen und zahlreiche andere Männer, deren Namen allenthalben bekannt sind, haben hier gewirkt, wirken hier zum Teil noch heute. Die Universität Dorpat hat im vorigen Jahre einen Rückblick auf ihre bisherigen Leistungen veröffentlicht, welcher, das politische allein ausgenommen, auf allen Gebieten der Wissenschaft den reichen Anteil nachweist, welchen dieselbe an den Errungenschaften der Neuzeit gehabt; nachgewiesen wird ferner, dass die Mehrzahl aller Ärzte, akademischen Lehrer, Pharmazeuten u. s. w., welche es in Russland zu hervorragenden Stellungen gebracht, Dorpater Zöglinge gewesen seien und dass in früherer Zeit selbst ein nicht unbedeutender Teil der nationalrussischen Staatsmänner und Militärs der Embach-Hochschule angehört habe. Darf ein geistiges Leben „kümmerlich" gescholten werden, das auf das gesamte russische Reich segensreichen Einfluss geübt und sich zugleich gegen den mächtigen Andrang der russischen Demokratie siegreich gewehrt hat, aus jedem der zahlreichen Kämpfe, welche es zu bestehen hatte, nur kräftiger und stolzer hervorgegangen ist? Es sind noch nicht 200.000 Deutsche, welche in den Ostseeprovinzen leben, und doch versorgen dieselben das ungeheure russische Reich seit Jahrzehnten mit bildenden Kräften, bestreiten alle Gebiete des geistigen Lebens ihrer Heimat aus eigenen Mitteln. Das baltische Provinzialrecht und die baltische Geschichtsforschung sind zum Rang selbständiger Wissenschaften erhoben worden und haben eine Reihe trefflicher Werke nachzuweisen; die Erforschung der lettischen und estnischen Sprache wird gemäß den höchsten Anforderungen der modernen Sprachwissenschaft betrieben; gelehrte Vereine sind an allen Punkten des Ostseelandes tätig und legen durch Veröffentlichungen, die hinter denen deutscher Provinzialgesellschaften schlechterdings nicht zurückstehen, von ihrer Strebsamkeit Zeugnis ab. Wenn die literarische Produktion auch quantitativ unbedeutend ist, so kann sie sich doch rühmen, auf wissenschaftlichem Gebiet keine anderen als Früchte der solidesten Art getragen zu haben. In publizistischer Beziehung ist während der letzten Jahre mehr geleistet worden als von mancher deutschen Landschaft, die mehr als 200.000 deutsche Bewohner zählt; über zwanzig Zeitungen und Journale (unter diesen die auch in Deutschland ehrenvoll bekannte Baltische Monatsschrift, zwei theologisch-wissenschaftliche und zwei technologische Zeitschriften) werden in Riga, Dorpat, Reval u. s. w. herausgegeben und außerdem wird noch die lettisch-estnische Literatur und Journalistik durch deutsche Arbeiter besorgt. Dass der Bildungsstandpunkt der deutschen Bewohner niedriger sei als in sämtlichen deutschen Ländern, kann nur für gewisse Schichten, z. B. einen Teil des Handwerkerstandes und der Kaufleute, und auch für diese nur bedingungsweise eingeräumt werden. Die Landgeistlichkeit erfreut sich durchschnittlich eines höheren Maßes allgemeiner Bildung, als sie bei der Mehrzahl der mittel- und norddeutschen Prediger gefunden wird, die schon ihrer ungünstigen materiellen Lage wegen behindert find, an der Spitze der geistigen Kultur zu stehen; der Adel gibt dem Stande der Rittergutsbesitzer in der Mark, in Pommern oder Mecklenburg sicher nichts nach und ist schon wegen der großen Anzahl politischer Verpflichtungen, die auf ihm ruhen, gezwungen, an dem, was in der übrigen Welt vorgeht, einen Anteil zu nehmen, der nicht unbeträchtlich ist. Dass es um die technischen Fachkenntnisse der Gelehrten und auch der Ungelehrten in Deutschland sehr viel besser bestellt ist als in Livland oder Kurland, steht allerdings außer Zweifel, bedarf aber kaum der Erklärung; die größere Bequemlichkeit der materiellen Verhältnisse und des Erwerbs und die Entfernung von dem Mittelpunkt der Kultur bringen es von selbst mit sich, dass man sich im baltischen Norden mit geringeren Resultaten zufrieden gibt als in dem Lande, welches das Herz Europas bildet und das von denen, die in ihm existieren wollen, die höchste Anspannung aller Kräfte fordert. Gerade darum kann auf die sittliche und allgemein-humane Bildung der deutschen Ostseeprovinzialen ungleich mehr Zeit und Anstrengung verwendet werden als in Deutschland, wo die Bildungsfrage in den meisten Fällen zugleich Existenzfrage ist; das geistige Leben jener Provinzen krankt vielleicht an einem aristokratischen Dilettantismus, der die allgemein menschliche Bildung und Entwicklung auf Kosten gründlicher Fachkenntnis anstrebt; arm und verkümmert kann es um so weniger genannt werden, als die Gefahr der „Verkümmerung" durch die in Deutschland so häufig vorkommende einseitige Vertiefung in Spezialitäten keineswegs beseitigt ist.

Was endlich das von meinen Landsleuten gesprochene und geschriebene Deutsch anlangt, so muss ich, in vielleicht koloniarer Beschränktheit gestehen, dass ich den Vorwurf der Verarmung und des Absterbens, der demselben gemacht wird, nicht recht verstehe. Dass der Kolonist nicht aus jener Fülle des Volkslebens schöpfen kann, die den Besitz eines nach Jahrtausenden zählenden geschlossenen Volkstums zur Voraussetzung hat, versteht sich doch von selbst. Rein und unverfälscht ist die Sprache, welche am Rigaischen Meerbusen gesprochen wird, geblieben. Die Bücher und Zeitschriften, welche am Embach und an der Düna gedruckt werden, geben in sprachlicher Beziehung den Publikationen, die an der Spree oder Leine das Licht der Welt erblicken, nichts nach und werden verstanden, so weit es Deutsche gibt, und der einzige Vorwurf, der unserm Dialekt zuweilen gemacht wird, ist der, allzu großer Korrektheit; ob dieser schwerer wiegt, als jene Verballhornung unserer Sprache, die z. B. in Sachsen üblich ist, wo sie es doch niemals zum Rang einer selbständigen Volksmundart gebracht hat, kann ich billig Ihrem Urteil überlassen und nur auf Ihre volle Zustimmung rechnen, wenn ich behaupte, in den deutschen Teilen Frankreichs und Nordschleswigs sei über die Güter unseres Sprachschatzes minder gewissenhaft Haus gehalten worden als im Lande der Esten und Letten. Nur beiläufig sei bemerkt, dass eine selbständige Ausbildung der deutschen Sprache in den Ostseeprovinzen nicht ganz gefehlt hat und dass die dialektische Ausbildung derselben zu einem Idiotikon Veranlassung gegeben hat, das bereits gegenwärtig eine stattliche Anzahl dickleibiger Bände zählt.

Auf die gegenwärtige Lage der Ostseeprovinzen und die Gefahren, welche dem in denselben herrschenden deutschen Element drohen, näher einzugehen, muss ich mir versagen; Sie haben dieselben in der Schrift, welche die Veranlassung zu den vorliegenden Blättern geboten hat, überdies so scharfsichtig erkannt und vorausgesehen, dass es genauerer Ausführungen kaum mehr bedarf. Mir kam es nur darauf an, den Nachweis zu führen, dass der Mangel einer vollständigen Germanisierung des livländischen Ordenslandes nicht sowohl die Schuld der Kolonisten als die Folge einer Reihe von Geschicken gewesen ist, wie sie härter und widriger kaum über ein Land ausgegossen worden sind, welches jemals von westeuropäischer Kultur berührt worden, und dass die Arbeit, welche der deutsche Geist auf baltischer Erde unternommen, nicht ganz nutzlos, nicht ganz ohne Segen für die Völker geblieben ist, die ihre Volkssprachen zwar noch heute reden, deren Bildungssubstanz aber so vollständig in deutsche Form gegossen ist, dass sie durch den besten Teil ihres geistigen und sittlichen Lebens mit unserer Nation in unauflöslich enge Verbindung gesetzt sind. Ob und inwieweit es Ihnen möglich sein werde, das harte Urteil, welches Sie über die Kolonie im baltischen Norden gefällt haben, zu modifizieren, weiß ich nicht, davon aber glaube ich fest überzeugt sein zu können, dass Sie die aristokratische Form der baltischen Provinzialexistenz noch nicht als Grund für eine rücksichtslose Verurteilung und Preisgebung derselben ansehen werden; die baltische Aristokratie kann sich rühmen, die Begriffe „Herr" und „Deutscher" trotz erbitterter Kämpfe mit fünf verschiedenen Nationen in stolzester Weise identifiziert und wenigstens in den letzten Jahrzehnten das Mögliche getan zu haben, um verjährtes Unrecht gut zu machen und der Größe seiner Aufgabe gerecht zu werden, die zu allen Zeiten außer Verhältnis zu den Mitteln gestanden hat, welche das deutsche Volk denen mitgegeben, die es zur Eroberung des fernen Küstenlandes aussandte. Was von den deutschen Bewohnern meines Vaterlandes gekündigt worden, haben sie hart genug gebüßt, — das Verdienst der Zähigkeit in Behauptung des einmal ergriffenen Besitzes und unerschütterlicher Treue an der Tradition der Väter mag ihnen wenigstens von den eigenen Stammesgenossen gelassen werden; hart genug ist den Livländern, Estländern und Kurländern geworden, auch nur das zu retten, was sie noch als ihren Besitz rühmen!

Die großen Umwandlungen, welche sich während der letzten Jahre in den politischen Zuständen des deutschen Volkes vollzogen haben, sind indirekt die Veranlassung zu den Prüfungen gewesen, mit denen die baltischen Deutschen heute zu kämpfen haben. Möchte die gleichzeitige Revolution in den politischen Anschauungen der Deutschen meinen Landsleuten wenigstens die eine Frucht tragen, dass ihre Lebensformen fortan an dem Maßstab der dieselben bedingenden geschichtlichen und realen Verhältnisse gemessen und nicht der Schultheorie zu Liebe verurteilt werden. Auf wirkliche Sympathien, auf eine Teilnahme an dem Kampf, in welchem mein Vaterland sein Herzblut ausströmt, zu rechnen, haben die Söhne desselben sich seit lange entwöhnt. Sie verlangen heute nur noch, dass man ihnen nicht die Stunde vergifte, welche vielleicht ihre Sterbestunde ist.
Genehmigen Sie, hochverehrter Herr, die Versicherung meiner aufrichtigsten Hochachtung und Verehrung.
Leipzig, im Januar 1868.