Abschnitt 1

Baltische Studien


Ueber die Geschichte Pommerns, ihr Verhältniß zur Deutschen Geschichte, ihre Behandlung und Darstellung.


Die Geschichte einzelner deutscher Länder und Gebiete erfreut sich gemeinhin nur innerhalb der Kreise, auf welche sie sich zunächst bezieht, einer lebendigen Theilnahme, und weiß nur denen wahres Interesse abzugewinnen, welche ein nationales Band an sie fesselt. Es ist eine seltene Ausnahme, wenn sie den einstimmigen Beifall erntet, womit die Allgemeine Geschichte überall und immer begrüßt wird, sobald keine unkundige Hand ihre Darstellung versucht. Und nichts Befremdliches liegt in dieser Erscheinung. Durch das Land und seine Bewohner bedingt, aus der innigsten Berbindung beider hervorgegangen, besitzen historische Dänkmäler bloß für das Volk ihren eigentlichen Werth, dem sie ihr Entstehen verdanken, finden seine Lieder und Sagen nur dort einen tieferen Anklang, wo sie zuerst im Gesange ertönten, hallen sie nur dort von Mund zu Mund, wo die Erinnerung an eine ruhmwürdige That in dieser jugendlichen Gestalt fortlebt. Lauter an und eindringlicher sprechen in ihrer Heimath die Denkmäler der Vorzeit; ihre Sprache wird nur hier ganz verstanden und empfunden, und die Bilder, welche sie vor unsere Seele führen, glänzen bloß da im Schmuck frischer und kräftiger Färbung, wo kein fremder Hintergrund seine trüben Schatten auf sie wirft, und keine ungehörige Umgebung die Harmonie ihrer Theile stört. Und diese Erinnerungen, diese Bilder bewahrt ein Volk als sein theuerstes Eigenthum; aus ihnen wird ihm sein eigenes Leben verständlich, lerne es sich als ein durch gemeinsame Abstammung und gleiche Interessen Verbundenes kennen und den Werth seiner öffentlichen und häuslichen Einrichtungen schätzen. Seine Geschichte ist der Lebens-Quell, aus dem es Kraft und Thatenlust schöpft, aus dem sich fortwährend neues Blut in die Adern des künstlich gebildeten Körpers ergießt, welcher das Resultat seiner Arbeit ist. Sie giebt einem Volk das Gefühl der Nationalität, sie erfüllt es mit Achtung vor dem Gesetz, dessen Bestehen ihm seine Rechte und Freiheiten verbürgt, und stößt ihm treue Liebe ein zu dem angestammten Fürstenhause, woran vereint getragene Schicksale unauflöslich knüpfen. In seiner Geschichte erntet ein Volk die Früchte der eigenen Aussaat, kommt es zum Genuß seiner selbst, und nach ihm bemüht sich das Individuum, wie das Volk, welchem das Bewußtseyn innerer Würde mehr gilt, als die Bewunderung des Fremden. Wenn daher künstliches Bedürfniß, und dies ist besonders bei wissenschaftlicher Behandlung der Geschichte thätig, die historische Kunde des einzelnen Volks auch über dessen Grenze hinausführt, und in weitere Kreise verpflanzt, so werden es immer nur einige unter den Gebildeten seyn, die jenes Bedürfniß theilen und das Dargebotene freudig entgegennehmen; für die Mehrzahl des Volks wird es so gut wie gar nicht vorhanden seyn, wenigstens keinen wirksamen Eindruck auf dasselbe machen können. Denn was Eigenthum des Lebens ist, da es in diesem wurzelt und nur in ihm gedeiht, ist hierdurch aus demselben geschieden, und, von diesem verlassen, sieht es sich einer Pflege anvertraut, unter welcher es zwar des Schmucks verfeinerter Bildung nicht entbehrt, aber auch seine verkümmerte Gestalt nicht verbergen mag. Für das Wissen, welches auf abstracter Grundlage ruht, in der Sphäre des Gedankens zu Hause ist, giebt es keine Heimath, für die Geschichte aber, welche zu ihrem nächsten Substrat das physische Leben hat, und daher, so lange sie nicht zur Antiquität geworden, nicht von demselben zu trennen ist, da sie das Leben der Völker in ihrem Entwicklungs- und Bildungs-Gange darstellt, kann eine solche Allgemeinheit nicht behauptet werden. Sie hat ihr Indigenat, wie das Volk, dem sie angehört. Das vom Schauplatz der Welt abtretende Volk hinterläßt seine Geschichte, wie ein großes Vermächtniß, worin sich die es überlebenden Völker theilen; seine Arbeit geht diesen nicht verloren, sie bildet gleichsam die Stufe, worauf diese sich jetzt stellen. Die von der Geschichte behauptete Wirkung, welche als ihr Wesen zu bezeichnen ist, erscheint aber bei fortgelegter Betrachtung vorzüglich an zwei Bedingungen geknüpft: an Einheit und Integrität ihres Gegenstandes. Hat ein Volk, ein Reich oder Gebiet, gleichviel auf welchem Wege, seine frühere Selbstständigkeit eingebüßt, so wird seine Geschichte zwar noch immer Interesse für den Historiker besitzen, aber nicht länger in einer Beziehung zum Leben stehen, und eine unmittelbare Bedeutung für die Gegenwart ihr nicht mehr zuzuschreiben seyn. Nirgends tritt vielleicht die zwischen der Allgemeinen und Spezial-Geschichte bestehende Scheidewand deutlicher hervor, als grade hier. Als die Einheit der verschiedenen Volksgeister stellt jene gleichsam die Versöhnung dieser sich bekämpfenden Mächte vor, und enthält zugleich die gesamte Arbeit des menschlichen Geistes, an welche jedes Volk einen Anspruch erhebt, und an welcher Theil zu haben seine höchste Ehre ausmacht. Ueber die Wechsel und Zufälle erhaben, denen der praktische Werth dieser unterliegt, ist ihre Bedeutung für alle Zeit gesichert, da sie in einer dem endlichen Willen unzugänglichen Sphäre ruht. Vor dem Reichthum dieses Inhalts schwindet die Geschichte des einzelnen Landes zum Unbedeutsamen und scheint, von diesem Standpunkt betrachtet, jedes höhern Interesse zu entbehren. Es erfordere auch keine geringe Geschicklichkeit, um sie aus ihrer untergeordneten Stellung auf eine Höhe zu heben, wo sie neben jener sichtbar bleibt, und eine bestimmte Geltung erhält. Dies geschieht nur dadurch, daß man aufzeigt, welche Beziehung die Spezial-Geschichte zur Allgemeinen hat, wie sie in dieser mit vorhanden, von ihr nicht zu trennen ist, und bloß eine bstimmte Individualisirung derselben darstellt. Der Unterschied in der Theilnahme an geschichtlichen Werken ist übrigens so sehr in ihrem Stoff begründet, daß nur durch seine Behandlung sich ein Mißverhältniß einigermaßen ausgleichen läßt, wie es unleugbar zwischen der Allgemeinen und Spezial-Geschichte besteht, und welches ganz zu beseitigen eine vergebliche Anstrengung kosten würde. Man betrachte nur den reichern Gehalt der ersteren, die tiefere und weiter greifende Bedeutung ihrer Momente, ihre großartigen Formen, die in weiten Kreisen sich ausprägen, und man wird den Abstand fühlen, der zwischen beiden besteht. Auch unter den Händen der ungeübten wird ein solcher Stoff seine Bedeutsamkeit nicht verlieren; selbst in der mißlungenen Form wird sich die Größe des Geistes kenntlich machen, gleichwie die schlechte Uebersetzung eines Meisterwerks die Schönheit des Originals nie völlig verleugnet. Wie gewagt und schwierig nun auch der Versuch seyn wird, der Spezial-Geschichte auch neben der Allgemeinen Interesse zuzuwenden, und wie wenig Hoffnung für das Gelingen desselben vorhanden ist: der Geschichtsschreiber eines einzelnen Landes muß ihn schon wagen, wenn er nicht den hauptsächlichsten Theil seiner Aufgabe ungelöst fassen und sich selbst um den Preis bringen will. Die Art und Weise, wie er diese vollbringt, wird allein über die Ausnahme entscheiden, die seinem Gegenstande zu Theil wird. Es ist hierdurch die ganz eigenthümliche Schwierigkeit in der Behandlung der Provinzial-Geschichte ihren Gehalt als den der Allgemeinen aufzuzeigen, berührt, und zugleich auf die Bedingung hingewiesen, unter welcher sie auf ein allgemeines Interesse rechnen darf, was jetzt näher untersucht werden mag. Der Inbegriff von Ländern und Landschaften, aus welchen das Deutsche Reich bestand, und die heutigen Staaten hervorgingen, umfaßt lauter von einander unterschiedene historische Bildungen, denen bestimmte geistige Richtung, politische Stellung und lokale Verhältnisse eine charakteristische Physiognomie gaben, welche aufzuzeichnen und in scharfen Umrissen zu entwerfen, das eigentliche Geschäft des Historikers ist.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Baltische Studien