Abschnitt. 1 - Volksüberlieferung, Strelitzer Land, Necksprüche, Spottferse, Teterower Stückchen, Bettellieder, Hochzeitsbitterspruch, Wettgesang.

Die andauernde Theilnahme, die dem bekannten, meiner Leitung anvertrauten Unternehmen des Vereins für meklenburgische Geschichte und Alterthumskunde in weiten Kreisen des Landes entgegengebracht wird, scheint mir die Pflicht aufzuerlegen, nachdem zwei Jahre seit der Veröffentlichung meines ersten Berichts verflossen sind, aufs Neue eine Uebersicht über die Fortschritte und den Stand des vaterländischen Werkes zu geben.

Und da kann ich zunächst mit herzlicher Freude feststellen, daß meine in jenem Berichte ausgesprochene Bitte um weitere Mitarbeit williges Gehör gefunden hat. Wenn ich auch schon damals für eine vielseitige und nachhaltige Unterstützung danken konnte, so hat doch erst das Jahr 1892 die Hoffnungen der Erfüllung nahe kommen lassen, die mir bei Beginn der Arbeit vorschwebten. Zu den 230 Beiträgen aus den früheren Jahren sind im Laufe des Einen Jahres 275 neue hinzugekommen, darunter zahlreiche größere Sammlungen von hervorragendem Werthe. Das Jahr 1893 weist dann freilich einen starken Rückgang auf. Die durch den ablehnenden Beschluß des Landtages und das Zögern der Regierung hervorgerufene Ungewißheit über das Schicksal des Sammelwerkes hat, wie vorauszusehen war, auf den Eifer der Mitarbeiter erkältend eingewirkt. Immerhin sind weitere 45 Zusendungen eingegangen, so daß nunmehr im Ganzen von 270 Helfern 550 Beiträge vorliegen: ein Erfolg, wie er irgend einem ähnlichen Unternehmen in Deutschland bisher nicht geworden ist. Vor Allem der heimischen Lehrerschaft gebührt warmer Dank für opferwillige, treue Hülfe. Auch eine größere Zahl von Frauen hat hingebende Theilnahme bekundet.
Der Stoff nun, der so durch vereinte Arbeit dem heimischen Boden abgewonnen ist, wird der noch immer verbreiteten Vorstellung ein Ende machen, daß das Vereins-Unternehmen zu spät gekommen sei, daß von alter echter Ueberlieferung heutzutage nur kümmerliche Reste übrig seien. Ich kann schon jetzt mit größter Bestimmtheit sagen, daß nie zuvor aus irgend einem deutschen Lande eine solche Fülle werthwoller Volksüberlieferungen ans Licht gebracht ist: selbst Kenner unseres Volkes werden überrascht sein von dem Bilde geistigen Lebens, das das Sammelwerk enthüllen wird.


Ich zähle zur Zeit an Räthseln, Liedern, Reimen, neuen Sagen u.s.w. insgesammt 20 000 Varianten.

Das Räthselbuch ist in den letzten Jahren in erfreulicher Weise gereift und verspricht selbst hochgespannte Erwartungen zu übertreffen. Nach der Veröffentlichung meiner 17. Skizze „zum Räthselbuch“ bin ich von Germanisten mehrfach auf die enge Berührung unserer meklenburgischen Volksräthsel mit dem mittelalterlichen Volksthum hingewiesen: eben darin zeigt sich ja der unschätzbare Werth der heimischen Ueberlieferung. Gillhoff's Buch, so tüchtig es ist, hat den Besitz unseres Volkes nicht im Entferntesten erschöpft. Allein durch Hülfe von Schulkindern läßt sich das in Winkeln versteckte Erbgut nicht ans Licht ziehen; dazu bedarf es eigenen Suchens, bei dem man dem Gedächtnisse der Alten nachzuhelfen, schlummernde Jugenderinnerungen hervorzulocken vermag. Das zeigt sich natürlich gerade für die werthvollsten und ältesten Räthsel am deutlichsten: während z. B. die Räthselmärchen und Verbrecherräthsel des Gillhoff'schen Buches in 53 Varianten über die Latendorf'schen Funde nicht wesentlich hinausgehen, liegen nunmehr nahezu 500 verschiedene Fassungen dieser fast ausnahmslos in hohes Alter zurückreichenden Gebilde vor. Noch in der allerletzten Zeit sind mir völlig neue, ungewöhnlich schöne Stücke in die Hände gefallen. Auch an solchen, das Kennzeichen besonderen Alters an sich tragenden Räthseln, an deren Schluß ein Preis für die Lösung ausgelobt wird - z. B. wer dieses kann rathen, der soll's haben, wer dieses kann denken, dem will ich mein herz schenken; wer's kann wissen, der soll die goldne jungfrau küssen; wer's kann erdenken, dem will ich eine weinkalteschale schenken u.s.w. - ist eine große Zahl bekannt geworden.

An Thiersagen, Deutungen von Thierstimmen u.s.w. ist viel Neues und Hübsches hinzugekommen. Sinnvollen Aberglauben aus dem Thier- und Naturleben hat das Strelitzer Land in Fülle geliefert. In den bildlichen Ausdrücken über Wind, Gewitter, Schnee, Wolken, Regen u.s.w. hat sich alte mythologische Auffassung mit wunderbarer Frische erhalten. Für Mittheilungen über die Namen des Enterichs, ob arpel (erpel) oder waedick, waeding, waenke, waetk, wäpk, und des Sperlings, ob nur sparling oder auch lünink, lünk mit genauer Angabe der Standorte der Namen würde ich sehr dankbar sein.

Meine im ersten Bericht ausgesprochene Bitte, zur Ergänzung des Materials über Stand und Gewerk mitzuhelfen, hat guten Erfolg gehabt.

Auch an allerhand Necksprüchen über die einzelnen Gewerke und sonstigen Reimen ist viel Neues an den Tag gekommen. Neben dem Schäferstand, der sich den ersten Platz bewahrte, ist auch der Schneider als der Held zahlreicher Reime und Lieder hervorgetreten.

Nach Spottversen auf Städte und Dörfer, Teterower Stückchen, gereimten Zusammenstellungen der Bauern, Büdner, Häusler, Tagelöhner eines Dorfes, der Bewohner einzelner Straßen u.s.w. habe ich überall gesucht. Krugnamen, Namen einzelner Gehöfte, Häuser, Ackerstücke u.s.w. sind willkommen: es wird Alles einmal seinen Platz finden.

Werthvolle Leberreime haben verschiedene Herren mitgetheilt.

Die Erntekranzsprüche, 65 an der Zahl, weisen manche neue anmuthende Züge auf. Hervorhebung verdienen die Sprüche, die in Strelitz beim Bringen des Ollen üblich sind. Auch vom Hochzeitsbitterspruch liegen über 50 Fassungen vor. Die Anreden an den Ruklas, klingklas, rumpsack, rumprecker, kinnjees, Kannjees, Hele Christ verdienen sorgfältigste Sammlung. Die Bettellieder, wie sie früher überall von armen Kindern bei ihren Umzügen auf dem Lande gesungen wurden, bergen bemerkenswerte Reste alter geistlicher Liederdichtung. Fastelabendlieder scheinen sich nur auf Poel und dem Fischlande erhalten zu haben. Eine vollständige Aufzeichnung des alten Wettgesangs zwischen Winter und Sommer, von dem bisher nur kleine Bruchstücke aufgefunden sind, würde mit lebhaftem Dank begrüßt werden.

Kinderreime, Reime aus der Kinderstube, Spielreime, Abzählreime u.s.w. sind durch etwa 1000 Nummern in nahezu 4000 Varianten vertreten. An Tanzliedern, soweit sie mir als solche ausdrücklich bezeichnet wurden, zähle ich 180.