Auswanderungsbewegung.

Zionistisches Abc-Buch
Autor: Zionistische Vereinigung für Deutschland., Erscheinungsjahr: 1908
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Auswanderung, Juden, Zionisten, Auswanderungsbewegung, jüdisches Volk
Die moderne Auswanderungsbewegung der Juden ist verhältnismäßig recht jungen Datums; sie setzte erst Mitte der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts ein, hat aber seitdem eine fast ununterbrochene Zunahme erfahren. Im Gegensatz zu der Richtung der Wanderung des jüdischen Volkes seit Beginn des Mittelalters ist die moderne Auswanderung eine Bewegung vom Osten nach dem Westen.
Als Auswanderungsländer er scheinen die Wohnsitze kompakter jüdischer Massen: Rußland, Galizien und Rumänien, als Einwanderungsländer vor allem die Vereinigten Staaten und daneben England und von seinen Kolonien Kanada und Südafrika; in weitem Abstand folgen sodann Argentinien, Palästina und alle westeuropäischen Staaten, in allen drei Auswanderungsländern sind als die letzte wesentliche Ursache für die Massenabwanderung die wirtschaftlichen Verhältnisse anzusehen, die der sich rasch vermehrenden jüdischen Bevölkerung keine Existenzmöglichkeiten boten. An anderer Stelle sind die Beschränkungen dargestellt, die in den einzelnen andern des Ostens den Juden die Möglichkeit nahmen, sich den Gewerben — sei es auf dem flachen Lande oder in den Städten zu widmen, die das wirtschaftliche Fortkommen des einzelnen sichern könnten. Diese Beschränkungen, zu denen in Rußland die zwangsweise Konzentration auf ein verhältnismäßig kleines und ökonomisch zurückgebliebenes Gebiet hinzukommt, haben eine Überfüllung der von den Juden ausgeübten Berufe erzeugt, die zu einer wirtschaftlich und moralisch gleich verderblichen Konkurrenz führen mußte. So wurde die gesamte Bevölkerung dieser Länder in den Zustand „potentieller Auswanderung versetzt; die regelmäßige Abwanderung wurde dann durch Massenausweisungen, wie sie innerhalb Rußlands anfangs der 80er und 90er Jahre stattfanden, und durch die stets wiederkehrenden Ausschreitungen gegen die Juden, zeitweise außerordentlich verstärkt. Was das Ziel der Auswanderung betrifft, so muss zwischen der organisierten und nicht organisierten Auswanderung unterschieden werden. Die erstere umfasst neben den kleinen Gruppen, die aus nationalen Gründen in den 80er Jahren vorigen Jahrhunderts nach Palästina ausgewandert sind, diejenigen Auswanderer, die mit Hilfe der I. C. A. in Argentinien und durch Unterstützung amerikanischer Komitees in landwirtschaftlichen Niederlassungen in den Vereinigten Staaten angesiedelt wurden. (S. „Argentinische Kolonisation.“) Mir die Gesamtlage der Auswanderung ist sie von verschwindender zahlenmäßiger Bedeutung. Der Strom der jüdischen Auswanderung nahm seine Richtung stets nach den städtischen Niederlassung industriell hochentwickelter Länder, die den Einwandernden, und zwar zumeist in der Hausindustrie, sofortige Arbeitsmöglichkeiten boten, wenn auch bei niederem Lohn und denkbar schlechtesten Arbeitsbedingungen. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die von jeher eine ungemein starke Absorptionskraft für die europäische Auswanderung zeigten, wurden auch das geradezu selbstverständliche Land der jüdischen Einwanderung; mehr als dreiviertel aller Auswanderer seit dem Jahre 1881 haben die Vereinigten Staaten zu ihrem Ziel gehabt, und von diesen ist die überwältigende Majorität in New York selbst geblieben; nur ein kleiner Bruchteil hat sich nach den anderen Großstädten, vor allem Chicago, Boston, Cincinnati gewendet, während die direkte Auswanderung aus dem Osten nach den kleineren Städten und dem flachen Lande in den Vereinigten Staaten sich in den bescheidensten Grenzen hält; auch die Abwanderung aus den Großstädten ist überaus gering. Neben New York bot London ähnliche Einwanderungsmöglichkeiten, die hauptsächlich in den 90er Jahren ausgenützt wurden. Die ökonomische Lage der Einwanderer in den von ihnen bevorzugten Ländern und die Einwanderungsbeschränkungen haben das Interesse für andere, etwa für die Masseneinwanderung geeignete Länder frühzeitig geweckt. Die Resultate waren überaus gering. Argentinien und Kanada, die im wesentlichen nur für Landarbeiter in Betracht kommen, konnten nur eine kleine Anzahl von Juden aufnehmen und auch die Einwanderung nach Südafrika, die eine kurze Zeit in den 90er Jahren größere Dimensionen annahm, hat wieder nachgelassen.

Die Abwanderung nach den westlichen Ländern Europas außer England, hat nie einen größeren Umfang angenommen. Das den Auswanderungsländern benachbarte Deutschland hat durch rigorose Einwanderungsbeschränkungen und eine rücksichtslose Ausweisungspolitik die Niederlassung osteuropäischer jüdischer Proletarier hintanzuhalten gewußt; dagegen ist die Zahl bemittelter Juden, die auf dem Wege der Infiltration, namentlich aus Österreich nach Deutschland gelangt sind, nicht ganz gering. In Frankreich konnte nur Paris einer größeren Anzahl von Einwanderern eine Lebensmöglichkeit bieten; die Existenzbedingungen dort sind jedoch überaus kläglich und veranlassen eine beständige Fluktuation der eingewanderten Elemente. In Holland haben die Diamantschleifereien eine wenn auch recht beschränkte Einwanderung ermöglicht. In den übrigen Ländern handelt es sich nur um die gelegentliche Einwanderung einzelner, die für das Problem irrelevant ist.

Ein gewisser, wenn auch sehr geringer Bruchteil der Auswanderer kehrt in die östlichen Geburtsländer zurück; diese „Rückwanderer“ rekrutieren sich zum allergrößten Teil aus den auf Grund der Einwanderungsgesetze Zurückgewiesenen, die von den betreffenden Schifffahrt-Gesellschaften unentgeltlich bis zur Grenze ihres Heimatlandes zurückbefördert werden; dazu kommen dann noch solche, die im Einwanderungsland keinerlei Existenzmöglichkeit gefunden haben; dagegen tritt so gut wie niemals der Fall ein, daß Auswanderer, die in der Fremde zum Wohlstand gelangt sind, in das Geburtsland zurückkehren.

Die Methoden der Auswanderung haben in den 25 Jahren, seitdem die große Verschiebung nach dem Westen eingetreten ist, kaum eine Änderung erfahren. Über das Ziel der Reise herrschen jetzt natürlich, wo es kaum einen Auswanderer geben dürfte, der nicht an dem Orte, wohin er hingeht, einen Verwandten oder Bekannten hätte, nicht mehr so unklare Vorstellungen wie früher. Im übrigen aber sind die Auswanderer nach wie vor der Ausbeutung durch die Agenten so gut wie schutzlos ausgeliefert. Das Handinhandarbeiten der großen Schifffahrt-Gesellschaften mit den Behörden der Durchwanderungsländer beraubt die Emigranten de facto jedes Selbstbestimmungsrechtes. Erst in den allerletzten Jahren haben der Hilfsverein der deutschen Juden, die I. C. A. und die zionistischen Organisationen es sich angelegen lassen, durch Informationsbureaus in den Auswanderungsländern selbst und den Hauptverkehrspunkten die Auswanderer über die billigsten und zweckmäßigsten Reisemöglichkeiten aufzuklären. Ein besonderer Verdienst hat sich hierbei die „Zentralstelle für jüdische Auswandererangelegen heilen“ in Berlin erworben, die auch den Versuch macht, die Auswanderer durch allgemeine und persönliche Informationen über die jeweiligen Verhältnisse in den einzelnen Einwanderungsländern aufzuklären.

Statistische Angaben über die jüdische Migration sind fast durchgängig auf mehr oder minder vage Schätzungen angewiesen. Eine Statistik der Auswanderung wird in keinem der osteuropäischen Ländern nach Konfessionen und Nationalitäten geführt. Und von den Einwanderungsländern haben nur die Vereinigten Staaten seit einigen Jahren eine Differenzierung nach Nationen, unter denen auch diejenigen Juden auf geführt werden, die „jüdisch“ als Muttersprache angeben. Nach verhältnismäßig zuverlässigen Schätzungen sind im Lauf der letzten 25 Jahre aus Rußland etwa 800 000 Juden ausgewandert, aus Galizien 250 000 und aus Rumänien 125 000; davon sind sicherlich nicht weniger als 950 000 nach den Vereinigten Staaten eingewandert und über 100 000 nach England. Die in der Tabelle angegebenen Ziffern über die Einwanderung nach den Vereinigten Staaten in den letzten Jahren zeigen deutlich, daß die Auswanderung in fortwährender Steigerung begriffen ist und sie lassen auch erkennen, in welchem Verhältnis die Juden der einzelnen europäischen Länder an der Auswanderung beteiligt sind (siehe „Amerika als Einwanderungsland“)