St. Goar

St. Goar, 22. Sept.

Heute endlich erlebten wir einen schönen Morgen in Bingen, und benutzten ihn sogleich, um den Niederwald zu besuchen. Eigentlich schifft man zu diesem Zweck nach Asmannshausen herüber, ersteigt von dort den Berg und geht ihn bei Rüdesheim wieder hinab. Unser Schiffer aber, der uns über den Rhein bringen und hernach als Führer dienen sollte, behauptete, einen bequemern, nähern Weg zu wissen, und da der Mann übrigens ganz vernünftig zu seyn schien, so überließen wir uns seiner Führung.


Wir landeten also weit näher, unterhalb der Burg Ehrenfels, und begannen nun von da die Terrassen zu erklimmen. Diese umgeben den sehr steilen Berg im Zickzack, und auf ihnen wächst der berühmte Rüdesheimer Wein. Sehr ermüdend war es, daß wir immer eine lange Strecke längs den die Terrassen stützenden Mauern hin und her zu gehen hatten, ehe wir zu einem der hohen, stufenartigen Einschnitte in diesen gelangten, auf welchen wir uns etwa zwei Ellen höher schwangen und dann bis zum nächsten Einschnitt wieder weiter wanderten. Glücklicher Weise ist die Anhöhe bis zur Burg Ehrenfels nicht sehr beträchtlich, und so war dies bald überstanden. Der nähere Anblick der höchst malerischen Ruine, die wir täglich aus unsern Fenstern vor Augen gehabt hatten, und die wunderschöne Aussicht machten uns alle Ermüdung vergessen. Wir blickten dort tief in das wilde Felsenthal, durch welches sich der Rhein hinter dem Bingerloche windet; auch As-mannshausen sahen wir zwischen seinen Rebenhügeln, woran uns in Bingen der weit vortretende Berg hinderte. Nun aber mußten wir weiter, und zwar auf einem Wege, den ich niemanden in der Welt, als höchstens einem Gemsenjäger empfehlen möchte.

Tief unter uns brauste der durch einen plötzlich sich erhebenden Wind wild aufgeregte Rhein; fast senkrecht stieg über uns der hohe Fels mit seinen Terrassen empor, und wir mußten auf den immer schmaler werdenden Mauern ihn erklimmen, mit den Händen uns anhalten, um nicht herunter zu stürzen, und fanden oft nur eben Raum genug, um einen unsrer Füße festzustellen. So hingen wir zwischen dem Himmel und dem Rhein, ein einziger Fehltritt, ein losbröckelnder Stein, und wir waren in Gefahr, der armen Jutta in ihrem nassen Grabe Gesellschaft zu leisten. Dennoch konnten wir nicht zurück, denn an das Heruntersteigen war auf diesem Wege nicht zu denken, ja ich wagte es nicht einmal, herunter zu blicken, so schwindelerregend war mir die grausenvolle Tiefe. Wie die Winzer es anfangen, um hier die Reben zu pflegen und später die Trauben zu sammeln, ist mir unbegreiflich.

Endlich, nach einer langen ängstlich ermüdenden Stunde, waren wir oben im kühlenden Schatten des Waldes, und nie in meinem Leben habe ich mich mehr über ein schwer errungenes Ziel gefreut, als über dieses. Der ganze Wald, der den langen Bergrücken krönt, ist durch ausgehauene Gänge zu einem Park umgeschaffen. Diese gewähren hie und da wunderschöne einzelne Blicke tief in das Rheinthal hinein; besonders anmuthig ist eine Hütte, von welcher man durch eine Oeffnung des Waldes nur Bacharach und seine nächste, höchst romantische Umgebung erblickt, aber den Preis von allen trägt, näher an Rüdesheim, ein offener, von Säulen getragener Tempel davon, den ich schon von Bingen aus durch den Wald schimmern gesehen hatte. Geblendet von der mich rings umgebenden Pracht der Natur, stand ich lange in stummen Entzücken auf diesem Platz, nicht nur dem schönsten auf dem Niederwalde, sondern viellicht in der ganzen Gegend. Tief unten liegt im Vorgrunde das freundliche Rüdesheim mit seinen alten Burgen, seitwärts über dem Strom das dunkle Bingen, weiterhin die Rochuskapelle im Sonnenstrahl, ihr gegenüber, diesseits, der Johannisberg, und nun der ganze Rheingau mit allen seinen Städten und Weinbergen und Gärten und Dörfern, alle Krümmungen des prächtig hinwogenden Rheins, alle seine vielen gartenähnlichen Inseln. Der Odenwald, die Vogesen, der Donnersberg begränzen in blauer Ferne die weite Aussicht, wie leicht am Horizont hin-schwebende Wolken.

Ein zwar steiler, aber gefahrloser Weg führte uns nun nach Rüdesheim hinab, wo unser Nachen schon wartete. Der Wind war indeß beinahe zum Sturm geworden, und unser Tanz auf den wildempörten Wogen schien mir so wenig angenehm, daß ich recht froh war, als ich in Bingen wieder festen Fuß fassen konnte. Diese, aus dünnen Brettern zusammen geschlagenen platten Nachen kommen mir gar gebrechlich vor, da ich an festere größere Fahrzeuge auf dem Wasser gewöhnt bin. Sie schwimmen wie ein Strohhalm auf den oft sehr tobenden Wellen des Rheins; dennoch sind Unglücksfälle damit selten und entstehen gewöhnlich nur aus Fahrlässigkeit der Schiffer. Weit gefährlicher sind eine kleine Art von Fischerkähnen, wie die Kanus der Wilden. Diesen möchte ich mich nie anvertrauen, denn ein Hauch, dünkt mich, könnte sie umwehen, auch schlagen sie oft genug um. Die Leute hier heißen sie deshalb Seelenverkäufer, fahren aber immer lustig damit herum, und ich habe in diesen Tagen deren gewiß mehr als hundert sich durch das Bingerloch drehen gesehen. Gegen Mittag legte sich der Sturm, einzelne graue Wolken bedeckten zwar den Himmel, aber die Beleuchtung der sie durchbrechenden Sonnenstrahlen wurde dadurch nur schöner. Deshalb wagte ich es, einige Stunden später wieder den Nachen zu besteigen, um nach Sankt Gewer zu schiffen. So nennen hier die Einwohner Sankt Goa, wo ich mich in diesem Augenblick sehr wohl befinde.

Mit einem ganz eignen Gefühl wandte ich bei Bingen dem lachenden Rheingau den Rücken, um dem Rhein auf seinen fernern, dunkeln Wegen zu folgen. Hatto's märchenhafter Mäusethurm sieht in der Nähe noch schauerlicher aus, als ich aus der Ferne ihn mir gedacht hatte; gespenstisch einsam steht er mitten in den tobenden Wogen, die nun schon seit Jahrhunderten gegen seinen Felsengrund anwüthen, ohne ihn zu erschüttern. Ich glaube, daß er ursprünglich ein Leuchtturm war an dieser, ehemals so gefährlichen Stelle des Rheins, wenigstens hat er ganz die Gestalt eines solchen. Noch einen Blick warf ich im Vorüberfahren in das Nahe-Thal, auf die hübsche Brücke, die sich über die Nahe wölbt, und die sie umgebenden hohen Felsen mit den Trümmern eines alten Klosters. Ich begrüßte nochmals die Burg Ehrenfels, war nun am gefürchteten Bingerloch, und wieder drüber hinaus, ohne es beinahe gewahr zu werden, denn fast nur unmerklich schwankte der Nachen. Freilich war der Rhein sehr hoch, aber auch bei niedrigem Wasserstande ist keine Gefahr denkbar, wenn nur der Schiffer sich dem rechten Ufer nahe hält, wo die Strömung des bei alle dem graus genug aussehenden Wirbels sehr schwach ist.

Gleich hinter dieser, über Verdienst verrufenen Stelle gewährt noch am linken Ufer Asmannshausen einen freundlichen Anblick, dann aber ist es auch mit der Freundlichkeit vorbei, und die ganze Gegend gewinnt einen wilden ernsten Karakter. Von Mainz bis Bingen herrscht fröhlich blühendes Leben in der Natur, von Bingen aus weiterhin, ernstes Schweigen über Gräbern der Vergangenheit in einer bei allem Reichthum schauerlich erhabenen wilden Gegend.

Alles stimmt hier das Gemüth zu ernster Betrachtung, fast möchte ich sagen zur Schwermuth. Die vielen Ruinen auf der Höhe, die uralten Städte am Ufer sehen grau und düster aus, und die Wellen weit dunkler in diesen tiefen Schatten der Berge, als dort, wo sie im Sonnenglanz das blühende Eden des Rheingaus umspielen. Bald drängen die Berge den Rhein enge zusammen, bald breitet er sich zu einem weiten See aus, immer erfüllt er das ganze Thal und läßt zwischen den Felsen und seinem linken Ufer eben nur Raum genug für den Fahrweg. Die Städte und Dörfer ziehen sich dicht am Wasser in einer langen Reihe hin und steigen zum Theil den Abhang der Berge hinan. Reben bedecken diese an jedem sonnigen Plätzchen, alles Übrige ist dunkler Wald, und nur selten drängen sich schroff und kahl einzelne Felsspitzen an das Licht des Tages hervor. Zuweilen windet sich der Strom so wunderbar um die Felsen herum, daß diese scheinbar den Ausgang versperren, und auch, wo er breit wie ein See hinwogt, glaubt man sich oft rings von Bergen umschlossen. In manchen Momenten dünkte mir, mitten in den schottischen Hochlanden auf einem der dortigen stillen Seen zu schweben, und als müßten Hochländer, in ihren Plaid gehüllt, zwischen den Felsen hervorkommen, so ähnlich sind einige Stellen des Rheinthals jenen Gegenden, bis auf die Reben, die freilich am Loch-Lomond oder Loch-Killin nicht gedeihen.

Nun denken Sie sich zu dieser erhabenen Pracht der Natur noch die vielen malerischen Trümmer alter Burgen und Klöster, die von den Felsenhöhen ernst in das Thal blicken. Auf der ganzen Fahrt sahen wir fast immer eine, oft mehrere dieser Ruinen zugleich, und jede hat ihren eigenen, vor allen andern sie auszeichnenden Karakter der Bauart und der Umgebungen. Mir war beinahe, als durchblätterte ich eine Mappe voll herrlicher Landschaften, so schnell folgen hier die interessantesten Gegenstände einander; man hat wahrlich nicht Augen genug, um alles zu sehen. Bei jeder Krümmung des Stroms, fast mit jedem Ruderschlage öffnet sich eine neue Gegend. Bald umschiffen wir eine der vielen grünen Inseln des Rheins, bald zieht uns die mannigfaltige Gestaltung der Felsen an. Gleich hinter Asmannshausen thront eine der schönsten Ruinen, die der Burg Sonneck, auf einem hohen Felsen, unfern von ihr die einer zerstörten Kirche. Dann kamen wir dem schmalen wilden Wisperthale vorüber, das sich wie eine enge Kluft zwischen hohen Felsen windet, aus der oft ein sonderbar-flüsternder Wind gleich Geisterstimmen ertönt und zuweilen selbst in Bingen bemerkbar wird. Bald darauf zeigten sich die alterthümlich-zackigen Mauern und Thürme von Bacharach. Diese uralte Stadt sieht selbst einer großen Ruine ähnlich, so düster und grau steht sie am Ufer, wie in tiefer Trauer versunken. Aus den Ruinen einer zerstörten Kirche in ihrer Mitte steigt ein mit gothischen Verzierungen herrlich geschmückter Fensterbogen hoch über sie empor, und ähnliche Trümmer ehemaliger Pracht krönen die Felsen umher. Wild braust der Rhein über tief verborgne Klippen und spitzige Felsenriffe, schäumend brechen seine Wogen sich an den uralten Mauern der Stadt und toben gegen sie an, so daß mir dieser Teil der Rheinfahrt weit gefährlicher dünkte, als bei Bingen. Bald darauf erweitert sich der Strom und gleicht einem See, auf dem ich zu meinem Erstaunen ein großes Kriegsschiff mit ausgespannten Segeln zu erblicken glaubte. Es war die alte, mitten im Rhein erbaute Pfalzburg. Die Täuschung, welche sie hervorbringt, ist wirklich unglaublich groß; in der Ferne gleichen die vielen kleinen, über einander aufsteigenden weißen Thürme vom Winde ausgedehnten Segeln auf das vollkommenste, und das ganze Gebäude scheint wirklich zu schwimmen, weil es den Fels, auf dem es steht, überall bedeckt. Die Umgebungen dieser Pfalz gehören zu den erhabensten und schönsten auf der ganzen Fahrt. Herrlich gestaltete, zum Theil mit Reben bekleidete Felsen ziehen einen weiten Kreis rings um die silberne breite Fläche des Stroms; hart am Ufer, der Pfalz gegenüber, liegen die dunkeln Mauern der alten Stadt Kaub, wo wir anhielten, um den Zoll zu entrichten, und hoch über ihnen erheben sich die schönen Ruinen der Burg Gutenfels.

Die Sage behauptet, daß die Kinder der alten Pfalzgrafen alle in dieser schwimmenden Burg geboren werden mußten, und vor zweihundert und fünfzig Jahren soll eine dieser Fürstinnen dies wunderliche Gesetz zum letzten Male befolgt haben. Wie es möglich war, daß nur eine von ihnen die Schrecken dieses Aufenthalts in einer solchen Lage überlebte, begreife ich nicht. Die niedrigen gewölbten Zimmer gleichen einem Gefängniß, zu welchem nur spärlich das Licht des Tages durch die engen Fenster dringt, und das Brausen der ewig diese Mauern rings umtobenden Wellen muß, besonders bei Nacht, fürchterlich seyn.

Hinter Kaub folgen sich die schönsten Felsenpartien in ununterbrochener Reihe; überall sehen wir malerische Ruinen auf der Höhe und lang sich ausbreitende Städte und Dörfer im Thal, bis plötzlich die Felsen den Strom in eine enge Schluft zusammen drängen. Brausend strömen die dunkelgrünen zürnenden Wogen durch düstere Schatten, einer wunderbar sich aufthürmenden zackigen Felsenklippe vorüber, die der Lurlei-Berg heißt. Jeden Ruf der Vorüberschiffenden wiederholt hier ein fünffaches Echo, das von der Mitte des Stroms ans am deutlichsten vernommen wird. Sie können daher leicht denken, welch ein Geschrei die Schiffer hier immer erheben. Ich wollte lieber, wir hätten ein paar Waldhörner in unserm Nachen gehabt, als diese unbändigen Schreier.

Am Ende dieses schauerlich wilden Thals tobt der Rhein wieder mächtig über Klippen hin, und unser Nachen schwankte ärger, als je zuvor, dann aber kamen wir plötzlich an einen weiten stillen See, wo uns eine der schönsten Ansichten des Rheinthals erfreute. Am linken Ufer bildet das freundliche Städtchen Sankt Goar einen weiten Halbkreis; am rechten, ihm gegenüber, liegt das Dörfchen Goarshausen am Fuße köstlicher Rebenhügel. Hoch über der Stadt thronen die Trümmer der Festung Rheinfels, welche im Revoluzionskriege gesprengt ward; über Goarshausen eine alte zerstörte Burg, und seitwärts, etwas entfernter, sind noch die Ruinen zweier andern Burgen sichtbar. Ich kann Ihnen die erhabene Schönheit dieser Gegend nicht beschreiben, die jetzt beim Untergang der Sonne rosig-funkelnd vor uns lag; unmöglich war es mir, von ihrem Anblick zu scheiden, ehe der letzte Schein des Abendroths an den alten Burgen verglühte. Selbst da noch blieb ich am Fenster meines freundlichen Zimmers, und sah den zitternden Lichtern zu, welche die Lämpchen in den Hütten von Goarshausen über den Strom streuten, und dem Funkeln der Sterngebilde des nächtlichen Himmels in Westen. Jetzt ist auch das letzte Lämpchen in den Hütten verloschen, ihre müden Bewohner schlafen, kein Laut tönt mehr herüber, nur die Sterne funkeln noch, und die Wellen plätschern ihr eintöniges ewiges Lied.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ausflucht an den Rhein von Johanna Schopenhauer