Mainz

Mainz, 19. Sept.

hegestern verließen wir endlich das mir so lieb gewordene Heidelberg und eilten fürs erste über Mannheim dem Rhein zu. Anfangs kamen wir durch ein höchst fruchtbares Land und drei der größten schönsten Dörfer, so ich jemals außer England und der Schweiz sah; näher an Mannheim aber gewann die Gegend ein gar trauriges Ansehen. Ueberall fanden wir Spuren der in diesem Frühling fast ganz Deutschland verheerenden Ueberschwemmungen; Felder und Wiesen standen zu beiden Seiten des Weges noch tief unter Wasser, und in der Ferne glaubte ich überall große Landseen zu erblicken. Die in Verwesung übergehenden Pflanzen, die neuentstandenen, jetzt allmählich austrocknenden Moräste verpesteten die Luft, so, daß ich froh war, auf dem vortrefflichen Wege diesem Greuel der Verwüstung schnell vorüber eilen zu können.


Auch durch Mannheim flog ich diesmal nur hindurch, über die lange schwankende Schiffsbrücke hin, die dicht hinter der Stadt über den sehr breiten Rhein führt. Bald gelangten wir an das artige Städtchen Frankenthal, dem Kanal vorbei, der diesen dem Rheine verbindet. Der allmählich in Verfall gerathene Handel und das mit ihm sinkende Fabrikwesen dieser Stadt hat auch die Vernachlässigung dieses Kanals nach sich gezogen. Doch sieht Frankenthal mit seinen breiten Straßen und den schönen, ziemlich gleichförmig erbauten Häusern noch immer recht heiter und einladend aus. Es hat das Ansehen einer Koloniestadt, und war es auch als Zufluchtsort der aus Frankreich und Brabant vertriebenen Hugenotten. Diese brachten mancherlei Manufakturen, und durch diese Tätigkeit und Reichthum in den Ort, der jetzt nur noch mit Ueberresten seines ehemaligen Glanzes prangt. Zu Mittage langten wir in Worms an, ohne daß bis dahin die durchaus flache Gegend uns sonderliche Freude gewährt hätte. Einen großen Teil der Felder fanden wir ebenfalls noch unter Wasser, wie bei Mannheim, und alles hatte ein trauriges zerstörtes Ansehen.

Von außen sieht Worms mit seinen epheubewachsnen Türmen, seinen zackigen alten Mauern recht ehrwürdig-altertümlich aus, von innen öde und menschenleer. Keine Spur von der Kaiserpracht mehr, die vor grauen Jahrhunderten geherrscht haben mag; noch weniger eine von dem im Nibelungenlied besungenen Rosengarten, außer dem Namen, welchen noch eine Insel im Rhein führt. Wir wollten wenigstens die berühmte Domkirche sehen, in der wir noch Ueberbleibsel alter Kunst zu finden hofften, aber nur mit Mühe trafen wir in den menschenleeren Straßen jemanden, der uns den Weg zu ihr bezeichnete. Zuletzt erhielten wir von der Frau Küsterin einen Knaben, der uns die Thür des feierlich-schönen Gebäudes zwar aufschloß, aber uns weiter über nichts Auskunft zu geben wußte, so, daß wir in unserm Gasthof wieder ankamen, ohne von diesem Besuch sonderlich erbaut zu seyn, und nun so schnell als möglich vowärts eilten, um Mainz zu erreichen.

Bis Oppenheim verfolgte uns der traurige Anblick der Ueberschwemmungen und die durch sie verdorbene Luft längs den hier flachen, öden Ufern des Rheins. Ich dachte daran, daß ich mich in der Rheinebne sey, deren Anblick mich von der Bergstraße und Heidelbergs Felsen aus oft entzückt hatte, und war auf gutem Wege, über die glänzende Täuschung der Ferne allerhand erbauliche Betrachtungen anzustellen; aber in der Nähe von Oppenheim ward ich anderes Sinnes, denn hier gewinnt alles eine freundlichere Gestalt. Die Ufer des Rheins erheben sich zu reizenden Rebenhügeln, dazwischen liegen hübsche wohlhabige Dorfschaften, und alles gedeiht und blüht in üppigem Wachsthum und regem Leben. Die alte Stadt Oppenheim selbst mit ihren grauen Türmen und Mauern nimmt sich auf ihrer Anhöhe recht malerisch aus. Wir fuhren indessen nicht hinein, sondern wechselten nur die Pferde am Posthause unten vor der Stadt.

Bis hieher waren wir auf dem klassischen Boden des Nibelungenliedes gereiset, jetzt betraten wir einen klassischen Boden andrer Art, den der Weintrinker. Zuerst kamen wir nach Nierenstein, einem hübschen Dorfe, dessen weiße, mit Rebenlaub umsponnene Häuser sich in einer langen Reihe läng dem Ufer des Rheins hinziehen. Die hinter ihnen sich erhebenden Berge sind von oben bis unten mit Reben bedeckt, überall wächst Wein, wo nur ein dazu schickliches Plätzchen sich findet, aber bei alle dem begreife ich doch nicht, woher all' der Nierensteiner kommen kann, der in der ganzen Welt getrunken wird. An Nierenstein gränzt Bodenheim, an dieses Laubenheim, lauter berühmte Namen der dem freudebringenden Gott geweithen Orte, von denen einer aussieht, wie der andere. Das reinliche nette Ansehen dieser aus lauter weißen Häusern betehenden Dörfer, gegen welche das frische Grün gar anmuthig absticht, und die über und über mit Reben bepflanzten, sanft sich erhebenden Hügel, die hier den breit hinwogenden Rhein umkränzen, gewähren der Gegend ländlichen Reiz und Anmuth.

Mainz erreichten wir mit dem Anbruch der Nacht, und konnten daher erst am anderen Morgen anfangen, uns in dieser berühmten Stadt etwas umzusehen und unsere Bekannte aufzusuchen.

Ich könnte nicht sagen, daß Mainz als Stadt einen erfreulichen Anblick gewährte. Die Straßen sind größtentheils enge und winklig, die Häuser hoch und im Ganzen nicht schön, wenn man einige große ansehnliche Gebäude ausnimmt. Mit jedem Schritt stieß ich auf Spuren des alles verwütenden Krieges, auf zerstörte Gebäude und auf zerstörten Wohlstand der Einwohner, die noch immer unter mannigfaltigen, vielleicht zum Teil unabwendbaren Lasten seufzen und des heilbringenden Friedens wohl noch nicht so bald froh werden können. Für jetzt scheinen mir die Mainzer in Kleidung und Sitte weder Franzosen noch Deutsche zu seyn; auch ihre Sprache hat viele französische Wörter und Wendungen angenommen. Sie rechnen nach Sous und Franks, nennen Mainz ,,Majenze“, und die Bürgerfrauen sehen aus wie eine Pariser Bourgeoise. Sie kommen mir alle wie Kinder vor, die lange in der Fremde blieben und sich vom Vaterhause entwöhnten. Jetzt, da sie heimgekehrt sind, wissen sie sich nicht gleich wieder darein zu finden, doch wird Nachsicht und sanfte Behandlung sie gewiß bald heimisch machen, wenn der schwere Druck der jetzigen Zeit erst gehoben werden kann.

Von jeher war Mainz seiner, im übrigen so angenehmen, Lage wegen ein fester Kriegsplatz, und wird es zum Unglück der Einwohner ewig bleiben. Schon die Römer legten, um die Deutschen zu unterjochen, hier Festungen an, deren für eine Ewigkeit zusammen gekittete Mauern noch an vielen Stellen sichtbar sind. Blut benetzte von jeher diese Wälle, und zahllose Krieger aus den entferntesten Zonen fanden hier in fremder Erde ein Grab. Dies bezeugen eine Menge in Mainz und in dessen Nähe gefundner römischer Grabsteine; täglich gräbt man deren neue aus, und mit ihnen Urnen, Altäre, Waffen, Münzen und ähnliche Alterthümer aus der Römerzeit.

Zum Glück für die Altertumskunde besitzt Mainz in dem Professor Lehne einen Mann, der mit großer Einsicht und Thätigkeit alles dieses sammelt und ordnet, um es im Museum aufzustellen, über welches er als Bibliothekar ebenfalls die Oberaufsicht hat. Diese führt er mit wahrer Kunstliebe, mit Geist und Verstand, und verbindet mit solchen Eigenschaften auch noch die zuvorkommenste Bereitwilligkeit, alle seine mühsam geordneten Schätze Fremden und Einheimischen zu zeigen.

Durch die, besonders wegen vieler seltner Handschriften, merkwürdige Bibliothek, durch das Naturalien-Kabinet und die Sammlung physikalischer Instrumente konnten wir, von ihm geführt, nur flüchtig hindurcheilen. Wohl hätte uns vieles Merkwürdige auch hier bei längerem Aufenthalt angezogen und festgehalten, doch wir eilten, um in den untern Stock des großen Gebäudes zu gelangen, welches unter dem Namen des Museums alle diese Gegenstände vereinigt. Dort fanden wir nahe an hundert Legionsteine, alle der Zeit und der darauf bezeichneten Zahl der Legion nach geordnet. Sie vergegenwärtigen uns jene Tage, in welchen die Römer ihre Sklaven aus der ganzen von ihnen beherrschten Welt herbei trieben, um den einzigen frei gebliebenen Teil derselben zu unterjochen. Alles kehrt im Laufe der Zeiten wieder, nur nicht der einzelne Mensch; auch wir erlebten ein ähnliches Herbeiströmen der entferntesten Völker zum blutigen Kriege, der jetzt so glorreich geendet ist. Aus den Inschriften vieler dieser Legionsteine, welche Professor Lehne mir erklärte, sah ich, daß jetzt so mancher Tatar vielleicht auf der nämlichen Stelle, fern von seinem Vaterlande, den Tod fand, wo vor mehr als tauend Jahren sein Landsmann, vielleicht sein Urahn, verblutete. Unter allen diesen kriegerischen Denkmählern war mir auf andere Weise der Grabstein einer alten Sklavin merkwürdig, den ihre Herrschaft zum Lohn langer treuer Dienste ihr setzte. Wenn die Inschrift nicht lügt, so hat die gute Alte weit über hundert Jahre gelebt.

Außer diesen Denkmahlen sahen wir noch eine Menge in der Umgegend ausgegrabener Altäre, Votivsteine, Waffen, Urnen, Vasen und unzählige kleine Antiquitäten aufs sorgfältigste geordnet, auch einen sehr merkwürdigen antiken steinernen Sarg. Dann wurden wir von unserm freundlichen Führer zu der nicht unbeträchtlichen Gemäldesammlung begleitet, welche im nämlichen Gebäude ebenfalls unter seiner Aufsicht steht.

Eines der größten Gemälde, welche ich jemals sah, zog hier zuerst meine Aufmerksamkeit an, denn es bedeckt die ganze Wand eines nicht kleinen Zimmers. Dies Gemälde stellt den zwölfjährigen Christus vor, wie er vor den erstaunten Pharisäern und Priestern im Tempel lehrt, und ist ein gemeinschaftliches Werk von Rubens und Jordaens. In einem ihm angemessenen Lokal, mit einem goldnen Rahmen, und von Staub und Schmuz gereinigt, die es jetzt entstellen, müßte es großen Effekt machen, denn es ist ein herrliches Bild, voll Leben und Ausdruck in den vielen, höchst verschiedenen Gestalten und Köpfen. Adam und Eva, ein großes Oelgemälde von Albrecht Dürer, bestätigten mich nur in dem, was ich Ihnen früher über diesen Meister schrieb. Diese Darstellung unsrer lieben Vorältern machte mir obendrein um so weniger Freude, da die Körper dürftig und ganz gemeiner Natur sind, und Frau Eva den heillosen Apfel zwischen Zeigefinger und Daumen so zierlich hält, als irgend eine Dame des siebzehnten Jahrhunderts auf alten Familienporträten.

Manches gute Bild aus den italienischen Schulen wird hier ebenfalls aufbewahrt, aber alle trauern in Schmuz, Vergessenheit und einem durchaus ungünstigen Lokal. Ein Bilderraub wäre hier eine sehr verzeihliche Sünde, die ich fast ein gutes Werk nennen möchte; denn außer dem Professor Lehne und einigen durch Zufall herbeigeführten Fremden bekümmert sich niemand um diese Gemälde, oder thut etwas für ihre Erhaltung. Doch wird die Zeit auch hierin hoffentlich bald das Bessere herbeiführen. So sah ich hier ein paar schöne Gemälde von Hannibal und Agostino Caracci im Staub und in der Asche. Besonders lieblich ist ein Engel auf der Himmelfahrt der Maria von letzterem. Auch die heilige Agatha von Domenichino verdiente ein besseres Schicksal, eben so eine niederländische Hausfrau von Rubens, mit allerlei Thieren umgeben, die von Sneyders vortrefflich gemalt sind. Mein Diebsorgan, welches sich bis jetzt noch nie bei mir äußerte, muß hier auf eine wunderbare Weise plötzlich rege geworden seyn. Denn außer dem schon geäußerten Gedanken eines Bilderraubs im Ganzen wandelte mich beim Anblick einer sehr gewöhnlichen Landschaft noch die besondre Lust an, einen kleinen von le Sueur hineingemalten Einsiedler mit einem Stückchen seyner grünen Waldeinsamkeit aus dem großen leeren Bilde herauszuschneiden. Er müßte in dieser Gestalt ein ganz vortreffliches kleines Kabinetstück abgeben.

Den Nachmittag führten uns Freunde auf den Drususstein, welcher innerhalb der Festungswerke liegt und selbst noch einen Teil derselben ausmacht. Er ist ein uraltes, dem Drusus Germanikus errichtetes Monument, dessen einstige Gestalt sich gar nicht mehr errathen läßt. Die es ehemals bekleidenden Quadern, welche ihm eigentlich seine Form geben, sind seit undenklicher Zeit verschwunden und wahrscheinlich von den alten Deutschen zerstört, die kein Ehrendenkmahl ihrer vertriebnen Unterdrücker dulden wollten. Nur die innere felsenfeste Masse, welche das Monument ausfüllte, ist geblieben, sieht wie ein mäßig hoher kegelförmiger Hügel aus. Man hat diese Felsenmasse in spätern Zeiten ausgehölt und eine enge Wendeltreppe hineingehauen, auf der wir in tiefer Dunkelheit zum Gipfel des Steines gelangten. Dort übersahen wir die ganze Stadt mit ihren Wällen tief unter uns; über sie hinaus die Gegend nach Worms zu und den ganzen herrlichen Rheingau. Bibrich glänzte uns entgegen, und der entferntere Johannesberg; wir zählten die grünenden Inseln auf der silbernen Fläche des Rheins, und sahen dem Fahren und Gehen der ganz klein erscheinenden Gestalten auf der langen Schiffbrücke zu, welche nach dem am andern Ufer erbauten Kassel führt. Diese Art von Vorstadt von Mainz war schon zu der Römer Zeiten ein festes Kastell, wovon es wahrscheinlich jetzt noch den verstümmelten Namen führt. Die große Wassermasse des mit dem Rhein sich vereinigenden Mains gewährt vom Drususstein ebenfalls einen herrlichen Anblick; desto trauriger aber sind die Trümmer des schönen Lustschlosses, welches sonst auf der Landzunge stand, an deren Spitze die Ströme zusammenfließen. Diese einst prächtige Favorite ist jetzt nicht einmal eine schöne Ruine, nur ein unförmlicher Schutthaufen, denn kein Stein ward auf dem andern gelassen, und die sie einst umgebenden Gartenanlagen sind spurlos verschwunden.

Vom Drususstein fuhren wir wenigstens eine Viertelstunde lang zwischen engen hohen Wällen und Mauern, durch dunkle Thore, bis wir aus den Festungswerken hinaus, ins Freie und auf den Weg nach Zahlbach gelangten. Eine Festung von der Bedeutung, wie Mainz, ist doch ein belastender unheimlicher Wohnort, den ich mir nicht erwählen möchte.

Unfern des hübschen Dorfes Zahlbach erblickten wir in einer ziemlichen Anzahl ähnliche Legionsteine, wie die, so wir im Museum gesehen hatten. Sie waren das eigentliche Ziel unsrer Spazierfahrt. Hier an dem Orte, wo man sie ausgrub, hatte man sie wie auf einem Kirchhofe neben einander aufgestellt. Unter freiem Himmel auf diese Weise geordnet, von Gesträuchen und Gras umgeben, machen diese alten Steine einen gar sonderbar-interessanten Effekt, zu welchem die nicht weit davon entfernten Ueberreste eines alten römischen Aquädukts nicht wenig beitragen.Gerade um Zahlbach herum wurden die mehresten der im Museum aufbewahrten Alterthümer gefunden; alles deutet hier auf eine große Vergangenheit, aber dabei auch auf Untergang und Zerstörung.

Seit zwei Tagen, die ich in Mainz verlebte, gab ich mir vergebliche Mühe, eine anständige Gesellschaft zu finden, um mit ihr gemeinschaftlich eine Yacht zur Rheinfahrt zu miethen. Alle meine Bekannten riethen mir, mich des großen Yachtschiffes zu bedienen, welches jeden Morgen von hier abgeht, den Abend Koblenz erreicht und am folgenden Abend in Kölln landet. Sie können denken, wie ich vor der bloßen Idee einer Diligenze zuerst erschrack, aber ich werde mit meinen Bedenklichkeiten und Anstandsgründen als mit etwas Unerhörtem nur ausgelacht, denn hier zu Lande bedienen sich Herren und Damen dieser wohlfeilen und sichern Reisegelegenheit, ohne den mindesten Anstand dabei zu nehmen. Dennoch würde ich mich schwerlich dazu entschließen, wenn ich nicht heut eine sehr passende und angenehme Gesellschaft von Herren und Damen gefunden hätte, die morgen mit dieser Yacht nach Koblenz gehen will, und mich in ihren Schutz zu nehmen bereit ist. So sey es den nun gewagt, ich bestelle fürs erste unsre Plätze nur bis Bingen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ausflucht an den Rhein von Johanna Schopenhauer