politische und wirtschaftliche Lage der Juden
Da bedarf es nun einer Erklärung, warum die Juden fast durchweg die Stadtverwaltung dennoch in der Hand der Polen wissen wollen. Fast überall nämlich wurden nach dem Abrücken der Russen polnische Bürgermeister mit polnischen Beiräten eingesetzt, ohne dass die Juden wesentliche Anstrengungen machten, an der Gestaltung der neuen Verhältnisse mitzuwirken. Der Grund ist folgender: als die Deutschen bei Ausbruch des Krieges einige Gebietsteile besetzten, wurden die deutschsprechenden Juden zu Verwaltungs- und Polizeistellen vielfach herangezogen. Als dann die Deutschen das Gebiet wieder räumten und die Russen einrückten, wurden Juden, die sich zur Übernahme von Ämtern bereit erklärt hatten, von den Russen teils erschossen oder gehängt, teils nach Sibirien in die Verbannung geschickt. Seitdem haben die Juden eine begreifliche Scheu, sich zur Übernahme von Ämtern bereit zu erklären und Anschein der Deutschfreundlichkeit zu erwecken, solange sie nicht wissen, was die Zukunft bringt und unter wessen Herrschaft sie kommen werden. Vielfach dringt freilich schon heute die Erkenntnis bei den Juden durch, dass dieses Verhalten ein schwerer Fehler ist, da ja im Falle einer Rückgabe der Gebiete an Russland ihr Sein und Haben auf jeden Fall verloren ist.
Auffallend war mir, im Gouvernement Kowno und Wilna zu hören, dass von des Zaren Aufruf „An meine lieben Juden“ nicht das geringste bekannt war. Diese Tatsache bedarf noch der Klärung: man scheint auf russischer Seite auf ein Vordringen der Deutschen in diese Gebiete nicht gerechnet zu haben und hielt es darum vielleicht für überflüssig, dort Versprechungen an die Juden zu machen.
Wenn man von der wirtschaftlichen Lage der Juden in Russisch-Polen spricht, hört man häufig die Äußerung: die Juden haben das Geld und suchen durch Schacher sich zu bereichern. Wenn nun diese Tatsache auch in wenigen einzelnen Fällen richtig sein mag, so genügt hier nicht die einfache Feststellung. Begreiflich und verständlich finden werden wir die Erscheinung erst, wenn wir die Gründe dafür aufgesucht haben: Grund und Boden zu erwerben ist dem Juden erschwert, wenn nicht völlig unmöglich. Recht und Gesetz gibt es für ihn nicht in Russland. Was er erreichen will und erreichen muss, um leben zu können, kann er nur durch den Rubel von den russischen Beamten erreichen. Ohne Geld gibt es für ihn überhaupt keine Lebensmöglichkeit. Die Härten der russischen Ausnahmegesetze gegen die Juden treffen immer die Armen. Hätte der Jude nicht einiges Vermögen gesammelt, so wären jetzt schon viele Hunderttausende von den Millionen der östlichen Glaubensbrüder buchstäblich verhungert.
So sehr das Streben nach materiellem Besitz von uns bedauert werden kann, so bewundernswert ist es, dass der Jude dabei, obwohl die Gefahr ganz außerordentlich ist, weder seine sittliche Kraft, noch sein festes Vertrauen auf bessere Tage eingebüßt hat. Ich sprach mit einem Juden über die Auffassung und Lebensanschauung seiner engeren Glaubensbrüder. Der Mann hat durch die Ausweisung den allergrößten Teil seines ansehnlichen Vermögens verloren, und er sagte mir: „Für mich gilt: erst Freiheit, dann Brot.“ Und als ich ihn fragte, was er unter Freiheit verstehe, antwortete er: „Ich will lernen können, was ich will, und ich will denken können, was ich soll und will sagen können, was ich muss.“ Ich meine: solche Menschen, deren es nicht wenige in den besetzten Gebieten gibt, kann man nicht als verächtliche Schacherjuden und als Abschaum der Menschheit bezeichnen, wie es häufig geschieht.
Menschen, die bei so niederdrückenden und zerrütteten äußeren Lebensbedingungen religiöses Leben, sittliches Streben sich erhalten und unverbrüchlich an dem Gedanken und dem Glauben an eine bessere menschenwürdigere Zukunft festhalten, verdienen nicht nur unser Mitleid, sondern auch unsere tatkräftige Förderung, zumal sie nach einer Verfügung der obersten deutschen Heeresverwaltung nicht als Feinde zu betrachten sind und ihre deutsch-freundliche Gesinnung über jeden Zweifel erhaben ist. Die deutsche Verwaltung hat, wenn auch gewisse Härten, die der Krieg mit sich bringt, und die sich im Feindeslande nicht ganz vermeiden ließen, wiederholt den berechtigten Wünschen der Juden Rechnung getragen. Das deutsche Militär hat erkannt, dass es nicht schlimmer ist, ein ungewöhnliches oder verderbtes Deutsch, wie es der Jargon darstellt, zu sprechen, als polnisch.
Meine Damen und Herren! Sie werden vielleicht erstaunt sein, nach diesen Schilderungen, die doch manche recht erfreuliche Züge zeigten, eine tatkräftige Förderung der Juden in Russisch-Polen verlangt zu sehen. Wo ist da Hilfe nötig? Nun diese Menschen, von denen ich erzählte, sind in Gefahr zu verhungern und zu verkümmern, ihre Einrichtungen und Bräuche sind in Gefahr zu verderben, sie sind in den Kriegswirren in einen Strudel geraten, in dem sie versinken müssen, wenn wir ihnen nicht helfen. Der Krieg bringt es mit sich, dass im Kampfgebiet Häuser, Dörfer, Städte bis zu den letzten Grundsteinen vernichtet, dass Felder und Wälder mit Stumpf und Stiel verwüstet werden, Hab und Gut zerschlagen und zerrissen wird. Und wo der furchtbare Kampf nicht tobte, da haben die Russen, wenn sie sich zurückzogen, den Juden ihre Häuschen und Hütten über den Köpfen angezündet, Waren und Bestände fortgeschleppt, jüdische Männer und Jünglinge erschossen und aufgehängt, Greise, Frauen und Kinder vertrieben, ins Elend hinausgestoßen. Am Neujahrsfeste dieses Jahres 5676 drangen die Kosaken in die Synagoge zu Orany ein und haben 14 Juden während der Gebete mit ihren Lanzen niedergestochen. Ich kann das Elend nicht mit Worten und nicht mit Bildern schildern, das ich gesehen habe und dass Sie nun hören: Der Kownoer Rabbiner hat Recht, wenn er sagte: „Schlimm ist, von unseren Zores zu hören, schlimmer ist es, unsere Zores zu sehen, aber am schlimmsten ist, wenn man selber muss sein Päckel Zores tragen.“ Etwas des Leides wird man schon inne, wenn man kranke gebrechliche Frauen, deren Männer als russische Soldaten irgendwo gefallen sind und irgendwo vermodern, mit einer Schar kleiner Kinder in einer Hütte, die die Russen geplündert haben, in einer Hütte ohne Dach und ohne Fenster und ohne Tür im dunstigen Keller „wohnen“ sieht. Etwas des Leides wird man schon inne, wenn man die Armen bei der Brotverteilung sich drängen und gierig nach dem dargereichten Stücke schwarzen Brotes krallen sieht, nach dem Stück Brot, das den Hunger kaum eines Menschen stillen kann und das doch für eine ganze Familie reichen muss auf mehrere Tage. Etwas des Leids wird man inne, wenn man die Besitzenden sich morgens um 4 Uhr noch im Grauen der Nacht am Bäckerladen aufstellen sieht in langen, langen Reihen, um in der 8. Stunde, wenn der Bäcker öffnet, ein Pfund Schwarzbrot für 10 Kopeken zu erhaschen, das früher für 2 oder 3 Kopeken angeboten und zurückgewiesen worden wäre. Ein Stück des Elends wird man inne, wenn man die endlos langen Karawanen der heimkehrenden Flüchtlinge sieht, heimkehrend aus monatelanger, grausamer Verbannung, in der sie ihre letzte Kopeke verzehrt haben, heimkehrend zu der einst kleinen innigen Hütte von der sie nun nur einen Haufen Schutt und Asche wiederfinden. Wer die Juden einmal dort hat stehen sehen vor den Trümmern ihrer Habe, noch erhitzt und ermüdet von dem beschwerlichen Heimzug, umgeben von Sack und Bündeln, Männer, Frauen und Kinder dem Nichts gegenüber, der ist etwas des Leids inne geworden. Ich möchte gern ein Bild dieses persönlichen Elends vorführen, aber ich besitze keins: als ich einmal bei einer Brotverteilung eine Aufnahme machen wollte und ich meinen Apparat einstellte, da wandte eine Frau plötzlich ihr Gesicht ab und suchte sich zu verbergen; sie schämte sich; ich klappte meinen Apparat zusammen. Es ist auch wirklich genug, wenn man solches persönliches Elend mit eigenen Augen sehen muss, man braucht es nicht im Bilde anderen vorzuführen. Ist es nicht ein wahrhaftes Wunder Gottes, wenn solche Menschen nicht allesamt zu Verbrechern werden und sich nicht mit Gewalt und Trug zu erhalten suchen? Wie halten sich jedoch diese Elenden? Als Kowno in deutsche Hand gefallen war, da holte ein Jude aus einer Nachbarstadt von dort einige Säcke Graupen und andere Lebensmittel und brachte sie nach Suwalki zum Verkauf. Eines Tages bekomme ich durch diesen Mann einen Brief des Beth-Din in Suwalki, in dem ich gebeten wurde zu untersuchen, ob die Waren rechtmäßig in Kowno erworben worden seien. Der Verkauf der Ware durch Suwalkier Kaufleute sei so lange gesperrt, bis nicht erwiesen sei, dass diese Waren nicht aus dem Lager eines vertriebenen Kownoer Kaufmannes gestohlen worden seien. Der Nachweis des rechtmäßigen Erwerbes wurde erbracht. Glücklich kehrte der Jude nach Suwalki zurück nicht wegen des Geldes, sondern wegen seines ehrlichen Namens. Der Brief des Suwalkier Beth-Din ist mir ein wertvolles Blatt Papier geworden: der Jude verhungert lieber, als dass er auch nur den Verdacht der Teilnahme an einem Dieb-
stahl auf sich nähme.
Soll ich noch weiter schildern, wo und warum Hilfe nötig ist? Genügt es, wenn ich betone, dass die deutsche Verwaltung Hilfe erwartet von uns, dass der Gouverneur von Wilna sie mir gegenüber als dringend erforderlich bezeichnet hat, wenn nicht tausende — nein tausende werden unrettbar sein — wenn nicht zehntausende elend zu Grunde gehen sollen? Im Altersheim zu Wilna sind 400 alte Männer und Frauen untergebracht worden; dazu viele greise Flüchtlinge, die von den Russen aus ihrer Heimat herausgerissen wurden, damit sie nicht durch Spionage den Deutschen dienlich seien, darunter sah ich eine Frau von 103 Jahren. Noch 4 Wochen wird man den Greisen zu essen geben können. Was wird dann werden?
Dass die Gotteshäuser zerstört sind, dass die große Jeschibah in Slobodka, die bedeutendste Pflanzstätte talmudischen Wissens in ganz Litauen, zerrissen und zerwühlt ist bis auf den Sand des Grundes, dass man über die heiligsten Bücher, die zerfetzt und beschmutzt am Boden liegen, hinwegschreitet; ist das nicht Elend?
In einem Verein für jüdische Geschichte und Literatur bringe ich dies vor: die politische Seite dieser Fragen ist nicht meine Sache, und über zukünftige Maßnahmen kann ich mich nicht äußern. Hier im Verein für jüdische Geschichte sage ich es aber, dass für den größten Teil der Judenheit ein entscheidender Wendepunkt der Geschichte gekommen ist. Im Verein für jüdische Literatur betone ich es, dass unschätzbare Güter an jüdischem Wissen und Wesen auf dem Spiel stehen: Wohl dem Juden, heil dem Menschen, der sich rein weiß von Schuld, wenn drüben die Juden, die Menschen, die Jahrhundertelang gewartet und gehofft haben, etwa doch verloren sind.
Auffallend war mir, im Gouvernement Kowno und Wilna zu hören, dass von des Zaren Aufruf „An meine lieben Juden“ nicht das geringste bekannt war. Diese Tatsache bedarf noch der Klärung: man scheint auf russischer Seite auf ein Vordringen der Deutschen in diese Gebiete nicht gerechnet zu haben und hielt es darum vielleicht für überflüssig, dort Versprechungen an die Juden zu machen.
Wenn man von der wirtschaftlichen Lage der Juden in Russisch-Polen spricht, hört man häufig die Äußerung: die Juden haben das Geld und suchen durch Schacher sich zu bereichern. Wenn nun diese Tatsache auch in wenigen einzelnen Fällen richtig sein mag, so genügt hier nicht die einfache Feststellung. Begreiflich und verständlich finden werden wir die Erscheinung erst, wenn wir die Gründe dafür aufgesucht haben: Grund und Boden zu erwerben ist dem Juden erschwert, wenn nicht völlig unmöglich. Recht und Gesetz gibt es für ihn nicht in Russland. Was er erreichen will und erreichen muss, um leben zu können, kann er nur durch den Rubel von den russischen Beamten erreichen. Ohne Geld gibt es für ihn überhaupt keine Lebensmöglichkeit. Die Härten der russischen Ausnahmegesetze gegen die Juden treffen immer die Armen. Hätte der Jude nicht einiges Vermögen gesammelt, so wären jetzt schon viele Hunderttausende von den Millionen der östlichen Glaubensbrüder buchstäblich verhungert.
So sehr das Streben nach materiellem Besitz von uns bedauert werden kann, so bewundernswert ist es, dass der Jude dabei, obwohl die Gefahr ganz außerordentlich ist, weder seine sittliche Kraft, noch sein festes Vertrauen auf bessere Tage eingebüßt hat. Ich sprach mit einem Juden über die Auffassung und Lebensanschauung seiner engeren Glaubensbrüder. Der Mann hat durch die Ausweisung den allergrößten Teil seines ansehnlichen Vermögens verloren, und er sagte mir: „Für mich gilt: erst Freiheit, dann Brot.“ Und als ich ihn fragte, was er unter Freiheit verstehe, antwortete er: „Ich will lernen können, was ich will, und ich will denken können, was ich soll und will sagen können, was ich muss.“ Ich meine: solche Menschen, deren es nicht wenige in den besetzten Gebieten gibt, kann man nicht als verächtliche Schacherjuden und als Abschaum der Menschheit bezeichnen, wie es häufig geschieht.
Menschen, die bei so niederdrückenden und zerrütteten äußeren Lebensbedingungen religiöses Leben, sittliches Streben sich erhalten und unverbrüchlich an dem Gedanken und dem Glauben an eine bessere menschenwürdigere Zukunft festhalten, verdienen nicht nur unser Mitleid, sondern auch unsere tatkräftige Förderung, zumal sie nach einer Verfügung der obersten deutschen Heeresverwaltung nicht als Feinde zu betrachten sind und ihre deutsch-freundliche Gesinnung über jeden Zweifel erhaben ist. Die deutsche Verwaltung hat, wenn auch gewisse Härten, die der Krieg mit sich bringt, und die sich im Feindeslande nicht ganz vermeiden ließen, wiederholt den berechtigten Wünschen der Juden Rechnung getragen. Das deutsche Militär hat erkannt, dass es nicht schlimmer ist, ein ungewöhnliches oder verderbtes Deutsch, wie es der Jargon darstellt, zu sprechen, als polnisch.
Meine Damen und Herren! Sie werden vielleicht erstaunt sein, nach diesen Schilderungen, die doch manche recht erfreuliche Züge zeigten, eine tatkräftige Förderung der Juden in Russisch-Polen verlangt zu sehen. Wo ist da Hilfe nötig? Nun diese Menschen, von denen ich erzählte, sind in Gefahr zu verhungern und zu verkümmern, ihre Einrichtungen und Bräuche sind in Gefahr zu verderben, sie sind in den Kriegswirren in einen Strudel geraten, in dem sie versinken müssen, wenn wir ihnen nicht helfen. Der Krieg bringt es mit sich, dass im Kampfgebiet Häuser, Dörfer, Städte bis zu den letzten Grundsteinen vernichtet, dass Felder und Wälder mit Stumpf und Stiel verwüstet werden, Hab und Gut zerschlagen und zerrissen wird. Und wo der furchtbare Kampf nicht tobte, da haben die Russen, wenn sie sich zurückzogen, den Juden ihre Häuschen und Hütten über den Köpfen angezündet, Waren und Bestände fortgeschleppt, jüdische Männer und Jünglinge erschossen und aufgehängt, Greise, Frauen und Kinder vertrieben, ins Elend hinausgestoßen. Am Neujahrsfeste dieses Jahres 5676 drangen die Kosaken in die Synagoge zu Orany ein und haben 14 Juden während der Gebete mit ihren Lanzen niedergestochen. Ich kann das Elend nicht mit Worten und nicht mit Bildern schildern, das ich gesehen habe und dass Sie nun hören: Der Kownoer Rabbiner hat Recht, wenn er sagte: „Schlimm ist, von unseren Zores zu hören, schlimmer ist es, unsere Zores zu sehen, aber am schlimmsten ist, wenn man selber muss sein Päckel Zores tragen.“ Etwas des Leides wird man schon inne, wenn man kranke gebrechliche Frauen, deren Männer als russische Soldaten irgendwo gefallen sind und irgendwo vermodern, mit einer Schar kleiner Kinder in einer Hütte, die die Russen geplündert haben, in einer Hütte ohne Dach und ohne Fenster und ohne Tür im dunstigen Keller „wohnen“ sieht. Etwas des Leides wird man schon inne, wenn man die Armen bei der Brotverteilung sich drängen und gierig nach dem dargereichten Stücke schwarzen Brotes krallen sieht, nach dem Stück Brot, das den Hunger kaum eines Menschen stillen kann und das doch für eine ganze Familie reichen muss auf mehrere Tage. Etwas des Leids wird man inne, wenn man die Besitzenden sich morgens um 4 Uhr noch im Grauen der Nacht am Bäckerladen aufstellen sieht in langen, langen Reihen, um in der 8. Stunde, wenn der Bäcker öffnet, ein Pfund Schwarzbrot für 10 Kopeken zu erhaschen, das früher für 2 oder 3 Kopeken angeboten und zurückgewiesen worden wäre. Ein Stück des Elends wird man inne, wenn man die endlos langen Karawanen der heimkehrenden Flüchtlinge sieht, heimkehrend aus monatelanger, grausamer Verbannung, in der sie ihre letzte Kopeke verzehrt haben, heimkehrend zu der einst kleinen innigen Hütte von der sie nun nur einen Haufen Schutt und Asche wiederfinden. Wer die Juden einmal dort hat stehen sehen vor den Trümmern ihrer Habe, noch erhitzt und ermüdet von dem beschwerlichen Heimzug, umgeben von Sack und Bündeln, Männer, Frauen und Kinder dem Nichts gegenüber, der ist etwas des Leids inne geworden. Ich möchte gern ein Bild dieses persönlichen Elends vorführen, aber ich besitze keins: als ich einmal bei einer Brotverteilung eine Aufnahme machen wollte und ich meinen Apparat einstellte, da wandte eine Frau plötzlich ihr Gesicht ab und suchte sich zu verbergen; sie schämte sich; ich klappte meinen Apparat zusammen. Es ist auch wirklich genug, wenn man solches persönliches Elend mit eigenen Augen sehen muss, man braucht es nicht im Bilde anderen vorzuführen. Ist es nicht ein wahrhaftes Wunder Gottes, wenn solche Menschen nicht allesamt zu Verbrechern werden und sich nicht mit Gewalt und Trug zu erhalten suchen? Wie halten sich jedoch diese Elenden? Als Kowno in deutsche Hand gefallen war, da holte ein Jude aus einer Nachbarstadt von dort einige Säcke Graupen und andere Lebensmittel und brachte sie nach Suwalki zum Verkauf. Eines Tages bekomme ich durch diesen Mann einen Brief des Beth-Din in Suwalki, in dem ich gebeten wurde zu untersuchen, ob die Waren rechtmäßig in Kowno erworben worden seien. Der Verkauf der Ware durch Suwalkier Kaufleute sei so lange gesperrt, bis nicht erwiesen sei, dass diese Waren nicht aus dem Lager eines vertriebenen Kownoer Kaufmannes gestohlen worden seien. Der Nachweis des rechtmäßigen Erwerbes wurde erbracht. Glücklich kehrte der Jude nach Suwalki zurück nicht wegen des Geldes, sondern wegen seines ehrlichen Namens. Der Brief des Suwalkier Beth-Din ist mir ein wertvolles Blatt Papier geworden: der Jude verhungert lieber, als dass er auch nur den Verdacht der Teilnahme an einem Dieb-
stahl auf sich nähme.
Soll ich noch weiter schildern, wo und warum Hilfe nötig ist? Genügt es, wenn ich betone, dass die deutsche Verwaltung Hilfe erwartet von uns, dass der Gouverneur von Wilna sie mir gegenüber als dringend erforderlich bezeichnet hat, wenn nicht tausende — nein tausende werden unrettbar sein — wenn nicht zehntausende elend zu Grunde gehen sollen? Im Altersheim zu Wilna sind 400 alte Männer und Frauen untergebracht worden; dazu viele greise Flüchtlinge, die von den Russen aus ihrer Heimat herausgerissen wurden, damit sie nicht durch Spionage den Deutschen dienlich seien, darunter sah ich eine Frau von 103 Jahren. Noch 4 Wochen wird man den Greisen zu essen geben können. Was wird dann werden?
Dass die Gotteshäuser zerstört sind, dass die große Jeschibah in Slobodka, die bedeutendste Pflanzstätte talmudischen Wissens in ganz Litauen, zerrissen und zerwühlt ist bis auf den Sand des Grundes, dass man über die heiligsten Bücher, die zerfetzt und beschmutzt am Boden liegen, hinwegschreitet; ist das nicht Elend?
In einem Verein für jüdische Geschichte und Literatur bringe ich dies vor: die politische Seite dieser Fragen ist nicht meine Sache, und über zukünftige Maßnahmen kann ich mich nicht äußern. Hier im Verein für jüdische Geschichte sage ich es aber, dass für den größten Teil der Judenheit ein entscheidender Wendepunkt der Geschichte gekommen ist. Im Verein für jüdische Literatur betone ich es, dass unschätzbare Güter an jüdischem Wissen und Wesen auf dem Spiel stehen: Wohl dem Juden, heil dem Menschen, der sich rein weiß von Schuld, wenn drüben die Juden, die Menschen, die Jahrhundertelang gewartet und gehofft haben, etwa doch verloren sind.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus meinen Erlebnissen bei den Juden in Russisch-Polen. - Litauen