Wohltätigkeit

Zum religiösen Leben des Juden gehört die Wohltätigkeit: Wohltätigkeit an Lebenden, Wohltätigkeit an Toten. Nirgends fehlt es an Altersheimen und Waisenhäusern. In größeren Städten finden wir jüdische Krankenhäuser, die vorbildlich sind durch ihre Einrichtungen. Während der Jude in seinem eigenen Heim eine auffallende Einfachheit zeigt, ist in den wohltätigen Stiftungen in keiner Weise gespart, um denen, die von der Stiftung Gebrauch machen müssen, alle Annehmlichkeiten zu gewähren, gleichsam, als wollte man ihnen durch solche Bequemlichkeiten über den Verlust des eigenen Heims hinweghelfen. Krankenpflegevereine, Gesellschaften zur Brotverteilung an Arme finden sich allenthalben und haben, wenn sie nur die Mittel zur Tätigkeit fanden, eine segensreiche Betätigung in dieser schweren Zeit des Krieges gezeitigt. Die „heiligen Vereine“, die die Totenbestattung sich zur Aufgabe machen, sind unermüdlich, die durch ihr Alter ehrwürdigen Friedhöfe sind sorgfältig gepflegt. Die Wohltätigkeit durch Bargeldleistungen stellt zumal in der gegenwärtigen schweren Zeit an die russischen Juden ganz ungeheure Anforderungen. Es sind mir Fälle berichtet worden, wo einzelne allerdings vermögende Juden sich eine monatliche Wohltätigkeitsbeisteuer von 5.000 Rubeln auferlegten. Die Stadt Wilna hat 100.000 jüdische Einwohner, und diese 100.000 Juden haben monatelang 100.000 jüdische Flüchtlinge bei sich aufgenommen und vor dem Hungertode bewahrt.

Dabei müssen wir bedenken, dass gegenwärtig die wirtschaftliche Lage der Juden durchaus nicht günstig ist. Der Kaufmann und der Handwerker — und die Juden gehören meist diesen Berufen an — ist in seinen Einnahmen durch den Krieg bedeutend gekürzt worden. Die vorhandenen Warenvorräte wurden
schnell geräumt, neue Zufuhr selbst von einzelnen Warengattungen waren sehr erschwert, sodass manches Geschäft völlig stockte und geschlossen wurde. Der Handwerker bekam keine Aufträge, hatte auch häufig keine Rohmaterialien zur Verarbeitung. Eine weitere Verschlimmerung der materiellen Lage brachte der Umstand, dass bei Ausbruch des Krieges gerade die reichsten und leistungsfähigsten Juden aus dem Kriegsgebiet in das Innere Russlands flohen oder von ihrem Sommeraufenthalt in Deutschland weg als Zivilgefangene festgenommen wurden. Die wirtschaftliche Erhaltung wird den Juden auch dadurch erschwert, dass auf Seiten der polnischen Bevölkerung Hass gegen die Juden geschürt wird.