Talmud

Die letzte Stufe des Unterrichts bildet der Talmud. Vom 12ten Lebensjahre an etwa beginnen die Kinder der jüdischen Schule damit und bilden sich in diesem Gebiet fort bis ans Lebensende. Die Kinder, die in die höheren staatlichen Schulen zu kommen Gelegenheit haben, schlagen freilich einen anderen Lebensweg ein. Kleidung, Sprache, Sitten und religiöse Überzeugung ändern sich, und der Unterschied zwischen dem erwachsenen Intellektuellen und dem Bachur oder Kaftanjuden ist ebenso groß wie der Unterschied zwischen einem deutschen Juden und einem Kaftanjuden. Große wirtschaftliche Kräfte gehen durch die talmudische Arbeit der Männer der Judenheit verloren, aber auch hier fühlt man heilige sittliche Kraft. Und als ich in Wilna in der „Schul“, in der der Wilnaer Gaon zu beten und zu lernen pflegte, die ehrwürdigen Greise ringsum über den Talmud gebeugt und weltvergessen in die Lehren des Judentums und die Meinungen der Weisen versenkt sah, fühlte ich mit diesen Alten den ganzen Reichtum, der ihr Leben erfüllte. Ich habe auch die Erkenntnis gewonnen, dass keineswegs jeder Talmudbeflissene in Russisch-Polen glaubt, von beruflicher Tätigkeit und von der Sorge für seine Familie oder gar von der Sorge für seinen eigenen Lebensunterhalt entbunden zu sein.

Mit dem Talmudstudium in engster Berührung steht der Rabbiner, das heißt der „Raw“, der religiöse Rabbiner. Dieser Rabbiner muss, wenn er das Ansehen seiner Gemeinde gewinnen will, alle Gemeindemitglieder an talmudischem Wissen und Scharfsinn übertreffen, und jede Gemeinde hängt mit Stolz und Bewunderung an ihrem „Raw“, wenn sie die Überzeugung hat, dass er ein großer „Lamdan“ ist. Neben dem religiösen Rabbiner steht der weltliche oder Regierungsrabbiner, der die standesamtliche Verwaltung der Gemeinde und den Verkehr mit der Regierung in Händen hat. Dieser bezieht, während die übrigen Gemeindebeamten oft in unwürdiger Weise aus privaten- oder Gemeindemitteln bezahlt werden, ein staatliches Gehalt, das einen Teil der von den Juden an den Staat zu zahlenden Gebühren darstellt. Die Stellung des Regierungsrabbiners ist nicht so hoch geachtet wie die Stellung des religiösen Rabbiners. Immer aber fand ich eine vollkommene Ehrerbietung vor dem Rabbiner, nicht nur wegen seiner selbstverleugnenden talmudischen Studien, sondern auch wegen seiner aufopfernden Lebensführung. Ich erzähle kurz eine Begebenheit und darf mir wohl jedes erläuternde Wort ersparen. In einem Städtchen an der Grenze zwischen dem Gouvernement Kowno und Kurland war Benzion Feldmann Rabbiner. Ein junger Mann, geachtet wegen seiner überragenden Kenntnisse.