Synagoge, Familie

Einfachheit und Prunklosigkeit in der Synagoge und beim Gottesdienst ist das auszeichnende Merkmal, ganz im Gegensatz zu den griechisch-katholischen und römisch-katholischen Kirchen, die durch das Bestreben, sich gegenseitig in ihrem Einfluss auf die Bevölkerung zu übertreffen, sich überbieten in prunkvollen Gotteshäusern und gold- und silberstrotzender Ausschmückung ihrer Gotteshäuser. Der Geist der religiösen Einrichtungen ist dem Juden alles, die äußere Form dagegen nebensächlich.

Der religiöse Geist begleitet die Juden aus der Synagoge ins Haus und ins Leben. An der Art, wie sie ihre Feste begehen, erkennt man den Wert der Menschen. Es ist ein erhebender Anblick, wenn man am Freitag Abend die Juden durch die engen Straßen zum Gotteshause wandern und in den kleinen Stuben die Sabbatlichter durch die Fenster leuchten sieht. Ein neues Leben zieht mit dem Sabbat in die engen Stuben und die bedrückten Menschen. Bis zum Ausbruch des Krieges sind an Sabbat- und Feiertagen alle jüdischen Geschäfte und Betriebe ausnahmslos geschlossen gewesen, der Krieg und die notwendigen Forderungen der durchziehenden Truppen haben hier eine zeitweise Änderung gebracht.


Feier der Ruhetage bedeutet innigen Zusammenschluss der Familie. Der Familiensinn, die Liebe zum eigenen Blut ist eine lebenspendende Wurzel des Judentums. Frauen, deren Männer, Eltern, deren Söhne als russische Soldaten in den Krieg gezogen sind und gefangen wurden, fanden nicht Ruhe, bis sie den Aufenthalt ihrer Männer oder Kinder in Erfahrung gebracht und ihnen ein Lebenszeichen gegeben oder von ihnen ein Lebenszeichen erhalten hatten. Wie Pietät genährt wird, habe ich an einem ganz unmenschlich traurigen Fall kennen gelernt. Es war in Kalwarja: ich kam am Freitag Nachmittag in diese Stadt, die zum allergrößten Teil von den Russen selbst in Brand geschossen und zerstört war. Am Freitag Abend ging ich in die kleine Betstube, in der die wenigen überlebenden oder zurückgebliebenen Juden sich versammelten. Am Schluss des Gottesdienstes trat ein alter Mann von 75 Jahren mit einem kleinen Knaben von 4 Jahren an der Hand neben den Vorbeter und sprach dem Kinde den Kaddisch für Trauernde Wort für Wort vor. Kaum dass das Kind die Worte nachsprechen konnte, und lange dauerte dieses Gebet, aber atemlos und ohne das geringste Zeichen von Ungeduld stand die Gemeinde bis zum Schlusse. Dem Kinde war die Mutter durch eine russische Granate tödlich verletzt worden, der Vater hatte darüber den Verstand verloren und war nach 3 Tagen gestorben, der Knabe blieb mit zwei kleinen Schwestern bei seinem Großvater zurück. Ich habe ein Mädchen von 19 Jahren gesprochen, das hunderte von Kilometern zu Wagen, zu Fuß und zu Schiff zurücklegte, um allen Gefahren zum Trotz die Leiche ihres von den Kosaken erschossenen und auf dem Feld verscharrten Vaters auf einen jüdischen Friedhof zu bringen.