Schule

Die Schule Der russische Staat unterhält Schulen nur in größeren Städten, der Besuch dieser Schulen ist erforderlich, wenn der Schüler staatliche Prüfungen ablegen und Anstellung oder Betätigung in verschiedenen Berufen finden will. Den Juden ist der Besuch dieser Anstalten erschwert, oft unmöglich. Aber in keiner Stadt und keinem Städtchen, wo Juden wohnen, fehlt es an Schulen, in denen die Kinder, ohne dass der russische Staat es verlangt, vom sechsten Lebensjahre an tagtäglich mit Ausnahme der Sabbate, der Feiertage und der Ferien, in vielstündiger Unterweisung ihr Wissen und ihr Wesen bereichern. Diese jüdische Schule, Cheder genannt, die keine Karriere verbürgt, sondern nur Kenntnisse gibt, ist eine private Einrichtung eines Lehrers, der aus der Hand der Eltern die Kinder und das Schulgeld empfängt, und wenn sich auch häufig das Wort bewahrheitet, dass Melammed (Lehrer) wird, wer zu sonst nichts taugt, so habe ich doch auch Lehrer kennen gelernt von einwandfreiem erzieherischem Geschick und von hoher Auffassung vom Lehrerberuf.

Wir dürfen es behaupten und mit Stolz betonen, dass kein jüdisches Kind in Russisch-Polen ohne Unterricht bleibt, während die polnische und russische Bevölkerung eine große Zahl von Analphabeten aufweist. Wenn die Lebenslage der Eltern es nicht gestattet, das Kind einen selbstbezahlten Unterricht genießen zu lassen, so haben wohltätige Stifter dafür gesorgt, dass schulgeldfreie Schulen die Kinder aufnehmen. Während des Krieges sind die russischen und polnischen staatlichen Schulen entweder infolge der Flucht der Lehrer oder infolge der Kriegswirren geschlossen worden. Die jüdischen Schulen haben an keinem Tage den Unterricht ausgesetzt. Nur in einer Stadt habe ich es erlebt, dass man während der Beschießung durch die Russen, und zwar mit amerikanischen Granaten, von einem Versammeln der Kinder abstand, und tatsächlich sind auch während des Kampfes die Synagoge und die benachbarte Schule in Flammen aufgegangen. Die hohe Auffassung des Volkes vom Wert der Schule und des Lernens drückt sich häufig in Worten und Erzählungen aus, die man aus dem Munde von Frauen und Männern zu hören bekommt. Eine einfache Frau hörte ich zu ihrem Kinde sagen: „Wenn de wirst lerne, mein Kind, de wirst sein e Mensch.“ — Ein Kaufmann in besserer Lebenslage erzählte mir, wie er für die Unterweisung seiner Kinder gesorgt habe. Er ließ zehn der bekanntesten Lehrer des Ortes in sein Haus kommen, sprach mit ihnen und gab jedem Gelegenheit, sich über mannigfache Fragen zu äußern. Bei diesem Zusammensein fanden zunächst nur drei der Lehrer das Gefallen des Kaufmanns. In einer weiteren Prüfung wählte er den besten von den dreien als Lehrer für seine Kinder aus, noch ehe jemand wusste, dass er den Unterricht seiner Kinder beginnen lassen wollte. Dann fragte er den ausgewählten Lehrer nach dem Preis für den Unterricht, und als er die Summe erfahren, erklärte er dem Lehrer, die doppelte Summe zahlen zu wollen. Ich war nicht weniger erstaunt als wohl der Lehrer seiner Zeit erstaunt gewesen war, und erläuternd setzte der Kaufmann mir hinzu: „Der Lehrer sollte merken, dass es mir eine ernste Sache ist um den Unterricht meiner Kinder.“


Die Schulgebäude und die Einrichtung der Schulstuben sind schlicht und oft dürftig. Da ist Mangel an Licht und Luft, Mangel an allem, was wir heute als notwendige Forderungen des Unterrichtes aufstellen. Aber so oft ich in eine Schulstube trat, ob in der großen Stadt oder in kleinen Städtchen: ein heiliger Ernst um Lehrer und Schüler wehte mir entgegen.

Die Sprache des Unterrichts ist verschieden. Ich hörte Unterweisungen im Jargon und im Hebräischen und hatte eine aufrichtige Freude, als ich ein Kind von 8 Jahren auf die Fragen des Lehrers biblische Geschichte in biblischem Hebräisch in wörtlicher Zitierung der biblischen Schriftwerke erzählen hörte. Aber religiöse Fächer sind nicht etwa die einzigen Lehrfächer. Schreiben, Lesen, Rechnen, Geographie, ja auch Handfertigkeit wird unterrichtet. Die deutsche Sprache zu unterrichten war in den letzten Jahren von der russischen Regierung verboten. Dafür waren alle Schulen gezwungen, täglich eine Stunde russisch geben zu lassen. Es hätte wohl nicht lange gedauert, so wäre die Zeit gekommen, in der wir Deutsche uns in den besetzten Gebieten nicht mehr in deutscher Sprache nach diesem oder jenem hätten erkundigen können. Die Lehrziele des Unterrichtes entsprechen etwa denen unserer deutschen Volks- oder Mittelschulen. Wer weitere Studien betreiben will, muss in die staatlichen höheren Lehranstalten einzutreten versuchen, was ja, wie gesagt, den Juden infolge der beschränkten Prozentnorm nicht leicht wird. Die Unterweisung der Mädchen aus dem einfachen Volke liegt sehr im argen, aber die notdürftigste Unterweisung wird auch ihnen dennoch zu Teil. Später wachsen sie heran ohne Wissen und ohne Beruf, ein Missstand, der zu bedauerlichen Folgeerscheinungen führt. Die Mädchen aus wohlhabenden Häusern dagegen besuchen Mädchengymnasien oder Konservatorien, suchen und finden aber auch zumeist keine berufliche Betätigung. Schuld auch daran ist die russische Regierung, die alle Wege versperrt und das Elend der unterworfenen Bevölkerung wünscht. Nach dem Einrücken der Deutschen haben jüdische Frauen und Mädchen in den Lazaretten als Pflegerinnen und in den Wohlfahrtseinrichtungen als Helferinnen sich glänzend bewährt.