Aus meinen Erlebnissen bei den Juden in Russisch-Polen. - Litauen

Autor: Dr. Sali Levi Feldrabbiner, Erscheinungsjahr: 1916

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russisch-Polen, Litauen, Juden, Ostpreußen, Zustände, Schule, Talmud,
Russisch-Polen nennen wir das Land, von dem ich Ihnen erzählen will. Das engere Gebiet, das ich in meinem heutigen Vortrage als Russisch-Polen bezeichne, nämlich Littauen, verdient allerdings nur in weiterem Sinne diese Bezeichnung, insofern als das littauische Gebiet ehemals einen Bestandteil des polnischen Reiches bildete. Sitten und Gebräuche, Sprache und Denkart sind aber zwischen Polen und Littauen derart verschieden, dass man diese Gebiete nicht als einheitliche betrachten dürfte. Allein die unverkennbare Anstrengung des Polentums, in dem gesamten Gebiet vom äußersten Ost- und Westpreußen an, dann an der Posen-Schlesischen Grenze entlang bis hinunter an die österreichischen nordöstlichen und östlichen Vorländer seinen Einfluss zu stärken, hat uns daran gewöhnt, von einem gemeinsamen Russisch-Polen zu sprechen. Meine Tätigkeit in der Ausübung der Seelsorge brachte mich hauptsächlich in litauisches Gebiet, wenn auch der südliche Teil einen sehr starken polnischen Einschlag und das übrige Gebiet eine nicht geringe Beeinflussung durch Polen aufweist. Das Gebiet, von dem ich erzähle, hat seine Grenze im Süden ungefähr östlich von Lyk, im Norden am Njemen oder der Memel, die Ausdehnung von West nach Ost hat sich im Laufe der Monate entsprechend unseren militärischen Erfolgen vergrößert.

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Wenn ich nun von Erlebnissen in diesem Gebiet berichten will, so werde ich selbstverständlich nicht Anekdoten aneinanderreihen. Unter Erlebnis verstehe ich vielmehr die äußere Wahrnehmung verbunden mit innerer Erfahrung und Bereicherung unseres Wissens von Menschen und Dingen.

*) Vortrag, gehalten im Verein für jüdische Geschichte u. Literatur in Breslau am 25. Oktober 1915.

Die Erlebnisse verschiedener Menschen im gleichen Gebiet und zu gleicher Zeit sind zwar verschieden, weil zur Aufnahme und Verarbeitung gewisse Voraussetzungen erforderlich sind, wie Vertrautheit mit den Daseinsbedingungen des Landes und der Bewohner, und mit dem geschichtlichen Werden, und diese Voraussetzungen sind bei den Menschen viel zu verschieden, als dass die Erlebnisse gleichartig sein könnten. Damit ist angedeutet, dass, wie alle Erlebnisse, auch die meinigen bei den Juden in Russisch-Polen, eigener Art sind und einen subjektiven Anstrich haben. Trotzdem glaube ich aus den Erlebnissen das eine oder andere herausgreifen und schildern zu dürfen, weil uns Juden das Leben und Ergehen der Millionen östlicher Glaubensbrüder, die uns ostdeutschen Juden die nächsten Nachbarn sind, ganz besonders am Herzen liegt und wir, auch wenn wir nicht mit eigenen Augen es sehen können, den Wendepunkt in ihrer Geschichte, den die großen Weltereignisse bringen, kennen lernen möchten.

Die Juden in Russisch-Polen sind leider nicht organisiert. Der russische Staat, unter dessen drückender Herrschaft sie bis jetzt lebten, wünschte keine Organisation, weil Zusammenschluss Kraft bedeute. Und so finden wir in den jüdischen Ansiedelungsgebieten Gemeinde an Gemeinde gereiht, die in keinerlei Zusammenhang mit einander stehen. Gemeinden können wir diese Niederlassungen aber eigentlich auch nicht nennen, denn der Begriff Gemeinde hat eine Gemeinschaft und Geschlossenheit der Mitglieder zur Voraussetzung. Ganz richtig müssten wir sagen: wir finden in den Städten des Gebietes — auf Dörfern ist ihnen ja die Ansiedelung offiziell verboten — zahlreiche Juden, die häufig bis über 50% der Gesamtbevölkerung ausmachen, wir finden Synagogen in großer Zahl, in denen zahlreiche Juden beten und finden eine nicht geringere Zahl von Lehrhäusern und Schulen, in denen alte und junge Juden lernen. Als Gemeindeeinrichtungen aber sind nur die Schächthäuser, die rituellen Badeanstalten und die Friedhöfe anzusprechen. Eine Zusammenfassung der jüdischen Kräfte kann ausschließlich da, wo es glückt, von Seiten des Rabbiners erfolgen. Es ist für den deutschen Juden niederdrückend, die Zerrissenheit und Schwäche der jüdischen — nennen wir‘s „Gemeinden“ in Russisch-Polen zu sehen, denn wenn auch wir noch keine staatliche Gesamt-Organisation aufweisen können, so sind doch unsere Gemeinden in den wichtigsten - Einrichtungen religiöser Art und in der Verwaltung zusammengeschlossen und durch Verbände über Provinzen und das Reich hin in Zusammenhang. Aus der Tatsache der Zerrissenheit wird nun dem osteuropäischen Juden der Vorwurf gemacht, dass es ihm an dem Willen und der Fähigkeit zur Organisation fehle. Unordnung sei ein Grundzug seines Wesens. Ich verschweige nicht, dass der erste Eindruck eine solche Auffassung zeitigen könnte; ich habe aber Erfahrungen gemacht, die das Gegenteil beweisen. Wo der russische Jude, wie bei der deutschen Zivilverwaltung, die der militärischen Besitznahme folgte, in den Regierungsmaßnahmen die Absicht zur Förderung und gerechten Behandlung erkennt, ist er zur Aufgabe seiner verrotteten Zustände und zu eifriger Mitarbeit an bessernder Neuerung bereit. Ich greife zwei Beispiele, die zugleich die Zustände nach verschiedenen Richtungen hin beleuchten, zum Beweise heraus.

In Suwalki, wo ich viele Monate meinen Sitz hatte, habe ich eine Organisation der Gemeinde angebahnt, und da fand ich es ungerechtfertigt, dass die Schächter in einer Zeit, wo alle Gemeindemitglieder sich in ihrer Lebensführung einschränken mussten, fast ungeminderte Einnahmen aus den Schächtgebühren aufzuweisen hatten, die nicht unbedeutend waren, und dass die Dajjanim, die das jüdische Recht handhaben, aus der Hand der Schächter ihre wöchentlichen Gebühren von 10 Rubel empfingen. Ich berief eine Versammlung von Vorstehern ein, sprach mit den Dajjanim und den Schächtern, legte die Gründe gegen diese Einrichtung dar, wies auf die bedenkliche materielle Abhängigkeit des Dajjan von dem Schächter hin, des Dajjan der als entscheidende Instanz, selbstverständlich auch in Schächtfragen, unabhängig sein müsste von seinen Rechtsparteien, und wir einigten uns in wenigen Tagen dass ein Schächtausschuss aus Gemeindemitgliedern eingesetzt wurde, er aus der Hand der Fleischer die Schächtgebühren empfing und aus den eingegangenen Summen Schächter und Dajjanim monatlich bezahlte.

In der gleichen Stadt wurde auf Grund einer Verfügung der Zivilverwaltung der allgemeine Schulzwang eingeführt. Der Schulzwang bedeutete an sich keine einschneidende Neuerung für die Juden, wie wir noch sehen werden, aber mit dieser staatlichen Schulpflicht war eine Änderung des jüdischen Schulwesens insofern verbunden, als die Privatschulen zu Schulen unter staatlicher Aufsicht und die Dutzende freier Privatlehrer mit verschiedenem und teilweise recht hohem Einkommen zu abhängigen, beaufsichtigten und nach einem Gehaltsplan bezahlten Lehrern wurden. Noch ehe die Verfügung der deutschen Verwaltung herausgekommen war, hatte ich mit den Lehrern die notwendigen Vereinbarungen getroffen. Ohne die geringsten Schwierigkeiten wurde die Organisation durchgeführt, mancher Lehrer büßte eine erhebliche Summe seines bisherigen Einkommens ein, aber bereitwillig kam man entgegen aus Freude über die Fürsorge des Staates und mit dem Bewusstsein, dass es des Lehrerstandes würdiger sei, die Kinder zum Unterricht überwiesen zu erhalten, als sie sich zusammenzuholen, und in der Erkenntnis, dass ein gleichmäßiges, einheitliches Schülermaterial bessere Lehrerfolge verbürge. Eine Neuorganisierung des Gemeindeetats war mit dieser Neuerung verbunden, neue Schulräume und Schuleinrichtungen mussten geschaffen werden, aber die Juden, obwohl sie 900 Kinder gegen 800 katholisch-polnische und 65 protestantische unterzubringen hatten, waren als erste mit den Vorbereitungen fertig geworden, und dies in einer Zeit, in der die führenden Persönlichkeiten nicht zugegen waren. Es sind dies nicht die einzigen Fälle von bereitwilliger Mitarbeit an Neuschöpfungen und von Organisationsfähigkeit, die ich kennen gelernt habe. Wenn man, wie gesagt, mit Bedacht an die Lösung von Fragen herangeht, bleibt der Erfolg nicht aus.

So unerquicklich vielleicht der erste Eindruck von den Zuständen bei den russisch-polnischen Juden ist, so fesselnd und zur Arbeit reizend wird jeder neue Schritt in das Leben dieser Menschen. Der Jude in Russisch-Polen ist, wie es einmal ausgesprochen wurde, ein ungeschliffener Edelstein. Unscheinbar, hässlich und abstoßend, wenn man nur auf das Äußere sieht, aber leuchtend und erfreuend, wenn man in den Kern eindringt. Die Grundlagen seines wertvollen Kernes sind Schule und Synagoge, wobei ich Synagoge nicht als einen Platz äußeren und äußerlichen Gottesdienstes, sondern als den Sammelpunkt und die Zusammenfassung der jüdisch-religiösen Lebensführung begreifen möchte.

greiser Jude aus dem Osten Europas

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greiser Jude aus dem Osten Europas 02

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greiser Jude aus dem Osten Europas 03

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greiser Jude aus dem Osten Europas 07

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greiser Jude aus dem Osten Europas 08

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junge jüdische Frau

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jüdisches Mädchen

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