Fortsetzung

Auf Sonnenschein folgt Regen! Er sollte auch uns nicht ausbleiben. In Salzburg angekommen, erfuhr ich vom Polizeikommissär, mein Pass laute auf Salzburg, hiermit sei meine Reise zu Ende. Ich reiste auf einen kgl. preuß. Ministerialpass, in welchem Salzburg als Richtung der Reise, aber mit einem „und weiter" angegeben war. Ohne neue Visa eines österreichischen Gesandten konnte ich nicht weiter, und so entschloss ich mich, um diese zu erlangen, nach München zu gehen, und versprach meinen Reisegefährten, nach fünf Tagen mit ihnen in Berchtesgaden zusammenzutreffen. Es war eine hübsche Aufgabe, vier Tage nacheinander je zehn Meilen, dazwischen am Münchner Rasttag eine große Anzahl Gänge zu machen zur Erlangung der Visa! Sie ward gelöst, die Reise von Berchtesgaden aus gemeinschaftlich über den Hirschbüchl ins Pinzgau fortgesetzt.

Unsere Absicht war, über die Nassfelder Tauern ins Pustertal zu gehen; allein in Gastein erfuhren wir zu unserem Leidwesen, es sei so tiefer Schnee gefallen, dass ein Übergang unmöglich wäre. Wir mussten umkehren und wandten uns nun von Lend aus westlich durchs Pinzgau nach Kriml. Wir kamen im Dorfe zeitig genug an, um noch den nahen großen und schönen Wasserfall aufzusuchen. Hier hatten wir ein kleines Abenteuer, das uns lächerlich genug dünkte. Während wir der scheinbar in weiten Gewandfalten über die Felswand ausgebreiteten Wassermasse und ihrer sanften Bewegung zusahen, trat aus dem Gebüsch ein Polizeisoldat vor und an uns heran und frug nach unseren Pässen. Ich reichte ihm den meinigen, bemerkte aber sogleich, dass er ihn nicht las, oder lesen konnte, denn er hielt ihn verkehrt. Dann sagte er, ohne die andern Pässe in die Hand zu nehmen, mir pfiffiger Miene: „Hab' schon die Ehre zu kennen, von Linz her", und ging weiter. Wir waren zu harmlose Wanderer, um uns dabei etwas Besonderes zu denken; nur als ich im Wirtshaus auf meine Frage an den Wirth, ob der dasige Gensd'arm kürzlich in Linz gewesen, eine verneinende Antwort erhielt, kam mir ein flüchtiges Bedenken.


Doch unsere Gedanken nahmen sehr bald eine andere Richtung, als wir die Bekanntschaft einiger Viehtreiber machten, die den Vorsatz hatten, am nächsten Tag mit einer Herde Hornvieh über die Tauern zu gehen. Natürlich schlossen wir uns an; denn gerade auf die Alpenhöhen und einige Beschwerden und Fährlichkeiten war unser Sinn vornehmlich gerichtet. Letztere waren nicht groß; aber an Beschwerden hatten wir keinen Mangel. Wer mit einer Anzahl Viehtreiber eine Nacht in einem Bauernhaus zugebracht, wird davon zu erzählen wissen, wenn ihm auch nicht im Schnee das Schuhwerk erweicht worden und von den Füßen gefallen sein sollte, wie mir damals. Aber alle Leiden waren vergessen, als uns das liebliche Pustertal aufgenommen, in welchem wir nun mit immer wachsender Lust hinabwanderten, mit der frohen Hoffnung, in Bozen und Meran halbitalische Luft und Landschaft und süße Trauben in Fülle zu finden. Wir wurden unsanft aus unsern Träumen aufgeweckt!

Am 27. September, am Abend eines der schönsten Herbsttage, die den Himmel auf die Erde zu bringen scheinen, waren wir in Clausen angekommen und hatten im Gasthof zum weißen Rössel freundliche Aufnahme gefunden. Gegen Mitternacht wurde ich aus dem Schlaf aufgerüttelt. Ein Herr in Uniform trat in Begleitung einiger andern Männer an mein Bett, erklärte mich nebst meinen Reisegefährten „auf höheren Befehl" für Gefangene, nahm alle Reiseeffekten von uns zu sich, und ließ, nachdem er den Tatbestand zu Protokoll gebracht und sich entfernt hatte, sechs Mann Wache bei uns zurück.

Wir waren in der Tat wie aus den Wolken gefallen, und Keiner von uns konnte nur im Entferntesten einen Grund der über uns verhängten Maßregel erraten. Harmlosere Wanderer konnte es nicht geben; wir waren glücklich in Wanderlust, im Genuss der herrlichen Natur, in gegenseitiger Freundschaft und Erheiterung, waren mit keiner Seele in Streit gekommen, hatten auch nirgend politische Gespräche geführt und waren den Passvorschriften aufs Pünktlichste nachgekommen. Nur eine Vermutung blieb offen: ich halte die malerische Ansicht des Klosters Seben bei Clausen und seiner Umgebung in mein Skizzenbuch gezeichnet, und in Erinnerung an das Verfahren der Budweiser Polizei tauchte in uns der Verdacht auf, dass hier der Frevel durch mich geschehen sei, der uns um unsere Freiheit brachte. Es war ein Irrtum.

Am andern Morgen wurden wir ins Verhör geführt, aber abgesondert vernommen. Auch nun kam keinerlei Anklage zum Vorschein; die an mich gerichteten Fragen waren großenteils durch den Pass beantwortet. Nur zwei derselben gingen weiter und deuteten auf Veranlassung unserer Gefangennahme: ich sollte angeben, mit welchen Personen wir auf der Reise zusammengetroffen und was wir mit ihnen und unter einander gesprochen. Letztere Frage war so albern, dass der Landrichter — das war auch der uniformierte Herr der Nachtscene — selber lächeln musste; die erstere ließ sich natürlich auch nur unvollständig beantworten, da der Personen so viele, aber meist (für unser Gedächtnis) namenlose gewesen, mit denen wir in gewöhnlichen Reiseverkehr gekommen. Alle diese Fragen erwiesen sich auch sehr bald als leere Formalität, und der Landrichter, ein humaner und verständiger Mann, dem die Verhandlung offenbar peinlich war, äußerte mir geradezu: „Ich sehe, man hat mir eine sehr unangenehme Arbeit und Ihnen eine ganz unnötige Störung Ihrer Reise gemacht. Ich bin aber nur eine Vollzugsbehörde und muss höheren Befehlen gehorchen. Diese lauten dahin, dass Sie Ihre Reise nicht nach Bozen fortsetzen dürfen, dass Sie vielmehr auf dem kürzesten Wege nach Innsbruck gehen, nicht aber in Gemeinschaft wie bisher. Graf Colloredo und H. Pichler werden noch heute dahin abreisen; Sie werden Clausen erst morgen verlassen. Aber ich erlaube mir, Sie Nachmittag zu einem Spaziergang einzuladen, da Sie Freund von landschaftlichen Schönheiten zu sein scheinen." Auf meine wiederholte Anfrage nach dem Grund des gegen uns eingeschlagenen Verfahrens erfuhr ich nichts Anderes, als „es geschehe auf höheren Befehl"; dieser selbst aber ward mir nicht gezeigt, noch mitgeteilt, von wem er ausgegangen.

Ein kurzer Abschied ward den drei Freunden gestattet; er war — nach so froh verlebten Tagen herzlicher Gemeinschaft — bitter genug. Der Nachmittagsspaziergang (ins benachbarte Kapuzinerkloster) war sehr schön; der Landrichter benahm sich durchaus gut, stellte auch keine Wache mehr vor meine Tür im Wirtshaus, und so hoffte ich das Schwerste hinter mir zu haben.

Am andern Morgen wurde ich noch einmal aufs Landgericht geladen. Der Landrichter eröffnete mir, ich würde — da ich es wünschte — meine Reise zu Fuß machen, ein Diener in Zivil würde mich begleiten und meine Sachen tragen. Mein Einverständnis damit hatte ich durch meine Unterschrift kund zu geben. Man ließ mir meinen mineralogischen Stock und meine Zeichenmaterialien, dazu die Landkarte und ein Buch zum Lesen, nicht aber meinen Pass; „Ihn hat der Führer", hieß es. Die Reise ging trefflich von statten; das Wetter war günstig und der Führer ein ganz ordentlicher Tiroler. In Brixen ward ich aber nicht, wie ich wünschte, in den „Elephanten", sondern ins' Polizeigebäude geführt und, nach stundenlangem Stehen in einem Vorraum, endlich von einem alten Männchen durch dunkle Klostergänge — in ein Wirtshaus? nein! — in ein Gefängnis gebracht. Es war ein kleiner Raum von etwa 6 Fuß im Quadrat, mit einer Pritsche an der einen Wand, einem halbzerbrochenen Wasserkrug daneben, einem ganz zerbrochenen, aber vergitterten Fenster darüber. Mein altes Männchen nahm mir „auf höheren. Befehl" Alles ab, was mir der Landrichter in Clausen noch gelassen hatte, wünschte mir freundlich „Lebewohl" und verschloss und verriegelte meine Türe.

Auf diese Anwendung des seinem Wortlaut nach ganz unverfänglichen Spruches des Clausener Landgerichts war ich nicht gefasst. Nachdem man mich etwa eine Stunde oder länger meinen Gedanken überlassen, kam das alte Männchen mit einem (wohl seinem) allen Weibchen und einer Schüssel Wassersuppe, die sie mich einluden, mit „gutem Appetit" zu verzehren, wozu ich mich bereit finden ließ, da eine Wahl mir nicht gelassen war. Es waren gutmütige Leute, die mir durch ihre Gesellschaft wenigstens eine Stunde lang die Kerkerhaft erträglicher machen wollten. Wieder allein hinter Schloss und Riegel, streckte ich mich aufs Lager und suchte im Schlaf Vergessen der widrigen Gegenwart. Durchs offene Fenster tönte Tanzmusik und gab mir mit der Vorstellung fröhlicher und freier Menschen angenehme Traumbilder, die mich bis zum Morgen umgaukelten. Da weckte mich Kettengerassel vor meiner Thür. „Wo kommt er hin?" hörte ich fragen, und die Antwort: „nach Innsbruck aufs Zuchthaus!" Mir ward nicht wohl dabei zu Mute; denn wo hatte ich Aussicht auf irgend einen Beistand? Die Kerkertür ward geöffnet, aber sogleich wieder geschlossen: ich war nicht die gesuchte Person. Eine Stunde später ward ich zur Weiterreise abgeholt, die unter den Verhältnissen, wie von Clausen aus, stattfand. Der Weg war eben so erfreulich durch landschaftliche Schönheiten, als interessant durch geschichtliche Erinnerungen an den Krieg von 1809, den mein Führer als Tiroler „Aufständischer" mitgemacht.

Schon Tags zuvor hatte ich bemerkt, dass ein Wagen mit zwei Personen in einiger Entfernung mir und meinem Begleiter gefolgt war. Heut fuhr er vor uns her, und bald sah ich, dass der eine der Passagiere in Ketten war. Es war der für das Innsbrucker Zuchthaus bestimmte Arrestant, ein — wie mein Führer mir sagte — verurteilter, seiner Haft entsprungener und wieder eingefangener Strauchdieb. Ich sollte bald seine nähere Bekanntschaft machen.

In Sterzing, im Polizeigebäude — von einem Wirtshaus war keine Rede mehr — um 11 Uhr Vormittags angelangt, drang ich sogleich auf Weiterreise, da das Wetter unvergleichlich schön war und ich sehnlichst wünschte, aus der höchst unangenehmen Lage, in die ich ganz unverschuldet gekommen, mich befreit zu sehen. Meine Bitten und Vorstellungen fanden kein Ohr. Neben dem Zuchthäusling stand ich vor dem tauben Polizeikommissär, und als ich endlich noch einmal ihn eindringlich frug: „Ist's wahr, dass ich heute nicht Weiterreisen soll?" antwortete er: „das wird Er gleich sehen!" zog die Klingel, und nun traten zwei baumstarke, riesige Tiroler ein mit Schlüsseln und Stöcken und kommandierten „Arrestanten! Marsch!" und so wurde ich mit dem Verbrecher zugleich abgeführt. Nachdem dieser untergebracht worden, geleiteten mich die Polizeiknechte durch einen langen, dämmerigen, feuchten Gang bis vor eine kleine vergitterte Türe, schlossen diese auf, stießen mich in das dahinter befindliche Loch, und verwahrten alsbald wieder die Türe mit Riegeln und Schlössern. Dafür also hatte ich mich nach den Tiroler Bergen und seinem Kernvolk gesehnt; dafür hatte ich den Bacchuszug nach Indien mit Aufwand all meiner Gelehrsamkeit, und mit gutem Erfolg beschrieben, um hier hinter feuchten Gefängnismauern Betrachtungen anzustellen über die Ergötzlichkeiten einer Reise durch kaiserliche Lande! Zuerst war von meinen Sinnen nur die Nase in Anspruch genommen durch den in dem Loche herrschenden pestilenzialischen Geruch, der kaum zu atmen gestattete. Als sich das Auge etwas an das Dunkel um mich gewöhnt, nahm es eine Art Lager wahr. Ich versuchte mich darauf zu strecken; aber im Augenblick wurde ich von gierigen Ungeziefer derart überfallen, dass ich in aller Hast mich flüchten musste. Wohin ich jedoch trat, empfing mich nur größeres Ungemach, der Kerker war — vielleicht seil undenklichen Zeiten nicht gereinigt — durch den in einer Ecke stehenden überlaufenden Kübel zu einem Kotloch geworden.

Nach einer Stunde kamen die beiden Polizeiknechte, mich „zum Essen" abzuholen. Sie führten mich in ein tiefer liegendes Gefängnis. Da fand ich den Zuchthäusler in Ketten auf faulem Stroh; vor ihm stand ein hölzerner Napf mit einem — Hundefutter. Das sollte ich mit ihm gemeinschaftlich genießen. Abgesehen davon, dass der Mensch nicht nur den Stempel des ganz gemeinen Verbrechers, als welcher er verurteilt worden, auf seinem Gesichte ausgeprägt trug, so war auch sein Anblick so ekelerregend durch die Zeichen der scheußlichsten Krankheit um Mund und Nase, dass ich entsetzt zurücktrat und zum Kommissär geführt zu werden verlangte. Dies ward mir verweigert oder für unmöglich erklärt, aber als ich entschieden mich widersetzte, mit jenem Mitgefangenen aus demselben Napfe zu essen, gestattet, in meinem Kerker aus einem besonderen Napfe die Mittagskost zu nehmen. Es war ein Mahl, um das mich kein verhungernder Hund beneidet hätte, und ich habe zum Andenken daran den getrockneten Teig eingesteckt, den man mir als Brot zum Wasser gereicht.

Bald war ich wieder allein in meinem Kerkerloch. Der Gang vor demselben lag unterhalb der Straße und erhielt einiges Licht durch eine Art Kellerfenster. Ein Schimmer davon drang auch in mein Verließ und erzählte mir von der Lieblichkeit der Nachmittagssonne und der Pracht der von ihr überglänzten Alpenlandschaften. Zuweilen hörte ich die Tritte der auf der Straße Vorübergehenden; im Hause aber herrschte Totenstille. War es die Phantasie, die mich auf den Schwingen verstohlen eindringender Lichtstrahlen ins Freie trug, auf die sonnigen Felsenhöhen, zu rauschenden Waldbächen, grünen Matten und schneeigen Gipfeln und allen Naturschönheiten des Landes meiner Sehnsucht; war es der ungeheure Kontrast zwischen dieser Sehnsucht und der Lage, in die sie mich geführt, oder das Bewusstsein gänzlicher Schuldlosigkeit — da mir auch nicht das Geringste, nicht das lumpigste Polizeivergehen, etwa die Unterlassung einer Polizeivisa oder dergleichen vorgeworfen werden konnte, noch vorgeworfen worden war — gegenüber einer brutalen, aber ganz unangreifbaren Gewalt: kurz, mich durchdrang plötzlich eine innere Freudigkeit, vor der das Dunkel meines Verließes schwand und seine Mauern wichen. Ich musste mir Luft machen im Gesang, und nachdem ich Luthers „Feste Burg" mit aller Inbrunst durchgesungen, holte ich meinen ganzen Liederschatz hervor, geistlich, weltlich, Kriegslieder, Volkslieder, Studentenlieder, von „Lützow's Jagd" bis zum „Bursch von echtem Schrot und Korn" und dem „Käfer, der auf dem Zaune saß, und fand gar kein Ende; denn zu meiner eigenen Überraschung fiel mir immer wieder ein neues ein.

Endlich — es war längst stockfinstere Nacht geworden — schien doch die Natur erschöpft und verlangte Ruhe. Das Strohsacklager mit seinem lebendigen Inhalt hatte keinen Reiz für mich; ich tastete mich in den dem Kübel entgegenstehenden Winkel, quetschte mich stehend in die Ecke und verlor bald die wirkliche Welt aus dem Bewusstsein. Aber nach einiger Zeit mochte ich auch das Gleichgewicht verloren haben: ich erwachte, am Boden in einer Schmutzlache sitzend. Zugleich vernahm ich, wie draußen an die Gangfenster heftige Regengüsse anschlugen und der Wind durch die Straße pfiff. Es war Morgen geworden, und bald hörte ich das Gerassel der Schlüssel, die meine Kerkertüre öffneten. Nach dem Genuss einer Suppe, wie der gestrigen, ward ich hinabgeführt. Vor dem Polizeigebäude hielt ein Karren, auf welchem bereits der mehrgenannte Sträfling angekettet saß. „Aufgesessen!" herrschte der Polizeiknecht mich an. „Das tue ich nicht!" war meine Antwort. „Ich setze meine Reise nach Innsbruck zu Fuß unter Begleitung eines Führers fort. Das allein habe ich unterschrieben. Mir ist nicht das Geringste zur Last gelegt, und Ihr wollt mich wie, einen gemeinen Verbrecher behandeln. Ich verlange den Herrn Kommissär zu sprechen." Statt aller Antwort tat einer der Polizeiknechte einen Pfiff; Beide aber packten mich mit Gewalt, hoben mich auf den Karren und setzten mich neben den Sträfling. Im selben Augenblick wurde aus dem obersten Stockwerk des Gebäudes eine Kette geworfen, und ehe ich mich's versah, war sie mir ums Bein gelegt und mit dem andern Ende an den Karren befestigt.

So war ich denn ohne Anklage und ohne Spruch, ja selbst nicht einmal nach einer Voruntersuchung, in eine Lage gebracht, die mich einem schweren Verbrecher oder einem eines schweren Verbrechens Angeklagten gleichstellte. Das ist aber die notwendige Folge einer illiberalen Staatsraison, die — wenn noch so anständig in den oberen Regionen ausgeübt — in den Händen der Beamten in untern Schichten aus bloßem Diensteifer zur rohesten Gewalt ausartet. Es war diesen gemeinen Polizeiknechten nicht genug, mich mit meinem ohnmächtigen Widerstand verlachen zu können: sie mussten ihr Mütchen noch weiterhin kühlen. Der Himmel ergoss sich in strömendem Regen; die Dachrinnen von Sterzing spien ihre Wasser aus Drachenköpfen von oben und von beiden Seiten auf die Mitte der Straße. Das gab den Polizeiknechten die erwünschte Gelegenheit, ihren auf den Karren angeschlossenen Gefangenen, indem sie uns immer unter die Traufe führten, ein kaltes Sturzbad zu bereiten, woran sie ein um so größeres Vergnügen empfanden, je unangenehmer, ja, je schrecklicher die Wirkung auf uns, namentlich auf mich, war. Ich hatte nur leichte Sommerkleider an und bereits keinen trockenen Faden mehr auf dem Körper, als wir Sterzing hinter uns hatten; dabei regnete es unaufhörlich und war empfindlich kalt, und auf dem engen Karrensitz dicht an den Sträfling geschlossen, fühlte ich so zu sagen seine nasse Haut auf der meinigen. Von der ekelhaften Krankheit, die ihm im Gesicht stand, sprach ich schon; man kann denken, wie mir ums Herz war: das Singen von voriger Nacht war mir vergangen. Auf der Höhe des Brenners ließ der Regen nach, und nun kam uns ein eisiger Nordwind entgegen, der Wäsche und Kleider auf dem Leibe trocknete. Ich fühlte deutlich eine schwere Krankheit wie durch eine offene Tür eintreten.

Es war Mittag geworden, als wir in Steinach ankamen. Die Leute im Dorfe waren mit Abernten der Äpfel- und Nussbäume beschäftigt, und als ich eine Familiengruppe, an der wir vorüberfuhren, grüßte, weil sie teilnehmend auf mich zu blicken schien, erhielt ich einen so freundlichen Gegengruß, dass ich mich doch wieder unter Menschen fühlte. Vor der Steinacher Obrigkeit gab's keinen Unterschied mehr zwischen mir und meinem aufgedrungenen Reisegefährten: wir wurden in ein Gefängnis gesperrt und bekamen die Mittagkost in einer Schüssel vorgesetzt. Bereits fehlte mir die Lust oder die Kraft, mich zu widersetzen; aber es ward auf andere Weise für mich gesorgt. Am Gitter der Gefängnistür erschien ein allerliebster Mädchenkopf und winkte, und als der Sträfling sich nahte, sagte der Kopf: „Nein, der Andere!" Und so ging ich an das Gitter, und das Mädchen — es gehörte zu der von mir gegrüßten Familiengruppe — reichte mir einige Äpfel, Nüsse und ein Stück Brot, sagte kein Wort und — verschwand. Andächtiger habe ich nie zu Mittag gegessen.

Beim Eintritt in ein Gefängnis war mir in der Regel abgenommen worden, was man bei mir in den Taschen und Händen fand; beim Austritt erhielt ich’s zurück. In Sterzing aber hatten meine beiden sehr schönen Taschenmesser soviel Verdacht erregt, dass ich sie nie wieder zu Gesicht bekam. Als der Kommissär von Steinach im Begriff war, mir das eben Abgenommene wiederzugeben, und vorher noch meine Reisekarte von Deutschland aufschlug, brach er in die Worte aus: „Da haben wir's! Das ganze Deutschland auf einem Blatt! Das ist die offenbare Revolution!" und damit behielt er die Reisekarte zurück, und nie habe ich sie wieder gesehen.

Es war gegenüber dem Schicksal des vorigen Tags eine große Vergünstigung, dass ich desselben Tags noch ein Tiroler Gefängnis kennen lernen sollte. Wir wurden aufs Neue auf einen Karren gesetzt und fuhren bis Matrey. Die Schönheit des Abendhimmels und der wundervollen Landschaft unter ihm hatten mir die Hoffnung erregt, auch zu mildern Menschen zu kommen und meine Lage sich besser gestalten zu sehen. Die Enttäuschung ließ nicht auf sich warten. Ich bat den Kommissär in Matrey, der uns in Empfang nahm, unter kurzem, Reisebericht, er möge mir die Kette wieder abnehmen, mit welcher Hand und Fuß zusammengeschlossen waren. „Meine Instruktion verlangt," antwortete er, „die Arrestanten so zu behandeln, wie ich sie bekomme," und zum Hohne seiner eigenen Worte ließ er mich mit dem Sträfling in ein Gefängnis sperren und uns durch eine Kette zusammenschließen. Natürlich auch wieder nur ein Napf mit Brotsuppe, aber wirklich zwei Löffel! Ich erlangte von meinem Mitgefangenen die Gunst, dass er mir gestattete, erst allein einige Löffel der schwarzen Kost zu mir zu nehmen, worauf ihm das Übrige zu behaglichem Genuss verblieb. Aber schwierigere Aufgaben blieben zu lösen, daran ich noch jetzt nach mehr als vierzig Jahren nicht ohne Schaudern denken kann. Für die eine fehlt mir das Wort, mit dem ich nicht das Gefühl der Leser verletzen möchte. Wie aber sollte es mit dem Schlafen werden, für das es für uns ohnehin zusammengeketteten Menschen nur eine Stelle gab? Zum Glück hörte ich eine Turmuhr schlagen. Ich machte deshalb meinem Gefährten den Vorschlag, die Bettstelle — eine Pritsche mit Strohsack — derart zu benutzen, dass wir abwechselnd darauf liegen sollten, Einer immer zwei Stunden, während dessen der Andere daneben sitzen und nach Verlauf der Zeit ihn wecken sollte. Der Vertrag ward geschlossen; ich machte den Anfang, schlief wider Erwarten ruhig zwei Stunden und überließ nun für den übrigen Teil der Nacht das Lager meinem Mitgefangenen. Das Gefängnis war reinlich, auch frei von Ungeziefer; dennoch war die Nacht peinlicher fast, als die Sterzinger, die ich zum großen Teil mir weggesungen. Ich habe aber dabei erfahren, dass ein junger und gesunder Mensch viel aushalten kann, und darauf scheint die österreichische Polizei gerechnet zu haben.

Waren wir von Sterzing her auf Armesünderkarren von Pferden geführt worden, die besser zum Abdecker gehörten, so bekamen wir in Matrey wenigstens ein gutes Fuhrwerk und ein gutes Pferd davor, so dass wir zeitig des Vormittags in Schöneberg eintrafen. Auch hier berief sich der Kommissär, den ich bat, meine Fesseln zu lösen, auf seine „Instruktion", und bedauerte zugleich, meinem zweiten Verlangen nach sofortiger Weiterreise nicht entsprechen zu können, da er vor morgen kein Gefährt zur Verfügung habe.

„Wenn Sie zu Fuß nach Innsbruck gehen wollen —"

„Ja, mit Vergnügen", erwiderte, ich; „dann fallen die Ketten ja wohl von selber."

„Bedaure sehr", war die Antwort.

„Nun denn in Gottes Namen, auch in Ketten! Es muss in Innsbruck doch anders werden!"
Und so marschierte ich, zusammengeschlossen mit dem Sträfling, ich die Kette an der Hand, er am Fuß, von Schöneberg nach Innsbruck, einen Gensd'arm vor uns, einen hinter uns, und einen an jeder Seite; allerdings zu nicht geringem Erstaunen der Menschen, die uns begegneten. Unmittelbar vor der Stadt ging ein Mann an uns vorüber, den einer der Gensd'armen grüßte und dann gegen seinen Kameraden mit Namen nannte. Beim Klang dieses Namens erinnerte ich mich, dass ich ihn auf der Reise schon gehört, ja — dass ich einen Auftrag an ihn hatte. Im Salzkammergut nämlich hatte sich eines Tags ein Reisender zu uns gesellt, der sich als einen Mönch (ich glaube aus Kloster Admont) zu erkennen gab. Er botanisierte, und da ich mich auch um die Alpenflora bekümmerte und zugleich etwas mineralogisierte, so waren wir bald näher bekannt worden, so dass es ihm sehr bitter ankam, uns nicht auf der weitern Wanderung begleiten zu können. Beim Abschied aber bat er mich, wenn ich nach Innsbruck käme, seinen Bruder, der dort Regierungsrat wäre, zu besuchen und herzlich zu grüßen. Dazu schrieb er mir ein paar Worte an ihn mit seinem Namen auf ein Zettelchen, und wir sagten uns herzlich und schmerzlich Lebewohl. Dies Zettelchen fiel mir jetzt ein, und dass ich es in meine Westentasche gesteckt hatte. Wunder über Wunder! es war allen Polizeidurchsuchungen entgangen und stak noch darin. Ich bat sogleich einen der Gensd'armen, den Hrn. Regierungsrat — ich finde leider seinen Namen in meinem Gedächtnis nicht mehr, und die Tagebücher der Reise bis Clausen, worin er stand, habe ich nie zurückerhalten — zu fragen, ob ich ihn sprechen könne. Ich sah deutlich die verneinende Miene des Regierungsrates, worauf ich ihm den Zettel seines Bruders durch den Gensd'arm einhändigen ließ. Darauf stutzte der Mann, sah mich einen Augenblick an und kehrte rasch um, nach der Stadt zurück, ohne ein Wort an mich zu richten.

Er war aber offenbar nach der Polizei gegangen und hatte dort Anordnungen bewirkt, die ich sogleich wahrnehmen sollte. Es kam mir nämlich schon im Vorsaal des Polizeiamtes ein Commissär entgegen, ließ mir sogleich die Kette abnehmen, begleitete mich unter vielen Entschuldigungen missbrauchter Gewalt der Unterbehörden in ein ziemlich elegant eingerichtetes Zimmer und frug nach meinen besonderen Wünschen. Für ein gutes Abendessen wurde Sorge getragen, ein ordentliches Bett stand bereit, und die Bestimmung meiner Abreise wurde mir freigestellt. Ich hatte zunächst zwei Wünsche: erstens, zu wissen, aus welcher Ursache meine Reise die erlebte Störung erfahren, sodann am Morgen das Grabmal Kaiser Maximilians sehen zu dürfen.

„In Betreff Ihrer ersten Bitte tut es mir sehr leid", sagte der Kommissär, „aus eigner Unkunde die Antwort schuldig bleiben zu müssen. Ihre Verhaftung ist „auf höheren Befehl" erfolgt — so steht's im Akt — weiter weiß ich nichts. Die zweite Bitte bin ich leider eben so wenig im Stande zu erfüllen. Sie dürfen das Haus nur verlassen, um weiter zu reisen, und zwar an die bayrische Grenze. Es wird morgen früh ein Wagen bereit sein, Sie in Gesellschaft eines Polizeibeamten in Zivil bis an die Scharnitz zu führen; dort wird man Ihnen Ihre Reiseeffekten einhändigen und Sie vollkommen in Freiheit setzen."

Nach Allem, was ich in den letzten Tagen erduldet, und gegenüber einer völlig unnahbaren Macht, musste ich meine neue Lage beneidenswert finden, wenn mir auch dabei kein Verlangen aufstieg, eine zweite Reise nach Tirol zu machen. Der Kommissär hielt Wort, ein anständiger Reisewagen mit einem anständigen Begleiter brachte mich nach der Scharnitz. Hier erhielt ich nebst meiner Freiheit meinen Reisebündel, aber ohne meine Tagebücher und statt meines preußischen Ministerialpasses einen von der Innsbrucker Polizei ausgefertigten. Den mir damit gespielten perfiden Streich zu parieren, war mir unmöglich gemacht, da mein polizeilicher Begleiter natürlich nichts anders geben konnte, als was ihm für mich übergeben war, und so musste ich, mit dem Verdacht behaftet, legitimationslos in Tirol gewesen zu sein, die bayrische Grenze überschreiten.

Ich hatte indessen nicht viel Zeit und Kraft zum Nachdenken mehr. Ich fühlte mich ziemlich schwach, und in Mittenwald zeigten sich deutlich die ersten Zeichen der Krankheit, die ich mir auf der Fahrt über den Brenner geholt. Zu Fuß, das sah ich, konnte ich die Reise nicht fortsetzen, ebensowenig die Erschütterung im Wagen aushalten. Da boten sich Flößer an, mich mit nach München zu nehmen, und so schwamm ich denn auf der lieblichen Isar der bayrischen Hauptstadt zu. Bereits war ich so kraftlos, dass mir bei der Ankunft die Füße versagten, und meine mitleidigen Flößer hoben mich von ihrem Fahrzeug und trugen mich in das Wirtshaus von Bögner im Tal, wo ich gastliche Aufnahme fand, unter der Aufregung des eintretenden Fiebers aber nicht dazu kommen konnte, mich meiner wiedererlangten Freiheit zu freuen und von den dargebotenen Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten Gebrauch zu machen.

Ich weiß nicht, wie meine Ankunft bekannt oder besprochen worden sein mag. Kurz, ich erfuhr während der zwei Monate, die ich schwer krank in München lag, die größte Teilnahme von Jung und Alt, selbst von den bedeutendsten Männern der Münchener Gelehrtenwelt. Ja, ein junger Maler aus Hamburg nahm mich gastfreundlich in seine Wohnung auf. Endlich um Jahresschluss, im harten Winter und tiefen Schnee, trat ich meine Rückreise nach Berlin zu Fuß an. Heute noch ist mir unbegreiflich, wie ich's ohne Nachteil für meine Gesundheit zu Stande gebracht habe! In Berlin machte mein Erlebnis einiges Aufsehen. Minister v. Altenstein lud mich zu sich und ließ sich ausführlichen Bericht erstatten. Das auswärtige Ministerium nahm sich meiner an. Es verlangte Auskunft in Wien, zu wiederholten Malen, und erhielt immer dieselbe Antwort, man werde Erkundigungen einziehen. Nie aber ist eine erklärende Antwort erfolgt, und nachdem ich im Jahre 1823 Berlin verlassen, ist wohl nie wieder davon die Rede gewesen, um so weniger, als man damals in Preußen die studierende Jugend kaum anders behandelte, als in Österreich.

Inzwischen sollte ich doch noch, wenn auch spät, einen Aufschluss erhalten, der freilich den Vorgang nicht erbaulicher erscheinen lässt. Im Jahre 1826, auf meiner ersten Reise in Italien, traf ich unvermutet, in den Uffizien zu Florenz, mit meinem alten Freunde, Franz Colloredo, wieder zusammen. Ich hatte ihm nicht geschrieben, er mir nicht, um jeder Verdächtigung durch Spione und Angeber den Weg zu verlegen, und so war dies Wiedersehen die erste Berührung nach der Trennung in Clausen. Unsere gegenseitige Freude war groß, und wir saßen bald bei einer Flasche Aleatico traulich beisammen. Natürlich kam sogleich unser Abenteuer zur Sprache. Er hatte von meiner Misshandlung nur oberflächliche Kunde, von meinen oder vielmehr den preußischen Bemühungen um Aufklärung der Sache gar keine. „Weißt Du denn", frug ich, „den Zusammenhang?"

„Wohl weiß ich ihn", antwortete er, ,,und die Geschichte ist infam genug. Erinnerst Du Dich des Linzer Gensd'arm am Krimler Wasserfall? Der gehört schon hinein. Entsinnst Du Dich der Hindernisse, die der Linzer Polizei-Kommissär meiner Weiterreise in den Weg gelegt? Der — hat uns auf dem ganzen Wege verfolgt und Schlingen gelegt. Dieser Polizei-Kommissär war Jäger bei meinem Vater und wurde wegen Diebereien von diesem mit der Peitsche aus dem Hause gejagt. Da hat er meinem Vater Rache geschworen, ist zur Polizei gegangen, hat sich als Spitzel anwerben lassen und ist bald wegen seiner Verdienste mit dem Polizeikommissariat Linz belohnt worden. Ich bin ihm wie gefunden in die Hände gefallen; Du als deutscher Student gabst die bequemste Handhabe zu Verdächtigungen. Um zu verhindern, dass Du mich verleitetest, mit Dir zu den Revolutionären nach Neapel zu gehen, erließ er den Befehl, uns aufzuheben, und hat sich damit in Wien besonders schön und breit gemacht. So hängt die Geschichte zusammen."

„Ich gestehe", sagte ich, „die Auflösung übertrifft das Rätsel an Unfasslichkeit, und wärst Du’s nicht, ich könnte es kaum glauben. Nun aber liegt's hinter uns. Ich bin gesund; die Begebenheit hat mich — was ich Dir ein anderes Mal erzählen will — aus der Bücherwelt in die Künstlerlaufbahn getragen: ich bin hundertfältig beglückt und im nächsten Monat tausendfältig selig — vor dem Altar! Und nun lass uns heiteren Mutes vergangener Leiden gedenken!" — —

Seitdem ist wieder manches Jahr vergangen, doch meine denkwürdige Lustreise durch’s Tirol lebt noch ungebleicht in meinem Gedächtnis. Hoffen wir, dass für keinen unserer Leser je ähnliche Spaziergänge im Buch des Schicksals und der — Polizei verzeichnet stehen!