Zweite Fortsetzung

Wer in den dreißiger Jahren und zu Anfang der vierziger die baltischen Provinzen betrachtete, konnte nicht umhin, sie für ein glückliches Ländchen zu erklären. Seit 150 Jahren von allem Kriegslärm verschont, in friedlicher Abgeschiedenheit von den Händeln der großen europäischen Politik, verhallten alle Streitfragen der politischen, der geistigen Parteien des Westens fast unverstanden, jedenfalls wenig berücksichtigt auf ihren Gefilden. „Livland — Blievland" lautete der alte plattdeutsche Spruch, um anzudeuten, dass man dort leicht seines Bleibens fand. Deine Wolken träufelten Segen, Deine Scheuern füllten sich, Städter und Landmann gingen ungestört ihrem Erwerb nach! — Die Geldkrise nach den Befreiungskriegen war überwunden, die Bauernemanzipation schon längst friedlich durchgeführt, ohne dass sich gerade die Gutsbesitzer über verminderte Machtstellung zu beklagen gehabt hätten. Im Sommer zerstreuten sich die gebildeten Städter in Badeorten oder die Jugend bereiste wohl im Touristenkostüme einzelne durch Naturschönheiten ausgezeichnete Gegenden und stärkte ihren historischen Sinn durch das Anschauen der Trümmer alter Comthureien, oder pflanzte wohl auf hohe Berggipfel die alte livländische trikolore Ordensfahne, und im Kreise um lodernde Feuer sich lagernd, erweckte sie das Andenken der „guten, alten Zeiten", in denen eine reguläre Hochzeit acht Tage dauern musste und aus welcher noch manche Trinkgeschirre in den Gildenhäusern aufbewahrt wurden, „gleich als wären sie Badewannen."

In den Städten hatten bestimmte bürgerliche Familien ein unbestrittenes Principat, sei es durch Stellung, Reichtum oder höhere Bildung, und verkehrten ziemlich exklusiv mit einander. — Die bäuerlichen Verhältnisse waren in der Art reguliert, dass für Nutznießung seines Landes dem Bauer bestimmte persönliche und einige Naturalleistungen oblagen, die nach der Größe seines Anteils normiert waren. Geldpacht kam kaum vor. Ein einfaches System, bei dem man sich zeitweilig beruhigte. Jeden Freitag strömte die Gemeinde aufs Gut, um Gerichtstag zu halten. Von ihr gewählte Richter präsidierten, doch führte auch häufig ein Bevollmächtigter des Gutsherrn das Wort. Den Schuldigen traf Leibesstrafe. Am Sonnabend strömten dann die Scharen zum geistlichen Herrn, dem sie ihre Gaben brachten und ihre vielfachen Anliegen vortrugen. Nachdem sie so am Freitag bestraft und am Sonnabend erhoben war, fühlte sich die Gemeinde würdig und geschickt am Sonntag den Gottesdienst zu besuchen. Dies geschah fast überall sehr zahlreich, da die Feier selbst imponierte und zugleich auch zu geselligen Zusammenkünften Gelegenheit bot, und es blieb in der Beziehung wenig zu wünschen übrig. Damit war den staatlichen und kirchlichen Beziehungen genug getan.
In der Tat, ein fahrender Romantiker hätte in dem livländischen Leben und Treiben und seiner großen Gastfreiheit manches köstliche Idyll, ja ein gelobtes Land gefunden. „Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein", sagt noch jetzt mit Selbstbewusstsein mancher Reisende, der aus dem Westen in die Provinzen zurückkehrt, nachdem er freilich vielleicht vorwiegend nur die Hotels und öffentlichen Lokale Deutschlands, Frankreichs und Italiens kennen gelernt hat.


Die Hand, welche die Geschicke der Völker leitet, muss leider von weniger Sympathien für die Romantik beeinflusst werden; jedenfalls sehen wir rasch von allen Seiten das behäbige Stillleben bedroht — innere Feinde und äußere!

Einerseits war der Mittelstand in den Städten doch soweit mit der Entwickelung des übrigen Europa im Zusammenhange geblieben, dass er sich herzlich aus manchen Zuständen heraussehnte und jenes unbestimmte Missbehagen empfand, welches bei überlebten Formen sich nur temporär verscheuchen lässt. Welches geschäftige Drängen, Blühen und Treiben im benachbarten Deutschland, und für uns — der Provinzialcodex! Es war nämlich der Geschäftigkeit einer Partei gelungen, den „loyalen Adel" als Stütze des Absolutismus höheren Orts darzustellen und ihm in diesem Codex, nach dem eine ständische Petrification auf ewig zu erwarten wäre (falls sie sich überhaupt halten ließe), die gesetzliche Canonisation eines höchst fraglichen Rechts zu verschaffen. Das principiell bis dahin unerschütterte Recht der Städter auf Grundbesitz war damit beseitigt, andrer Einschränkungen nicht zu gedenken. Beispielsweise wurde bald der Termin für die Inpfandnahme der Rittergüter seitens der Bürgerlichen auf einen so kurzen Zeitraum beschränkt, dass die Kosten der jedesmaligen Erneuerung des Kontrakts bei längerem Besitz in manchen Fällen einer doppelten Bezahlung gleichgekommen sind.

So hatte die Geschäftigkeit des Adels, sich zu konsolidieren, den ersten Stoß in das bis dahin schlummernde Gleichgewicht der Kräfte gebracht, ein Umstand, der bei den späteren Ereignissen nicht zu übersehen ist. Es musste dieses Treiben um so empfindlicher berühren, als die Zahl der in diesem Jahrhundert eingewanderten deutschen Familien (Kaufleute und Literaten) nicht gering ist; ein frischer Hauch westlicher Kultur durchströmte alle diese Kreise; die devoten Theorien eines verknöcherten Kleinbürgertums waren ihnen fremd geblieben, und für ihre Person wenigstens wussten sie sich eine geachtete Stellung in der Gesellschaft zu erringen.
In diese Jahre fällt auch, fast gleichzeitig in fast allen größeren Städten eine religiöse Erregung der verschiedensten Art, ohne dass sich ihre Urheberschaft an bestimmte Namen knüpfen ließe. An mehreren Orten hatte allerdings die Brüdergemeinde vorgearbeitet. Dieselbe hatte bereits im vorigen Jahrhundert an vielen Orten Livlands und namentlich auch Estlands große Ausbreitung gefunden. Ihre Intention, persönlich dem Einzelnen zu bringen, was in der Massenkirche nur in Bausch und Bogen, wohl ohne die nötige Seelsorge geboten ward, wäre an und für sich anzuerkennen, wenn auch nur als berechtigtes Hervorheben der Persönlichkeit. Es hatten sich aber mit der Zeit, namentlich unter der Landbevölkerung Livlands, so viel Missstände und Missbräuche unter den „kleinen Häuflein" gezeigt, die sich zum Teil vollständig von ihren aus Deutschland geschickten Presbytern emanzipierten, dass sie in letzter Zeit teils durch die Angriffe der Prediger, teils durch erschüttertes Ansehen bei den Volksgenossen mehr und mehr an Bedeutung verloren. Wichtiger wurde nun jene allgemeine kirchliche Erregung, während gleichzeitig die altlutherische Theologie unter den Auspizien Philippis sich der Universität Dorpat bemächtigte, und in den größeren Städten zahlreiche Konventikel und religiöse Vereine sich bildeten und eine anerkennenswerte Liebestätigkeit entwickelten.

So wurde auch von dieser Seite die liebenswürdige Unbefangenheit gestört und nahm ein Ende. Dem Einzelnen traten persönlich die gewichtigsten Herzens- und Geistesfragen vor, Probleme, an denen die Menschheit seit Jahrtausenden arbeitet und die dem Einzelnen oft sein ganzes Leben in Kämpfen um immer steigende Klarheit hinnehmen. Vorbei war es nun mit der religiösen oder nichtreligiösen „süßen Gewohnheit des Daseins." Es wurde gestritten, geliebt, gehasst; und so wenig wir manche Extravaganzen verteidigen wollen, die stets bei Erregungen in größerem Maßstabe unvermeidlich sind, so ist nicht zu verkennen, dass ein bedeutender Fortschritt zur Selbstständigkeit des Einzelnen, zunächst in religiöser, bald aber auch in allgemein geistiger und politischer Sphäre damit gegeben war.

Wie um zu beweisen, dass es in der Tat notwendig sei, von dem äußeren Kirchentum in das stille Heiligtum des einzelnen Herzens zurückzukehren und von dort aus neugestaltend und belebend auf veraltete Formen einzuwirken, brach gerade um diese Zeit eine eigentümliche Nemesis über die Landeskirche ein. Wie sie einst durch äußerliche Mittel sich ihre Angehörigen erworben und zu erhalten gewusst hatte, so versuchte jetzt eine andere Konfession durch Anwendung von, nach den Zeitumständen, analogen Mitteln zu erproben, ob jene im Stande gewesen wäre, was sie von ihren Vätern ererbt, zu ihrem geistigen Eigentum zu machen. Es ist nicht unsere Absicht, eine äußere Geschichte jener damals in Aller Munde lebenden Eingriffe zu geben; gewiss ist auch nicht die griechische Konfession für einzelne ihrer Vertreter verantwortlich zu machen. Ist doch jetzt das ganze System jener Bekehrungen von der Regierung und schon damals von dem Thronfolger nicht adoptiert worden. Wichtiger erscheint die Frage, wie es möglich wurde, dass auf unbegründete Angaben hin viele Tausende sich von ihren Volksgenossen, ihren Gottesdiensten und Schulen trennen konnten, um eine nicht beneidenswerte Sonderexistenz zu führen. Die Antwort liegt in den Versäumnissen früherer Jahrhunderte. Man hatte den Schulunterricht beschränkt, selbst das Erlernen der deutschen Sprache als „unnütz, ja schädlich" bezeichnet. Ein unmündiges Volk ist leichter zu regieren als ein durch Bildung selbstbewusst gewordenes. — Man gebe dem Einzelnen die Mittel zu selbsttätiger Geistesarbeit in die. Hand, und ein Rückfall in ein äußerliches Kirchentum, dasselbe heiße wie es wolle, wird fürderhin unmöglich sein.

Die politischen Ereignisse der Jahre 1848 und 1849, die bald darauf alle Gemüter einnahmen, vermehrten die bereits herrschende Aufregung und Gärung. Besonders war es die damals studierende Jugend, welche mit fieberhafter Unruhe den Gang der Ereignisse auf dem Kontinent verfolgte. Das ganze Land teilte sich in Parteien.

Während der Adel dem „großen Zaren" Kavalleriepferde zur Bekämpfung der ungarischen Insurrektion stellte, debattierte die akademische Jugend über die Einführung demokratischer Institutionen im Studentenleben und den Sturz des aristokratischen Korpswesens. So wenig nachhaltig auch die Bewegung war, so ist zu beachten, dass namentlich seit diesem Jahre die Universität mit allen in ihr wirkenden und gegenwirkenden Kräften das getreueste Spiegelbild der Zustände des ganzen Landes wurde, so dass eine richtig geschriebene Geschichte derselben sich leicht zu der des Landes erweitern ließe. Nicht als ob eine fortlaufende Reihe der tüchtigsten Dozenten schon damals auf weitere Kreise als ihre Fachgenossen normierend einzugreifen verstanden hätte; es zeigten sich aber seitdem unter der dort zusammenströmenden Jugend, die sich mit eigentümlicher Treue und Stätigkeit aneinanderschloss, bereits immer deutlicher die Keime und Blüten eines neuen Geistes, wenn auch viele derselben unter der überlieferten rohen Geselligkeitsform zunächst noch zu Grunde gingen.

Im Ganzen ging das Jahr 1848 trotz vielfacher Privatzwistigkeiten und Erhitzungen doch ziemlich spurlos vorüber. Es war noch zu wenig vorbereitet, noch zu wenig Forderungen waren formuliert, noch herrschte die größte Zerrissenheit unter Vielen, die, durch gemeinsame Interessen verbunden, hätten zusammenstehen sollen. Viel trug dazu bei, dass eine leitende politische Presse damals noch nicht existierte, und höchstens geschmackvolle Feuilletonartikel die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zogen. So blieb es denn auch in weiteren Kreisen nicht all zu sehr beachtet, als eine liberalere Fraktion des livländischen Landtages, der Landmarschall Fölkersahm an der Spitze, dem Bauerstande eine Erleichterung durch Abschaffung der Frone (jener normierten Arbeitsleistungen) und Einführung von Geldpacht bieten wollte. Die Höfe sollten sich mit gemieteten Knechten begnügen, was allerdings die Wirtschaft teuer machte. Dafür sollte dem Geldmangel durch teilweisen Verkauf der Bauerländereien abgeholfen werden, und eine Bauerrentenbank sollte wiederum dem Bauer den Ankauf von Areal erleichtern. Aus den verschiedensten Ursachen nahm jedoch dieser Verkauf nur einen sehr mäßigen Fortgang, und, wie neuerdings veröffentlichte sichere statistische Daten ergeben haben, ist in Livland nur ein sehr kleiner Bruchteil Landes in die Hände der Bauern gekommen, und die Zahl der Pächter ist auch nicht bedeutend. Kurland, welches überhaupt auch noch nach den Zeiten herzoglicher Selbstständigkeit einer freieren und reicheren Entwicklung sich rühmt, war in dieser Beziehung weit vorausgeeilt; dagegen Estland damals noch in völlig patriarchalischen Zuständen.

022 Riga, Madonnenstatue und Standbild des Ordensmeisters Wolter v. Plettenberg

022 Riga, Madonnenstatue und Standbild des Ordensmeisters Wolter v. Plettenberg

024 Riga, Die Häuser der großen und der kleinen Gilde

024 Riga, Die Häuser der großen und der kleinen Gilde

025 Riga, Der alte Gildensaal im Hause der großen Gilde

025 Riga, Der alte Gildensaal im Hause der großen Gilde

027 Riga, Rest eines Schnitzaltars im Saale der großen Gilde

027 Riga, Rest eines Schnitzaltars im Saale der großen Gilde

028 Riga, Gotischer Kronleuchter aus dem Hause der kleinen Gilde, jetzt im Dommuseum

028 Riga, Gotischer Kronleuchter aus dem Hause der kleinen Gilde, jetzt im Dommuseum

029 Riga, Das Schwarzhäupterhaus vor dem letzten Umbau

029 Riga, Das Schwarzhäupterhaus vor dem letzten Umbau

031 Riga, Aus dem Silberschatz der Schwarzhäupter

031 Riga, Aus dem Silberschatz der Schwarzhäupter

032 Riga, Aus dem Silberschatz der Schwarzhäupter

032 Riga, Aus dem Silberschatz der Schwarzhäupter

033 Riga, Aus dem Silberschatz der Schwarzhäupter

033 Riga, Aus dem Silberschatz der Schwarzhäupter

034 Riga, Aus dem Silberschatz der Schwarzhäupter

034 Riga, Aus dem Silberschatz der Schwarzhäupter

036 Riga, Der Rathausplatz um 1830

036 Riga, Der Rathausplatz um 1830

037 Riga, Das Rathaus nach dem Umbau von 1850

037 Riga, Das Rathaus nach dem Umbau von 1850

038 Riga, Die Börse

038 Riga, Die Börse

039 Riga, Das erste Stadttheater

039 Riga, Das erste Stadttheater

040 Porträt des Dr. Lib. v. Bergmann

040 Porträt des Dr. Lib. v. Bergmann

041 Riga, Das städtische Kunstmuseum

041 Riga, Das städtische Kunstmuseum

042 Lübecker Meister von 1524. Altar mit den Porträts des Lübecker Ratsherrn Hinrich Kerkring und seiner Frau Katharina Joris

042 Lübecker Meister von 1524. Altar mit den Porträts des Lübecker Ratsherrn Hinrich Kerkring und seiner Frau Katharina Joris

043 Christian van der Laenen, Der verlorene Sohn

043 Christian van der Laenen, Der verlorene Sohn

044 Wijbrand de Geest, Porträt

044 Wijbrand de Geest, Porträt

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