Vierte Fortsetzung

In solchen bitteren Philosophien bewegten sich die Gemüter nicht Weniger; und es zeigte sich bald in vielen Kreisen ein gewisser bürgerlicher Terrorismus. So siel um diese Zeit in Dorpat, um nur ein Beispiel zu erwähnen, ein streng aristokratisches Corps vor dem Zorn der übrigen landsmannschaftlichen Verbindungen. Es ist dies um so bemerkenswerter, als augenblicklich keine besondere äußere Veranlassung zu irgend welchen Konflikten vorlag; im Gegenteil hatte sich in den ersten Jahren der jetzigen Regierung eine damals noch mächtigere liberale Fraktion des livländischen Adels zur Aufgabe gemacht, die ausgezeichneteren Kräfte des aufstrebenden Bürgertums in seine Kreise zu ziehen. Man lernte dort, neben manchen unbedeutenden, viele feingebildete und hochgesinnte Menschen kennen. Wenn es dennoch nicht recht mit diesem Umgang vorwärts wollte und er fast überall in Stocken geriet, so war es eben nicht etwa persönliche Verstimmung, versteckter Ehrgeiz auf der einen, grober Geburtsstolz auf der andern Seite, sondern mehr als das: der Konflikt des bewegenden Prinzips der Neuzeit, der vollberechtigten freien Persönlichkeit mit den Bollwerken einer noch in vollster Kraft stehenden mittelalterlichen Institution.

Um diesen Satz in seiner ganzen Bedeutung zu ermessen, muss man wissen, dass die höchsten administrativen und richterlichen Funktionen, sowie aller Landbesitz mit Repräsentivrechten in die Hände einer durch die Matrikeln der einzelnen Provinzen begrenzten Zahl von Familien gegeben sind, dass viele Richterposten Indigenatsadligen, welche nicht Juristen sind, übergeben werden; dass gesellschaftlich in vieler Beziehung die größte Exklusivität an der Tagesordnung ist.


Dies Alles hätte sich verschmerzen lassen, wenn man sich bei der Überzeugung hätte beruhigen können, es sei Alles in den besten, treuesten Händen, und ein Personenwechsel könne keinen wesentlichen Vorteil bringen. Wenn aber vielfach mit Händen zu greisen war, dass die Ausübung der Pflichten den Rechten nicht entsprach — wurde es da nicht notwendig, darauf hinzuweisen, daran immer wieder zu erinnern und positive Vorschläge zu machen? — Die Geschichte der letzten Jahre ist darin höchst lehrreich, dass sie bewiesen hat, es handle sich nicht um persönliche Verstimmungen, sondern um sehr reelle und zugleich sehr ideale Dinge, auf die man nicht verzichten dürfe; es handle sich zunächst nicht um einen Personen- sondern um einen Systemwechsel.

Es ist nicht zufällig, sondern ging aus einer inneren Notwendigkeit hervor, dass sich in den folgenden Jahren auch eine inländische Presse zu regen begann. Es lag darin ein indirektes Misstrauensvotum gegen die bis dahin usuell gewordenen Maximen. Da die bestellten Hüter und Wächter der öffentlichen Wohlfahrt Vielen säumig zu sein schienen, so sollte nun Jedermann aufgefordert werden, seine Meinung frei zu sagen, damit man nicht wie bisher ganz im Finstern tappe. Auch ist es nicht bedeutungslos, dass von vornherein agrarische Fragen mit Vorliebe behandelt wurden. Was gingen diese zunächst die Städter an? könnte man fragen. Gewiss hatten sie direkt dabei nichts zu gewinnen, wenn sie für Erweiterung des Bauernpachtlandes, des Bauerngrundbesitzes, für Revision des Landschulwesens plädierten. Es zeigt sich eben, was wir oben behaupteten, dass es vorwiegend Interessen der Humanität und des Patriotismus gewesen sind, welche die ganze Bewegung leiteten.

Einen lebhaften Ausdruck dieses Gefühls und zugleich ein Zeugnis des erstarkten Einheitsstrebens aller drei Provinzen, die sich trotz mancherlei zwischeneingetretener Zerklüftungen als Glieder eines Körpers fühlten, brachte das 1861 in Riga zu Stande gekommene „baltische Sängerfest". Aus allen drei Provinzen hatten sich zahlreiche Gäste eingefunden; Konzerte und Festlichkeiten wechselten mit einander ab und gaben diesen Tagen den Charakter einer allgemeinen Verbrüderungsfeier, nach den mancherlei Eifersüchteleien, die früher zwischen den einzelnen Provinzen geherrscht hatten. Bezeichnend für die Weisheit, mit der die Regierung in letzter Zeit die Provinzen behandelte, ist der Umstand, dass auf eine Anfrage des Generalgouverneurs, Fürsten Suworow, ob er zum Schluss des Hauptkonzertes das Lied: „Was ist des Deutschen Vaterland?" gestatten könne, aus Petersburg die Antwort erfolgt sein soll: „Amusez vos enfants!“ Jedenfalls wurde allen derartigen Demonstrationen nicht das Geringste in den Weg gelegt, da man der Loyalität der Bevölkerung vertraute.

Die Jahre 1861 bis 1864 machen sich durch eine immer steigende Regsamkeit in der Presse bemerkbar. Die Baltische Monatsschrift, die Revaler Zeitung, die Rigasche Zeitung, zuletzt auch drei Dorpater Blätter, zogen immer mehr Fragen in den Kreis ihrer Betrachtungen. Das Güterbesitzrecht wurde ventiliert, die Formen der städtischen Verfassungen besprochen, der Wunsch nach einer gemeinsamen Verfassung aller drei Provinzen, nach einem gemeinsamen höchsten Gerichtshof, gemeinsamen Synoden etc. ausgesprochen. Dass bei der Besprechung mancher Fragen noch vielfache Unsicherheit sich zeigte, war aus den vorangegangenen Zuständen erklärlich. Als einer der größten Missgriffe muss bezeichnet werden, dass man den sogenannten junglettischen Bestrebungen gegenüber nicht schwieg. Oder wäre zu leugnen, dass jene jungen Petersburger Literaten, von aufrichtigem Eifer erfüllt, ihrem Volke manche Kulturelemente zuführten? War es auch nur klug, den Schein des Drängers auf sich zu laden? Oder fürchtet mau wirklich eine lettische Weltliteratur, welche die Sprache verewigen wird?

Das Frühjahr 1862, welches reich, an mannigfachen Hoffnungen und Bestrebungen war, brachte auf dem damaligen livländischen Landtage vier Propositionen eines Patrioten, welche als Konzessionen von Seiten der Ritterschaft und Anerkennung des Einheitsstrebens der Provinzen allenthalben die lebhafteste Sympathie fanden und in Telegrammen und Briefen über das ganze Land verbreitet wurden. Sie wurden jedoch an eine Kommission zur reiflichen Erwägung verwiesen, und damit war ihr Schicksal entschieden. — Wer übrigens das dissolute Leben des Adels, namentlich der jüngeren Generation, damals in Riga mit ansah, musste unwillkürlich zu der Ansicht getrieben werden, alle Hoffnung auf ernst gemeinte Hilfe von der Seite sei vergebens, und den Wunsch zu fassen wagen, es möge bald die Stunde kommen, wo würdigere Vertreter des Landes aus allen drei Provinzen, mit bestimmten Instruktionen ihrer Wähler, in der alten Hansestadt tagten!

Dasselbe Jahr brachte auch zum ersten Male eine kirchliche Frage vor ein öffentliches Forum, indem in einem Aufsehen erregenden Artikel: „Wo hinaus?" — der von der theologischen Fakultät zu Dorpat vertretenen altlutherischen Richtung die Rückkehr in den Zustand völliger Barbarei prophezeit wurde. Ohne dass die politischen Ansichten des Verfassers oder auch dessen kirchliche Verfassungstheorien alle zu billigen wären, ist dennoch das Verdienst jenes Aufsatzes nicht zu leugnen. Der Landeskirche ist allerdings offenbar weder mit einem schroffen altlutherischen Konfessionalismus, noch mit einer vorwiegend negierenden Richtung gedient, und für die Zukunft ist jedenfalls nur zu wünschen, dass eine gemäßigte evangelische Richtung, frei von spezifisch hochkirchlichen Theorien, immer mehr sich ausbreite, wie es ja bereits eine solche Fraktion gibt, den bisherigen Präses der livländischen Landeskirche an der Spitze, welche, noch angehaucht von dem Geiste Schleiermacher'scher Theologie, der Religiosität wie der Wissenschaft gleich Rechnung zu tragen weiß.

Bei dem gesteigerten materiellen und intellektuellen Aufschwung der letzten Jahre sind die Fortschritte der Bodenkultur durch allgemeinere Einführung rationeller Wirtschaftsmethoden nicht zu übersehen. Groß war die Zahl der landwirtschaftlichen Geräte und Maschinen, welche jährlich, sei es aus England oder Preußen, sei es aus inländischen Fabriken, nach allen Seiten über das Land versendet wurden. Auch beförderte man die Einwanderung deutscher Arbeiter, die jedoch mit manchen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, einmal, weil in der Regel nicht die Tüchtigsten, sondern glückssuchende Abenteurer auszuwandern pflegen; dann auch, weil vor Allem diesen Klassen der Gesellschaft am schwersten fällt, sich an fremde Landessitte zu gewöhnen. — Zur Verbreitung wirtschaftlicher Kenntnisse trugen nicht wenig die landwirtschaftlichen Vereine bei, die über das ganze Land zerstreut sind und in den größeren Städten zu tagen Pflegen.

Überhaupt ist die Zahl der Vereine nicht gering, welche seit Jahren in zum Teil anspruchsloser stiller Tätigkeit unablässig gewirkt haben, sei es für Erforschung heimischer Altertümer, sei es für Pflege der Naturwissenschaften, sei es endlich für gemeinnützige Unternehmungen. Die zwar oft langsame, aber stets sichere Wirksamkeit derartiger Verbindungen ist zu allgemein bereits anerkannt, als dass wir hier ihre Erfolge im Einzelnen anzugeben brauchten.

Der Universität Dorpat war mit demselben Jahre (1862) eine neue Ära beschieden. Nicht als ob der vorhergehende Zeitraum eine eingreifende Tätigkeit einzelner tüchtiger Dozenten vermissen ließe. Es trat aber nunmehr an die Spitze des Dorpater Lehrbezirks ein Mann, der, bei richtigem Einblick in die Verhältnisse, sich mit den berechtigten Interessen der Universität zu identifizieren verstand; und während es möglich wäre, eine Geschichte der Verwaltung seiner Vorgänger zu schreiben, ohne auch nur den Saum des Gewandes von dem Geiste zu berühren, der zu ihrer Zeit die Lehrkräfte wie die heranstrebende Jugend inspirierte, dürfte das bei seiner Verwaltung schwierig, ja unmöglich sein. Der Name des Kurators, Grafen Keyserling, ist in der „Russischen Revue"*) bei Gelegenheit eines Gutachtens über die einzelnen Fakultäten bereits mit Ehren genannt worden. Das Regiment seiner Vorgänger ist in dieser Zeitschrift ebenfalls beleuchtet. Wenn unter dem Einen die himmlischen Musen fast gezwungen worden waren, in militärischer Uniform zu erscheinen, und unter dem Anderen sie ihre „heidnische Nacktheit" à tout prix mit einem härenen Büßergewande bekleiden sollten, so wurde hier endlich der Wissenschaft, der hohen Tochter des Olymp, von einem in ihre Mysterien geweihten Jünger würdige Opfer dargebracht. Ein Geist der Ordnung und der Freiheit wurde heimisch; die lästige Vielregiererei schwand, ohne dass in wichtigen Fragen die nötige Leitung mangelte; die hemmenden Schranken, welche die Jugend bis dahin beengten, fielen; und während früher der Besucher Dorpats das Gefühl hatte, er wandle in einer offiziellen Scheinwelt, hinter deren Kulissen ganz andere Kräfte ihr unheimliches Wesen trieben, bot sich jetzt das Bild einer in sich harmonisch befriedigten, innerlich geordneten und darum wissenschaftlich nach außen nachhaltig wirkenden akademischen Republik.

Wir könnten hiermit unser Bild schließen; denn bei der Bedeutung Dorpats für die Provinzen wäre in ihm die Garantie einer gedeihlichen Entwicklung für dieselben gegeben; es ist aber nötig, dass wir auch alle übrigen Faktoren mustern, welche bei den Ereignissen der nächsten Zukunft zu berücksichtigen sein werden. Nicht gering sind die Kräfte, welche zum Teil bereits entfesselt für die kommende Zeit, einen Fortschritt in rascherem Tempo verheißen. Einmal ist es unmöglich, dass die jetzige akademische Jugend, durch Blätter verschiedener Richtungen geschult und zu reiferem Urteil angeleitet, mit derselben Indolenz in das öffentliche Leben trete, wie manche frühere Generation. Ferner sind in allen bedeutenderen Städten Bürger- und Handwerkervereine zu Bildung und Geselligkeit im Emporblühen; auch ein Verein von Gutsverwaltern und Arrendatoren*) hat sich trotz mancher versuchten Hemmungen Bahn zu brechen gewusst. Unter den nicht stimmfähigen und nur zu den gemeinschaftlichen Zahlungen angehaltenen Landbesitzern sind witzige und ernste Stimmen über dies Verhältnis laut geworden; das Versorgungssystem für verarmte Glieder adeliger Familien ist bekannt; überhaupt alle Forderungen und alle Beschwerden in Aller Munde. Auch dürfte in nicht allzulanger Zeit in der heranwachsenden Generation des Landvolkes, namentlich des lettischen, zunächst in den Söhnen wohlhabender Bauernwirte und den Schullehrern, der städtischen Intelligenz ein Bundesgenosse erstehen, mag auch noch fürs Erste der junge Wein einigermaßen herbe und ungenießbar sein.

*) Als Arrendator wurde in Brandenburg, besonders in der Uckermark, auch ein Gutsverwalter (Inspektor) bezeichnet.

In den größeren Städten haben sich die Literaten Eingang in die ihnen bis dahin verschlossenen städtischen Körperschaften erkämpft und werden ohne Zweifel ihren Einfluss zur Geltendmachung einer gemeinsamen städtischen Politik in größerem Maßstabe anwenden. Ist dann der Grundbesitz entfesselt, so ist ein materieller Aufschwung von selbst gegeben; die regere städtische, Betriebsamkeit, die gesteigerte Nachfrage, die Konkurrenz, das Flüssigwerden größerer Kapitalien für den rationellen Ackerbau werden unfehlbar den Wert des gesummten Areals in bisher ungeahnter Weise erhöhen. Ob es möglich sein wird, in billigen Kompromissen eine Einigung über die Erweiterung der politischen Rechte der Städte, sowie der persönlichen Befugnisse ihrer Bürger zu erlangen, steht dahin, und es dürfte jetzt, nach mancher fehlgeschlagenen Hoffnung, ein offener Austrag des Streites, dessen Erfolg nicht zweifelhaft wäre, vorzuziehen sein.*) Mit halben Konzessionen dürfte weder dem Ernst der Sache, noch der Konsequenz eines Prinzips gedient sein, welches überall geschlossene Formen gesprengt und aus den zerstreuten Atomen neue Organismen, von neuem Geiste beseelt, zu bilden sich mächtig erwiesen hat.

*) Die Ereignisse des jüngsten livländischen Landtags, auf welchem eine Petition der Stadt Riga in diesem Sinne abweisend beantwortet wurde, zeigen, wie richtig in vorstehenden Andeutungen die Sachlage gezeichnet ist, und welcher Weg schließlich als der einzige zur Ausgleichung der unversöhnlichen Gegensätze übrig bleibt. Die Redaktion.

Indem wir hiermit schließen, glauben wir durch das Hervorheben der Notwendigkeit solcher Schritte keineswegs die Sache der Provinzen als eine verzweifelte dargestellt zu haben. Im Gegenteil, wir glauben fest an ihre glückliche Zukunft. Es bürgen dafür zunächst die vielen vorhandenen und zum Teil noch gar nicht in Bewegung geratenen frischen Kräfte. Ein immer kräftigerer Nachwuchs kann bei geeigneter Fortentwicklung sich aus den unteren Schichten stets wieder heranbilden; ferner gibt es in den Städten sowohl, als auch, was wir besonders hervorzuheben uns für verpflichtet achten, in dem Stande, den wir prinzipiell aufs Schärfste anzugreifen uns veranlasst sahen, der Elemente nicht wenige, die bei einer neuen Ordnung der Dinge nur gewinnen und nichts von ihrer jetzigen Stellung einbüßen können. Wir hoffen durch Darstellung des Beginnes einer Krisis, wie sie keinem modernen Gemeinwesen erspart worden ist, die Sympathien nicht geschwächt zu haben, die diese Provinzen durch ihren Charakter und ihre Ehrenhaftigkeit auch in weiteren Kreisen verdienen. Im Gegenteil dürfte das allgemein menschliche Interesse an ihnen dadurch erhöht werden können. Wenn wir um der Sache willen nichts Sachliches haben verschweigen mögen, so hat doch die Rücksicht aus eine noch lebende Generation uns genötigt, aus die volle dramatische Lebendigkeit der Darstellung, welche so leicht bei psychologischer Entwicklung der eingreifenden Charaktere und mancher tragischen Konflikte ihrer Neigungen und einer höheren Notwendigkeit möglich gewesen wäre, zu verzichten.

Politische Fortschritte sind ebenso wie sittliche ohne Kämpfe und Opfer undenkbar. Nur wenn jeder Einzelne den Mut hat, die volle Kraft seiner Persönlichkeit in die Waagschale zu werfen, sind Taten zu erwarten, die in ihren Mitteln menschlich, in ihren Zielen aber göttlich sein werden.
Eduard v. Herrmann.