Erste Fortsetzung

Livland — unter diesem historisch allein berechtigten Namen fassen wir die drei Schwesterprovinzen Liv-, Est- und Kurland zusammen — erstreckt sich von den Niederungen Libaus (unweit der preußischen Grenze) bis hinauf zu den Stromschnellen der Düna, den Hügelketten des kurländischen und livländischen Oberlandes, und dem Peipussee im Osten, nach Norden bis zu dem steil ins Meer abfallenden estländischen Hoch-Plateau. Zahlreiche Inseln, deren bedeutendste Oesel, bilden sein Gebiet in der Ostsee. Von schiffbaren Flüssen sind Düna, kurländische Aa und Embach zu nennen. Der nördliche und östliche Teil — das Hochplateau und die Hügelketten (seine natürlichen Grenzen gegen Osten) — sind rauer und ärmer als die südwestlichen fruchtbaren Ebenen, in denen der Weizen- und Flachsbau blüht und dem Landmann ein behäbiges Dasein sichert. Die Bevölkerung zählt — trotz des jetzt bereits über hundertfünfzigjährigen Friedens — aus einer Strecke, ungefähr so groß wie Baiern und Baden zusammen, nur etwa zwei Millionen Einwohner, von denen über anderthalb Millionen Letten und Esten sind. Die Deutschen zählen nur nach Hunderttausenden. Die Verteilung der Bevölkerung ist folgende: sämtliche Städte, mit Ausnahme einer Vorstadt Rigas sind rein deutsch, ebenso sind alle Edel- und Pfarrhöfe mit Deutschen besetzt; von der Landbevölkerung gehört die nördliche Hälfte dem estnischen Volksstamme an, dessen klangvolle Sprache eine Schwester der finnischen ist, die südliche den Letten, einem den Litauern und alten Preußen verwandten Volksstamm. Äußerlich unterscheidet sich der Este von dem Letten durch dunklere Gesichts- und Haarfarbe und dunklere Kleidung; in seinem Charakter durch größere Starrheit und Zähigkeit; doch»sind beide Stämme höherer Kultur zugänglich, wie es nicht wenige Beispiele gibt, dass Söhne von Landleuten die Landesuniversität Dorpat besuchten und später Beweise ihrer Tüchtigkeit ablegten. Bemerkt sei hier nur noch, dass die offizielle Sprache in den städtischen Gerichten so wie in Schulen und Universität die deutsche ist; die Predigten aus dem Lande und die Verhandlungen der bäuerlichen Gemeindegerichte finden wegen größtenteils mangelnder Kenntnis der deutschen Sprache in lettischer oder estnischer statt.

Was die innere Organisation anbetrifft, so haben die drei Provinzen ihr gemeinsames Band in der Stadt Riga, als Sitz des kaiserlichen Generalgouverneurs (jetzt ein Kurländer, Baron Lieven). Im Übrigen sind die städtischen und Landeskorporationen völlig gesondert; die einzelnen Provinzen haben ihre ritterschaftlichen Landtage und ihre Provinzialsynoden, sowie ihre gesonderten obersten Gerichtsinstanzen. Corporation ist Alles, auch die Bauergemeinde, die ihre Richter wählt; noch bestehen die Zünfte und Innungen. Die Körperschaft gilt Alles, der Einzelne — nichts.
Hiermit ist uns zugleich der Schlüssel zum Verständnis livländischer Zustände, ihrer Vorzüge und Schwächen gegeben. Wir sagten oben in der Einleitung: es sei — auch äußerlich betrachtet — der Stempel mittelalterlichen Deutschtums jenen Gegenden aufgedrückt. Es schließt dies ein Lob in sich, sofern anerkannt werden muss, die Livländer hätten das Wort ihres Chronisten Rüssow beherzigt, der da sagt: „Die Jüngeren sollten es nicht vergessen, wie sauer es sich die lieben Alten hätten werden lassen, jeden Fußbreit Erde zu gewinnen." Sie haben danach gehandelt und sich nicht ohne Geschick gegen mancherlei Angriffe verteidigt. Mit dieser negativen Seite ihrer Aufgabe ist aber gewiss nur der leichtere Teil ihrer Pflichten erfüllt; es gilt positive Resultate, neue Schöpfungen vorweisen zu können, die durch ihre Vernünftigkeit und Billigkeit die Bürgschaft ihrer Fortdauer in sich tragen.


Auf den ersten Blick dürfte obiges Urteil bei dem deutschen wie europäischen Leser Befremden erregen. Wie sollte es möglich sein — fragt man — dass ein Land, welches durch seine geographische Lage wie kein anderes befähigt ist, die Brücke zwischen westlicher und slawischer Kultur zu sein, welches allein in der Welt eine deutsche Föderativrepublik auf aristokratischer Grundlage in einem eroberten Terrain gebildet hat und seines beständigen Verkehrs mit dem Westen sich rühmt, noch nicht zum Bewusstsein eines Prinzips gelangt sei, das Westeuropa seit mehr als drei Jahrhunderten umgestaltet hat?

Seitdem die Reformation die Religion zur Gewissenssache des Einzelnen machte und seitdem das: „Cogito, ergo sum" des Descartes die Spekulation des Einzelnen zur Richterin über alle Erscheinungen der sichtbaren Welt erhob, hat sich das Recht der Individualität in allen menschlichen Beziehungen geltend gemacht. Die traditionelle Theologie wurde der historischen und sachlichen Kritik unterworfen, dem ererbten positiven Recht das Naturrecht, dem Interesse bevorrechteter Kasten das bien public entgegengesetzt. Es kann selbstverständlich nicht hier unsere Aufgabe sein, alle Ausschreitungen dieses Prinzips, das oft zu den furchtbarsten Explosionen geführt hat, aufzuzählen und zu richten. Ebensowenig wünschen wir die Gesellschaft in ein atomistisches Chaos aufzulösen, in welchem (wie etwa die überspannte Durchführung dieses Prinzips in Amerika zeigt) nur Geldgier und Ehrsucht die bewegenden Kräfte wären. — Dennoch hat jenes Prinzip alle Errungenschaften der letzten drei Jahrhunderte aus der Wiege gehoben, eine veraltete Welt gestürzt, in Wissenschaft, Kunst und Industrie der modernen Menschheit die Palme gereicht, und sein Recht leugnen, hieße Geschehenes ungeschehen machen wollen. Wer dasselbe nicht in sich trägt, wird von demselben getragen werden, wenn auch nicht dahin, wohin er wünscht.

Das vorige philosophische Jahrhundert, welches dieses Prinzip in fast allen Ländern Europas zu praktischer Geltung zu bringen versuchte, konnte natürlich auch an Livland nicht spurlos vorübergehen. Wer den Geist der Kreise kennt, in welchen Herder in Riga sich bewegte, wer den Namen eines Hupel, Gadebusch, Stender gehört und von den erfolglosen Bemühungen eines Merkel für die Menschenrechte der damals noch leibeignen Bauern vernommen hat, wird das nicht leugnen. Es wurde sogar auch zur Zeit, als die Wogen der französischen Revolution hoch gingen, von Seiten der Landsassen (der nicht immatrikulierten Gutsbesitzer) der Versuch gemacht, einen eignen Landtag zu bilden, um nicht nur zu den Zahlungen zugelassen zu werden, sondern Sitz und Stimmen zu erhalten. Sie wählten ihren eignen Landmarschall und führten eine sehr entrüstete Sprache. Dennoch verlief die ganze Bewegung in den Sand, da die Ziele unklar, die Fraktionen uneinig waren und man die Hilfe des Generalgouverneurs gegen die „revolutionäre Bewegung" anrief. — Nicht gering war gleichfalls die Zahl der Liv- und Estländer, welche von kosmopolitischen und humanen Intentionen erfüllt, dem glänzenden Kaiserhofe Katharinas sich näherten und als Werkzeuge eines aufgeklärten Absolutismus in hohen Stellungen vieles unbestreitbar Heilsame für das Reich gewirkt haben. (So z. B. der bereits erwähnte Geheimrat Sievers als Generalgouverneur von Twer etc.) Oder es emanzipierten einzelne Gutsbesitzer ihre Bauern noch vor der offiziellen Emanzipation (Landrat Schoultz von Ascheraden). Unzweifelhaft nicht gering ist die Zahl edler Geister gewesen, welche in ihren engeren Kreisen segensreich gewirkt haben, sei es in der Administration von Landes- oder Stadt-Wahlposten, sei es als uneigennützige Vorbilder ihrer Gemeinden, sei es als Forscher auf dem Gebiete der Geschichte, der Naturwissenschaft, sei es als Ärzte und Pädagogen. Dennoch, wie wenig durchgreifend, ohne besondere Schuld ihrerseits, ihre Tätigkeit geblieben war, wird sich am besten aus der Schilderung der Zustände der letzten dreißig Jahre ergeben. Ich werde dabei grundsätzlich jeden Pessimismus fern zu halten suchen, im Gegenteil mit Vorliebe alle Keime einer besseren Zukunft hervorheben. Man wird meiner Darstellung vielleicht hie und da die unverhüllte Tendenz, nirgend aber den Mangel eines Urteils aus eigner Anschauung vorwerfen können.

012 Riga, Mittelalterliche Wandmalereien in der Nordvorhalle des Doms.

012 Riga, Mittelalterliche Wandmalereien in der Nordvorhalle des Doms.

013 Riga, Mittelalterliche Wandmalereien in der Nordvorhalle des Doms.

013 Riga, Mittelalterliche Wandmalereien in der Nordvorhalle des Doms.

014 Riga, Die Kanzel im Dom

014 Riga, Die Kanzel im Dom

015 Riga, Innenansicht des Domes

015 Riga, Innenansicht des Domes

016 Riga, Der Turm der St. Petrikirche

016 Riga, Der Turm der St. Petrikirche

017 Riga, Hauptportal der St. Petrikirche

017 Riga, Hauptportal der St. Petrikirche

018 Riga, Die St. Petrie-, St. Johannis- und Domkirche.

018 Riga, Die St. Petrie-, St. Johannis- und Domkirche.

019 Riga, Die St. Jakobikirche

019 Riga, Die St. Jakobikirche

020 Riga, Siegel des Meisters des Schwertbrüderordens

020 Riga, Siegel des Meisters des Schwertbrüderordens

021 Riga, Das ehemalige Schloss des Deutschen Ordens. (Rekonstruktion)

021 Riga, Das ehemalige Schloss des Deutschen Ordens. (Rekonstruktion)

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