Aus der Vergangenheit und Gegenwart der Ostsee Provinzen Russlands.

Nordische Revue. Bd. 1. Internationale Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
Autor: Herrmann, Eduard von (?-?), Erscheinungsjahr: 1864

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Handel, Hanse, Ostseeprovinzen, Russland, Riga, St. Petersburg, Moskau, Litauen, Norddeutschland,
Wenn ein Wanderer aus den deutschen Gauen seinen Weg nach Russland nimmt und etwa über die Wogen des baltischen Meeres der Küste des „unbekannten Landes", wie Russland wohl noch füglich in Europa heißen mag, zugesteuert ist, so wird sein Sinn sich bald in einem seltsamen Zwiespalt befinden. Er ist nicht mehr in Deutschland; eine ihm fremde, härtere, sprödere Naturnotwendigkeit waltet nach eigenen Gesetzen über die weiten Ebenen, hochragenden Wälder, anmutigen Hügelketten — und doch heimelt es ihn an: Laute deutscher Zunge empfangen ihn an den Mündungen der Flüsse, und von fernher ragen die Türme gotisch gebauter Kirchen über die weiten Wiesen und Dünen. Er sei noch nicht im eigentlichen Russland, sagt man dem Verwunderten, obgleich unzweifelhaft das Gebiet durch feste Kapitulationen an die russische Krone gebunden sei.

Sehen wir uns mit dem Fremden um. Riga, vor mehr als sechshundert Jahren von Norddeutschland aus gegründet, verleugnet seinen Charakter als ehemaliger Bischofssitz und alte Hansestadt nicht. Hohe, himmelanstrebende Dome beweisen noch jetzt, dass hier das mittelalterliche Deutschtum seinen unauslöschlichen Stempel ausgedrückt hat, und die Regsamkeit im Hafen und auf den Märkten mahnen an die Zeiten, wo von hier aus nach Nowgorod, nach Pskow, nach Moskau, nach Litauen die Handelswege der Hanse gingen. Von hier aus und weiter hinaus, von den Ufern der Düna und ihren lichtbewaldeten Sandsteinformationen drangen einst mutige Männer, sei es als Ritter eines lange Zeit hochgeachteten Ordens, sei es als Geistliche, von Glaubenseifer getrieben, sei es endlich als brotlose Abenteurer (jüngere Söhne adliger deutscher Familien), hinein links und rechts in die Fluren der neuen Heimat. Tapfer wurde gegen gewaltige Übermacht gefochten, der Götzendienst und die Freiheit der lettischen und estnischen Bevölkerung zugleich gebrochen, und weitaus, bis tief nach Litauen hinein, und hinaus nach Estland bis zu den steilen Usern des finnischen Meerbusens erstanden aus den schönsten Punkten des Landes Burgen und Comthureien, von denen das rote Kreuz des Deutschritterordens siegreich aus die blutrot gefärbten Gefilde zweier vernichteter Volksstämme herabschaute.

Es ist nicht unsere Absicht, hier einen vollständigen Überblick aller der reichen Wechselfälle und verheerenden Kriege zu geben, welche diese Provinzen getroffen. Warten dieselben doch — und hoffentlich nicht vergebens — noch eines Historiographen, der Anfang, Mitte und Ende zu einem harmonischen Ganzen verknüpfend, befähigt sei, die Totalsumme ihres eigenartigen Lebens zu ziehen, und ohne die Grundlagen ihrer Existenz zu verleugnen, den Weg aus mittelalterlichen Formen zu denen der Neuzeit weise. — Erwähnt sei hier nur, wie nach heftigen Kämpfen zwischen Herrmeistern und Bischöfen, die Reformation, die sehr früh in diesen Landen Eingang fand, die Macht der Bischöfe brach, und die Glieder des Ordens allmählich weltliche Gewalthaber wurden, von denen die heutige Aristokratie großenteils abstammt; dass daraus das Land der Crisapfel zwischen den nordischen Mächten, Polen, Schweden, Russland, wurde, da es die Präponderanz des Staates im Norden sicherte, der diese Flussmündungen und Küsten besaß. Ein Livland als selbstständiger Ordensstaat, wie wohl Ansätze dazu unter der noch jetzt in ruhmvollem Andenken stehenden Leitung des Herrmeisters Plettenberg sich finden, war unter solchen Umständen aus die Dauer undenkbar. Man kannte damals noch nicht so humane Auskunftsmittel wie die ewige Neutralitätserklärung der Schweiz 1815, womit offenbar den Landen am meisten wäre gedient worden, während sie nun nach blutigen Kämpfen erst Polen, dann Schweden, dann Russland kapitulieren mussten; wobei nicht selten das: Vae victis! der Interpretationscodex für die einzelnen Stipulationen wurde. So benutzte Polen seine Oberherrlichkeit, dem römischen Katholizismus gewaltsam wieder Eingang zu verschaffen und die Krone Schweden streckte in dem bekannten Reduktionsedikt ihre Hände nach dem Privateigentum zahlreicher Familien. — Aus der Periode russischer Oberherrschaft werden wir hauptsächlich die letzten dreißig Jahre einer näheren Betrachtung unterziehen und erwähnen aus dem vorigen Jahrhundert nur, dass Peter der Große im nordischen Kriege die Provinzen Liv- und Estland besetzte und dass die einzelnen Städte und die Ritterschaften der Reihe nach kapitulierten, indem sie sämtlich freie Religionsübung und Aufrechthaltung ihrer Gerechtsame und Sitten ausbedungen, wozu russischerseits die ominöse Formel: unbeschadet des Reiches Oberhoheit, hinzugefügt wurde. Kraft dieser „Oberhoheit" wurde unter Katharina II. die Statthalterschaftsverfassung in den drei Provinzen eingeführt (denn auch Kurland war inzwischen in den russischen Reichsverband aufgenommen, nachdem es zeitweilig als selbständiges Herzogtum bestanden hatte). Obgleich dieselbe von einem Livländer, dem Kammerherrn Grafen Sievers zusammengestellt war, konnte man mit derselben wenig zufrieden sein, denn der Urheber selbst hatte sie nicht für diese Provinzen, sondern nur für die übrigen Gouvernements bestimmt, und sie war nur, wie er sich selbst ausdrückte, „eine schwache Kopie der livländischen Verfassung, nach russischen Zuständen modifiziert", und insofern für das Land ein Rückschritt, als es von nun an in höherem Grade von den Persönlichkeiten der kaiserlichen Statthalter abhing, ob die Interessen der Zentralisation oder die wirklichen und darum auch schließlich dem Reich zu Gute kommenden Interessen der Provinzen den Vorrang haben sollten. Zunächst ist, und auch später noch in dem ersten Abschnitt der von uns zu betrachtenden Periode, das Erstere eingetreten.

Zur richtigen Würdigung der eigentümlichen Verhältnisse jener Gegenden dürfte es geboten erscheinen, einen Blick auf die Boden- und Bevölkerungsverhältnisse und die Organisation ihrer politischen Körperschaften zu werfen.

Bäuerinnen warten auf den Briefträger

Bäuerinnen warten auf den Briefträger

000 Blick auf St. Peter und die reformierte Kirche in Riga

000 Blick auf St. Peter und die reformierte Kirche in Riga

001 Riga um 1650

001 Riga um 1650

002 Riga um 1570

002 Riga um 1570

003 A. v. Kotzebue. Die Huldigung Rigas am 10. Juli 1710

003 A. v. Kotzebue. Die Huldigung Rigas am 10. Juli 1710

004 Riga, Ansicht des Sandturmes von der Turmstraße her. (Nach einer Aufnahme des Architekten E. Kupffer.)

004 Riga, Ansicht des Sandturmes von der Turmstraße her. (Nach einer Aufnahme des Architekten E. Kupffer.)

005 Riga, Der ehemalige Wachtturm

005 Riga, Der ehemalige Wachtturm

006 Riga, Der Dom von Nordost

006 Riga, Der Dom von Nordost

007 Riga, Der östliche Kreuzgang des Domklosters

007 Riga, Der östliche Kreuzgang des Domklosters

008 Riga, Von den Arkaden des Kreuzgangs

008 Riga, Von den Arkaden des Kreuzgangs

009 Riga, Das Tonsistorium am Kreuzgang des Domklosters

009 Riga, Das Tonsistorium am Kreuzgang des Domklosters

010 Riga, Die Bündelsäulen im Kapitelsaal des Domklosters

010 Riga, Die Bündelsäulen im Kapitelsaal des Domklosters

011 Riga, Der Dom von Südwest

011 Riga, Der Dom von Südwest