Quer durch Sibirien.

Erst wenige Jahre sind vergangen, seit die russische Regierung die transkaspische Eisenbahn eröffnet hat, welche auf wundersamem Pfade den Verkehr zwischen Okzident und Orient vermittelt. Und nun ward, nach einer fünfzehn Jahre langen Durchberatung, der Bau der sibirischen Bahn in Angriff genommen.

In den siebziger Jahren war es, da meines Wissens vom Bau der sibirischen Bahn die erste ernste Rede ging, nachdem der damalige Direktor der Uralbahn, Ostrowski, den Bau angeregt hatte. Der Ausbruch des russisch-türkischen Krieges im Jahre 1877 brachte in den Fortgang der Angelegenheit eine Störung, welche ein volles Jahrzehnt anhielt; erst 1887 fasste man den großen Plan wiederum ins Auge, nachdem der berühmte Schienen-General Annenkow sein gewaltiges transkaspisches Eisenbahnwerk, welches ich in meinem Buche „Vom Kaukasus zum Hindukusch" ausführlich geschildert habe, vollführt hatte und zur Nacheiferung anspornte. Im Mai 1887 ernannte der Kaiser eine Kommission zur Prüfung und Durchführung des Unternehmens, im Juni desselben Jahres arbeitete diese Kommission eine genaue Denkschrift aus, welche die projektierte Bahn nicht bloß für ausführbar, sondern sogar für dringend erklärte. Und endlich wurden die verschiedenen Abteilungen für den Bau organisiert, an die Spitze des Bau-Comites der Großfürst-Thronfolger berufen und die Arbeiten begonnen.


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Bis 1898 werden durch schnittlich 500 Werst pro Jahr fertiggestellt, wofür eine Gesamtausgabe von 108 ½ Millionen Rubel bewilligt wurde. Im Laufe dieser 6 Jahre soll der westliche Teil der sibirischen Bahn von dein gegenwärtigen östlichen Endpunkt des russischen Eisenbahnnetzes, Tscheljabinsk, bis nach Irkutsk, 3.082 Werst lang, ausgebaut werden. Diese projektierte Linie besteht aus 5 Teilstrecken:

Tscheljabinsk-Omsk, 747 Werst, Herstellungskosten 23 Millionen Rubel.
Omsk Obifluss , 581 Werst , Herstellungskosten 15 ½ Millionen Rubel.
Obifluss-Station Potschitanskaja, 300 Werst, Herstellungskosten 12 ½ Millionen Rubel.
Station Potachitanskaja-Atschinsk, 255 Werst, Herstellungskosten 8 Millionen Rubel.
Ataschinsk-Irkutsk, 1.196 Werst, Herstellungskosten 44 Millionen Rubel.

Die Werst dieser Linie wird also durchschnittlich auf 33.600 Rubel kommen.

Die Entfernung der einzelnen Eisenbahnstationen voneinander soll 50 Werst betragen, regelrechte Stationsgebäude wird man nur da errichten, wo der Verkehr es erfordern wird. Den Fuhrpark sollen 214 Lokomotiven, 250 Passagierwaggons, 1.618 Güterwaggons und 1711 Plattformen bilden.

Zu gleicher Zeit mit dem Beginn des Baues der Linie Tscheljabinsk-Irkutsk ist auch an dem östlichen Endpunkt der Bahn, in Wladiwostok, der Bau in Angriff genommen worden, um die Distanz bis Grafskaja bis zum Jahre 1895 fertigzustellen, was aber, durch die Verhältnisse bedingt, nur schwer auszuführen sein wird.

Nach Fertigstellung der erwähnten beiden Linien, oder wenn es die Umstände erlauben, auch schon während des Baues derselben, vielleicht im Jahre 1895, werden die Distanzen Grafskaja-Chabarowka, 347 Werst, und Myssowskaja-Ssretensk, 1.009 Werst, hierauf die Baikal-Ring-Linie, 292 Werst, und die Distanz Ssretensk-Chabarowka, etwa 2000 Werst, gebaut werden. Die Gesamtkosten werden auf mindestens 341 Millionen Rubel veranschlagt. Bis 1902 soll die ganze Bahn von Tscheljabinsk nach Wladiwostok fertig sein. Die 1.360 Werst lange transkaspische Bahn kostete, obgleich sie ungeheuerliche Hindernisse zu bewältigen hatte, bloß 43.520.000 Rubel, also 32.000 per Werst. Veranschlagen wir die Länge der sibirischen Bahn auf rund 7.000 Werst, so sehen wir, dass hier die Werst relativ bedeutend mehr kosten dürfte, als bei dem transkaspischen Bahnbau, nämlich 50.000 Rubel; dies ist aber immer noch billiger als bei Bahnbauten im europäischen Russland, wo die Werst auf 85.000 bis 90.000 Rubel zu stehen kommt.

Die russische Regierung, welche den Bau nicht an Unternehmer vergibt, sondern ihn selbst durchführen will, hofft, dass sie schon in dreißig bis vierzig Jahren nach Vollendung des gewaltigen Werkes auf ihre Kosten gekommen sein wird. Als Maßgabe für die eventuelle Ertragsfähigkeit der Bahn durch Sibirien nimmt sie dabei an, dass die jetzige jährliche Einnahme aus dem Frachtfuhrverkehr von und nach dem bisher von aller Welt und allem Leben abgelegenen Lande — eine Einnahme, welche im Durchschnitt wohl sechs Millionen beträgt, — sich nach der Herstellung der Bahn bedeutend steigern und das Doppelte ergeben dürfte.

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Nicht lange also wird es dauern, und vom Baltischen Meer bis zum Stillen Ozean wird ein direkter schneller Verkehr bestehen, wie man ihn sich noch vor wenigen Jahren nicht mal erträumen hätte können. Das Land, bislang von jedermann nur mit Schrecken genannt, erschließt sich der Kultur, und aus den Schneewüsten und undurchdringlichen Steppen wachsen schnell Städte empor, und wo früher Öde und Einsamkeit, düstere Trauer und Verwilderung geherrscht, prangen bald fruchtbare Wiesen und Felder, blühen lebhafter Handel und Verkehr.

Was für Wunder die Eisenbahn in Gegenden, die durch lange Jahrhunderte brach gelegen und für verloren gehalten waren, hervorzuzaubern vermag, hat ja die transkaspische Steppenbahn gezeigt. Merw, Bochara und Samarkand sind aus Ruinen und Räubernestern in kaum zwei Jahrzehnten gewaltige Handelszentren geworden.

Wenn heute jemand nach China will, muss er über den Atlantischen Ozean nach Amerika, mit der, Pazifikbahn nach San Francisco und dann wieder über den Stillen Ozean seinem Ziel zusteuern, oder durch den Suezkanal, das ungemütliche Rote Meer und den Indischen Ozean. Durch die sibirische Bahn wird, wie durch die transkaspische für Innerasien, für Ostasien eine fabelhaft schnelle und bequeme Verbindung mit Europa hergestellt.

Von Moskau fährt man bis Slatoustj, einem kleinen, durch seine Gewehr- und Stahlindustrie bekannten Ort mitten im Ural; dann in fast gerader Linie durch die zum Teil fruchtbarsten und am besten bevölkerten Gebiete Sibiriens bis zum Amur.

Über Tscheljabinsk und Petropawlowsk geht es zunächst nach Omsk und Tomsk. Eigentlich nicht direkt nach Tomsk, der sibirischen Universitätsstadt, dem Mittelpunkt des sibirischen Geisteslebens; die Lage dieser Stadt verhinderte die Erbauer der Bahn, Tomsk in die Strecke einzubeziehen, die Flüsse Ob und Tom würden nämlich bei Tomsk ungeheuer kostspielige Aquädukte erfordern; die Bahn geht deshalb in einer großen Entfernung südlich an Tomsk vorbei und über Kolywan am Ob, wo der Aquädukt bloß 600 Meter lang sein muss.

Von Kolywan bis Irkutsk hält die Bahnstrecke ungefähr die Poststraße ein, welche bisher den Weg vom Baltischen Meer zum Stillen Ozean bildete. Zahlreiche breite Flüsse und Sümpfe sind auf dieser Linie zu überbrücken; gewaltige Aquädukte wird man über den Tom, über den Tschulym bei der Stadt Atschinsk, über den Jenissey bei Krasnojarsk, über den Kan bei der Stadt Kansk, Uber die Uda bei der Stadt Nischny-Udinsk, über die Flüsse Jeja und Oka werfen müssen.

Gleich Tomsk wird auch Irkutsk nicht direkt an der Strecke liegen, da man, um dies zu erreichen, eine 1.800 Meter lange Brücke bauen müsste. Die Bahnstation Irkutsk wird aus diesem Grunde fern der Stadt errichtet werden.

Von Irkutsk bis Sretensk kann man auch die Dampfschiffverbindung über den Baikalsee benützen. Die Bahn wird um das ganze südliche Ufer des Sees herum ins transbaikalische Gebiet einlenken. Hatten wir bisher gleichförmige Ebene, so beginnt die Gegend jetzt nach und nach malerischer zu werden. Grünenden Tälern folgen in reicher Abwechslung Hügelländer und bald sogar Gebirgszüge mit üppigem Baumwuchs.

Statt der früheren zahlreichen Aquädukte treffen wir nun eine große Menge Tunnels.

Von Tschita, der Hauptstadt von Transbaikalien, geht es über das häufig traurige, von einer geringen, schlecht genährten Bevölkerung bewohnte Jablonowgebirge.

Immer lebloser und unwirtlicher werden die Gebiete, welche die Bahn jetzt zu durchziehen hat; im Sommer herrscht hier eine Hitze von 34 Grad, giftiges Ungeziefer liegt dann auf allen Wegen, fürchterliche Gewitter brechen von Zeit zu Zeit nieder; im Winter steigt die Kälte bis zu 46 Grad; die Luft gefriert förmlich zu Eisstücken, kein lebendes Wesen ist zu entdecken. Dies ist so fast auf dem ganzen Weg von Irkutsk bis Ssretensk im Schilkatale.

Von Ssretensk bis Chabarowka besteht auf dem Amur wieder eine Dampfschiffverbindung. Die Eisenbahn wird ihren Weg entlang dem hohen linken Ufer des Flusses nehmen; das rechte Ufer gehört den Chinesen.

Die Gegend ist lebendiger geworden, die Öde weicht abermals romantischer Abwechslung.

In Chabarowka endet die beinahe gerade Linie, welche wir von Tscheljabinsk verfolgt haben. Wir machen eine jähe Biegung nach Süden und kommen, entlang dem schiffbaren Ussuri, dem Nebenfluss des Amur, immer parallel der chinesischen Grenze, zum Schlusspunkt Wladiwostok am Stillen Ozean.

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Abgesehen von der kommerziellen und kulturellen Bedeutung, hat die sibirische Bahn, gleich der transkaspischen, eine hohe militärische Wichtigkeit und wird vor allem dazu dienen, dem fernen russischen Osten leichte Verbindungen mit dem Zentrum des Reiches zu schaffen.

Dieses östlichste Gebiet des Zarenreichs hat eine heikle Lage, denn es grenzt an China, und das heilige Blumenreich der Mitte wird in Zukunft vielleicht das Feld abgeben, auf welchem Englands und Russlands Rivalität zu entscheidendem Austrag aufeinanderplatzen muss, nachdem Mittelasien nebst Persien und Afghanistan zu einem recht morschen Hindernis geworden.

Seit Jahren weisen die russischen Blätter, nicht mit Unrecht, auf eine solche Möglichkeit, ja sogar Wahrscheinlichkeit mit ernstem Nachdruck hin, und auch die Öffentliche Meinung in China fühlt, dass einst an den Ufern des Amur und Ussuri, an den Küsten des Stillen Ozeans ein gewaltiger Existenzkampf um die Herrschaft in Asien geführt werden wird.

Die Engländer tun alles Mögliche, um die chinesische Regierung gegen russische Übergriffe wachsam zu erhalten, konnten aber doch nicht verhindern, dass 1881 der Zar ein Riesenstück des chinesischen Reiches abriss und plötzlich die Grenzen seiner asiatischen Besitzungen bis hart an die Mandschurei rückte, und zwar so, dass diese Provinz von der Küste völlig abgeschnitten ward. Da sie wenig Bevölkerung besaß, hofften die Russen auch die Mandschurei bald ohne Kampf und Mühe erobern und dann immer weiter und weiter in das heilige Blumenreich eindringen zu können.

Da täuschten sie sich jedoch.

Der kühne Streich Russlands hatte den Chinesen die Augen geöffnet und sie auf die ihnen drohende Gefahr aufmerksam gemacht. Um dieselbe abzuwenden, wandten sie ein einfaches, aber vortreffliches Mittel an; sie bevölkerten die Mandschurei!

Und dort, wo noch vor einem Jahrzehnt eine entsetzliche Menschenöde geherrscht, leben nun — es ist kaum glaublich — zwölf Millionen! Diese bilden ein tüchtiges Bollwerk gegen den Ansturm slawischer Eroberungsgelüste.

Die russische Bevölkerung an den Grenzen der Mandschurei dagegen beträgt bloß 40.000. Und an den Ufern des Amur und Ussuri und im ganzen umliegenden Gebiet auf drei Millionen Quadratwerst leben, Militär inbegriffen, noch 600.000. Nun muss man aber bedenken, dass von diesen ein gar großer Teil Eingeborene sind, welche im Falle eines Krieges mit China für das letztere Partei ergreifen würden. Dazu kommt schließlich, dass die Existenzverhältnisse infolge der elenden Verbindungen äußerst schwierig sind, so dass von einer Ansiedelung guter und nützlicher Elemente in jenem wichtigen Lande bisher keine Rede sein konnte.

Da ist es wohl begreiflieh, welche Wichtigkeit die sibirische Bahn für Russland haben wird, in kommerzieller und kultureller sowohl wie in strategischer Hinsicht.

Auch dem Weltverkehr könnte mancher Vorteil erwachsen, wenn die russische Regierung durch milde Handhabung der Fremdenpolizei ein reges Leben fördern wollte. Das ist allerdings eine große Frage.

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Mit dem Beginn des sibirischen Bahnbaues soll die Verbannung nach Sibirien aufhören.

Wie schön das klingt, und ist doch nichts weiter als ein Spiel mit Worten!

Die Verbannung nach Sibirien hat eben, sobald die Bahn das Land durchzieht, kaum einen Sinn und bietet der Regierung nicht die geringste Sicherheit mehr vor den von ihr gefürchteten politischen Verbrechern.

Da macht man denn aus der Not eine hohe Tugend und gibt sich „human".

Wenn nur der Zusatz nicht wäre: „Statt der Verbannung nach Sibirien werden allgemein Gefängnisse eingeführt!"

Gegen Gefängnisse an und für sich könnte man zwar nichts haben, denn irgendwohin muss man doch Verbrecher, oder angebliche Verbrecher, ich meine die „Politischen", einstecken können. Aber das Schreckliche ist, dass mit der Verbannung nach Sibirien nicht auch die Willkür aufhören wird. Und ob nun die Willkür roher Beamten nach Sibirien verschickt oder in die Gefängnisse, ist gleich, das letztere in manchen Fällen sogar das Schlimmere. Denn es gibt in Russland Gefängnisse, die jedes mehr Leid und Blut gesehen haben, als vielleicht ganz Sibirien. Nur eines braucht man zu nennen — das Verließ in Schlüsselburg! . . .

Wie schön die russische Botschaft klang! Und ist doch nichts weiter als ein Spiel mit Worten! . . .

Da fällt mir ein, mit welcher Freude es aufgenommen ward, als die russische Regierung eines Tages ihren Untertanen und dem Auslande Kunde gab von ihrem „humanen" Entschluss, die Knute abzuschaffen.

Kurze Zeit darauf wurde die Freude ein wenig herabgestimmt.

Es kam ein kleiner Nachsatz zur frohen Kunde; „und statt der Knute ist der Plet eingeführt worden."

Der Unterschied?

Während die Knute von Leder gewesen, ist der Plet — von Eisen . . .
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem modernen Russland.