Der kirchliche Lehrstand; seine prinzipielle und praktische Haltung

Diese Periode kann freilich durchaus nicht mit den Bekenntniszeiten der Reformation zusammengestellt werden, schon deshalb nicht, weil ihr eine ganz andere Aufgabe als dieser zugefallen war. Es galt nicht bloß, die überlieferten, die Heilswahrheit betreffenden Lehrschätze zu bewahren, sondern sie auch mitten in der tiefen Not einer Zeit, deren schwere Kämpfe und Leiden verhältnismäßig immer noch wenig bekannt sind, für die Gemeinden fruchtbar zu machen, um sie gegen die verheerenden Einwirkungen des Krieges zu sichern, sie geistlich zu stärken und zu kräftigen. Es lag aber nicht einmal so, dass bei der Lösung dieser Aufgabe die überlieferten kirchlichen Ordnungen einen festen Anhalt und stetige Förderung gewährten. Diese wurden durch die Drangsale des Krieges vielfach alteriert und in Frage gestellt, und die unaufhörlich auf einander folgenden harten Leidenszeiten, in denen die kirchliche Sitte und ihre bedingende Macht mehr und mehr dahinschwand, ließen es gar nicht einmal zu, dass jene kirchlichen Ordnungen überall aufrecht erhalten wurden. Das innere Leben der Kirche hing daher wesentlich und überwiegend von dem Ernste und der Entschiedenheit ab, mit welcher der Lehrstand über die Aufrechthaltung der lutherischen Lehre und der Wiederherstellung der kirchlichen Sitte und des kirchlichen Lebens, wo dasselbe gefährdet oder gar völlig zerstört war, wachte. Der Lehrstand wusste sich auch als einen solchen, der sein Mandat von dem Herrn Christo habe, sah sich daher auch als Diener der Kirche an und nicht als Beamten des Fürsten, wenn gleich dieser das Kirchenregiment übte*). So willig den Landesherren, deren landesfürstliche Kirchengewalt die Bekenntnisse der lutherischen Kirche nicht gedenken, die cura ecclesiae zugestanden ward, so betrachtete sich jedoch der Lehrstand durchaus als selbstständiges Glied der Kirche, dem die Bewahrung der reinen Lehre oblag. An diese Aufgabe schloss sich, wie die Zeitverhältnisse lagen, mit Notwendigkeit die Polemik gegen die reformierte Konfession und die Bekämpfung einzelner damals hervortretender sektiererischer Bestrebungen. Die unermüdliche Treue und seltene Hingebung aber, womit der kirchliche Lehrstand, unbeirrt von den schweren Zeitläufen, an den ihm anvertrauten Gemeinden seelsorgerlich arbeitete, und ohne äußere Hilfe und Stütze dem sittlichen und kirchlichen Verfall des Volkslebens sich entgegen stemmte, und dasselbe aus der Kraft des Glaubens zu erneuern suchte, ist musterhaft zu nennen. Fehlt es der Zeit an kirchlichen Charakteren, die berufen sind, auf ganze Ländergebiete nachhaltig einzuwirken und ihnen ihre Eigentümlichkeit aufzuprägen, so ist doch die lutherische Kirche kaum je in irgend einer Periode so reich gewesen an bekenntnistreuen, zu jeder Selbstentäußerung und Aufopferung bereiten Seelsorgern, als in dieser.

*) Vgl. über die Stellung des Lehrstandes in der lutherischen Kirche auch Stahl, Die Kirchenverfassung nach Lehre und Recht der Protestanten. Zweite Ausgabe (1862) S. 292 ff.