Die sittenlosen und genusssüchtigen Zeiten

„Meine Bitte, ja mein Befehl, dass die Frauen nicht müßig sitzen, ohne Beschäftigung; denn Müßiggang führt zu Lastern, sie mögen spinnen, nähen oder kochen.“ — Ein altes Sittenbuch, der Brandspiegel betitelt, empfiehlt den jüdischen Frauen, Nähnadeln und Zwirn im Hause immer vorrätig zu halten, damit, wenn vor Eintritt des Sabbats am Gewande noch Etwas auszubessern sei, es zeitig und ohne Säumnis geschehen könnte. Charakteristisch ist es, wie auf dem Vorderblatte eines alten Buches 22) bei den verzeichneten Geburtstagen der Knaben der Wunsch folgt: „Gott gebe, dass ich ihn erziehe zur Lehre, zur Verehelichung und zu guten Taten“, statt dessen bei dem Geburtstage der Mädchen der Wunsch ausgedrückt ist:[/i] „Gott gebe, dass ich sie erziehe zu nähen, zu spinnen, zu stricken — und zu guten Taten.“[/i] Wir lesen auch wirklich von jüdischen Weberinnen, Stickerinnen, Putzmacherinnen, die nicht selten von der christlichen Damenwelt für ihre Toilette in Anspruch genommen wurden 23). Aber auch nicht minder wurden die jüdischen weiblichen Banquiers aufgesucht, welche oft an der Spitze bedeutender Handelshäuser standen 24). Jüdische Frauen hausierten auch auf Dörfern und besuchten Marktplätze, doch hielten sich die Mädchen hiervon zurück 25). Allerdings klingt es noch immer wie eine Reminiszenz aus der Zeit des Minnedienstes, wenn berichtet wird 26), wie auch jüdische Frauen in der Gefangenschaft von den christlichen Richtern mit besonderer Rücksicht behandelt werden; im Allgemeinen aber hatten die jüdischen Frauen gar viel unter der Sittenlosigkeit des Mittelalters zu leiden. Eine besondere Abgabe leisteten die Juden beim Einzuge des Fürsten in eine Stadt, dafür, dass die mit ihm einziehenden rohen Söldner zurückgehalten wurden, den Frauen die Hüte vom Kopfe zu reißen 26a). Galt ja als allgemeine Regel 27), lieber in ein Kloster zu flüchten, als den nachstellenden Barbaren in die Hände fallen. Man erfährt auch oft von Beispielen heldenmütigen Widerstandes, so z. B. 28) in Frankfurt am Main, wo in den Mordszenen vom Jahre 1241 eine Braut nebst ihren Schwestern fest und standhaft bleiben, bis ihnen endlich nach mehrfachen Versuchen zu fliehen gelingt. Auch in der traurigen Affaire zu Wien vom Jahre 1421 konnte den, allen Versuchungen zur Untreue widerstehenden Frauen nach ihrer Befreiung aus der Haft, die Rückkehr zu ihren Männern ohne Weiteres gestattet werden 29). Hören wir auch aus dem Jahre 1271 von einem entgegengesetzten Beispiel 30), dass nämlich einer jüdischen Frau, während ihr Gatte in die Ferne wandert, um den nötigen Lebensunterhalt zu gewinnen, ein sträflicher Umgang mit Christen nachgewiesen wird, so war dies doch etwas so Unerhörtes, dass der Vater der Verbrecherin mit den Gelehrten sich beriet, ob er nicht seine Tochter umbringen dürfe, was ihm aber nicht gestattet wurde. Mit Recht hebt ein nichtjüdischer Schriftsteller 31) „dem durch Saufgelage und unanständige Tanzunterhaltungen hervorgerufenen sittlichen Verfall der löblichen Reichsbürgerschaft gegenüber, hervor die strenge Sittlichkeit, welche in Folge der heiligen Religionsverordnungen und weisen Lehren der Rabbinen innerhalb der israelitischen Gemeinden herrschte“. In Mitten einer Gesellschaft, deren Grundlage auch nur des Scheines einer Sittlichkeit entbehrte, in Mitten einer Welt, die mit den Merkmalen der niedrigsten Sittenrohheit und Barbarei behaftet war, in der, mit Weinhold (die deutschen Frauen in dem Mittelalter S. 399) zu sprechen, „die eheliche Treue ein Spott ward, listiger Ehebruch und frevelhafte Unzucht in unzähligen kleinen Gedichten gepriesen und belacht wurden, die Tracht gemein ward und schamlose Gestalten zum Schmuck der Tafel dienten“, in solchen Zeiten kann es nur zum hohen Verdienste angerechnet werden, wenn die geistigen Führer der jüdischen Gemeinden in ihrer eifrigen Sorge für reine Sitte und Lebensheiligkeit mit aller Strenge darauf hielten, dem Umgange mit dem anderen Geschlechte einen Charakter zu verleihen, der unserer heutigen Sitte allerdings fast entfremdet ist, der aber darauf hinzielte, die Reinheit der Sitten zu bewahren und die Keuschheit im ehelichen Leben, von jeher Tugenden des jüdischen Stammes, festzuhalten. Beide Geschlechter waren überall streng von einander getrennt; selbst die auf der Straße spielende Jugend. Ängstlich wurde jede noch so ferne Gelegenheit gemieden 32), welche irgendwie die Leidenschaft erwecken und zur Verletzung der Sittlichkeit führen könnte. Das Tanzen von Jünglingen mit Mädchen wurde stets gemissbilligt, oft verboten, war selbst bei der Hochzeitsfeier nicht gestattet, indem man aus solches Tun den Vers (Sprüche 11, 21) anwandte: „Hand mit Hand bleibt nicht rein.“ ) Doch nicht immer fand ein solches Verbot Beachtung; das allgemeine Tanzhaus, welches wie die Zünfte, so auch jede größere Gemeinde 34) zum geselligen Vergnügen und zur Feier von Familienfesten besaß, vereinigte oft das schöne Geschlecht zum Tanze, wobei die möglichste Pracht entfaltet wurde. Durften ja hier die jüdischen Töchter ohne den mit zwei blauen Streifen kennbar gemachten Schleier erscheinen und die Herren ohne das Radzeichen am Gewande und den hornartig gekrümmten oder trichterartig geformten Hut auf dem Haupte! Dagegen sehen wir hier Damen und Herrn mit den beim Tanze unerlässlichen, kostbaren Gürteln geziert — wer dergleichen nicht selbst besaß nahm zum Entleihen seine Zuflucht und zahlte gewöhnlich zwei Denare als Leihgeld 35). Hierbei ereignete es sich einmal, dass von einem solchen Galan, mit dem erborgten Gürtel geschmückt, wiederum eine Dame die Gefälligkeit sich erbat, ihr den Gürtel während des Tanzes zu überlassen, um einige Male an dem Umgange Teil nehmen zu können, (der damalige Tanz bestand nämlich vorzüglich darin, dass man reihen- oder paarweise Umgänge mit schleifenden, leisen Schritten hielt), wofür der Herr allerdings einen sehr hohen Preis forderte, nämlich nichts anderes, als die Einwilligung, die Dame, unter Überlassung dieses Gürtels, als ihm angetraut in Gegenwart der Anwesenden erklären zu dürfen. Ob die Dame es nur als einen Scherz angesehen oder auch als Ernst — genug, sie erklärte sich damit einverstanden und es entstand eine schwierige Aufgabe für die Gelehrten, über die Rechtmäßigkeit eines solchen Modus für Ehestiftung schlüssig zu werden. Jener liebevolle Großvater 36) wusste in seiner letztwilligen Verordnung für seine Enkelin nichts Besseres zu hinterlassen, als 20 Wiener Pfund, damit sie einen recht schönen, reichbesetzten Gürtel sich anschaffen könnte. — Die Lust am Leben ging selbst in den drückendsten Zeiten nicht verloren, wie dies vorzüglich aus den Erholungen und den Spielen sich ergibt, an denen die große Menge Gefallen fand und sich hierdurch ergötzte. Tragen diese Spiele ganz das Gepräge des Heimatlandes, so bekunden sie hierin zugleich, dass in den Fällen, wo nicht gerade das eigentliche Religionsgesetz strikt dagegen sich wandte, das außerjüdische Leben und das tägliche Beispiel trotz aller Abgeschlossenheit nicht wirkungslos blieben. Wird ja schon im Buche der Frommen 37) behauptet, dass auch die Sitten der nichtjüdischen Umgebung großen Einfluss auf die Juden hätten und dass da, wo die nichtjüdische Welt in Sittenlosigkeit verfallen ist, auch bei den Juden die Moral sinkt. Ganz deutlich lässt sich dies erweisen, wenn man an der Hand der allgemeinen Sittengeschichte die Klagen aus gewissen Zeiten und Gegenden prüft, welche in jüdischen Schriften über Verschlechterung der Sitten auch in Mitten des jüdischen Kreises vernommen werden. Vorzüglich aber lässt sich der Einfluss von außen her in der Leidenschaft des Spiels erkennen. Konnte auch das Würfelspiel 38), welches bei den Deutschen, wie nicht minder, bei anderen Völkern, sehr beliebt war, bei den Juden sich nicht einbürgern (man sprach einem gewerbsmäßigen Würfelspieler die Fähigkeit ab, glaubwürdiges Zeugnis abzulegen 39), so war doch das Kartenspielen auch in jüdischen Kreisen heimisch geworden, als nach dem Aufhören des großen Sterbens im Jahre 1349, des sogenannten schwarzen Todes, eine ungeheure Vergnügungs- und Spielsucht die damaligen Menschen ergriffen hatte 40). Die Gewalt der Leidenschaft wurde immer mächtiger, mächtiger als alle Verbote und Strafandrohungen der Behörden gegen das Spiel. Auch von Seiten der jüdischen Moralprediger wurde gegen das verderbliche Spiel geeifert; allein die Nutzlosigkeit solcher Verbote einsehend, und das menschliche Wesen hierin richtiger erkennend, beriefen sich Andere auf eine Stimme aus alter Zeit, die bereits anempfohlen hatte, bei der Verurteilung des Spiels gelinder zu urteilen. Man beschränkte aber das Spiel auf gewisse Zeiten und setzte einen Bann (Cherem) fest gegen die Übertretung. Im alten Mainzer Gemeindebuch 41) war bei einer solchen Gelegenheit das Wort ??? absichtlich mit einem ? geschrieben worden, um so den etwaigen heimlichen Übertreter im Voraus, unbewusst, der himmlischen Strafe zu entziehen. Wie von Seiten der Obrigkeit sehr häufig das Kartenspielen verboten und dasselbe auf gewisse festliche Tage beschränkt wurde, so war man auch jüdischer Seits besorgt, die Anordnung zu treffen, dass nur an gewissen festlichen Tagen, an denen in dem Gottesdienst das Bußgebet ausfällt, das Spielen gestattet sei 42). Interessant ist es, wie hierbei die Frage in Anregung gebracht wurde, ob dann noch in der Nacht nach dem Schlusse des Weihefestes zu spielen erlaubt wäre 42). An den Mittelfeiertagen des Passahfestes enthielten sich Manche des Spiels, mit Rücksicht darauf, dass die Karten aus doppeltem, daher mit Sauerteig zusammengeklebtem Papier beständen 43). Dagegen hielt man es für recht, an den Mittelfeiertagen des Laubhüttenfestes nur in der Laubhütte, nicht außerhalb derselben zu spielen 44), was man später, als die Spielwut nicht mehr so mächtig war, als eine Profanisierung der Laubhütte ansehen wollte 45). In den zehn Bußtagen sollte man nicht spielen 44), wie es von dem Frommen überhaupt erwartet wurde, das Spiel ganz zu meiden 46). Aber nicht immer fand eine solche Forderung ihre Berücksichtigung; in den spielsüchtigen Zeiten konnten selbst fromme Gelehrte das Spielen nicht unterlassen 47), wie sie auch keinen Anstand nahmen, mit Jedermann, selbst mit Apostaten 48), zu spielen. Man berief sich hierbei zur Entschuldigung auf jenen älteren Ausspruch (o. S. 10), nach dem in den vom Einflusse der Spielwut beherrschten Zeiten die Schwäche der menschlichen Leidenschaft zu berücksichtigen sei 49). Das Beispiel eines Spielers und Zechers aus den genusssüchtigen Zeiten des 15. Jahrhunderts führt uns Jakob Weil in seinen Responsen u. 155 vor.