Die Erziehung und Ausbildung der Kinder

Darum konnte man im jüdischen Hause nicht früh genug damit beginnen, das noch zarte Kind an die Befolgung der religiösen Vorschriften zu gewöhnen und es von jeder Übertretung fern zu halten. Alles musste Mittel sein zu dem hochheiligen Zwecke, das Kind in den väterlichen Glauben einzuführen und die Quelle desselben, die Gotteslehre, ihm zugänglich zu machen. Wie jene Mutter 5) in der alten Zeit die Wiege mit dem darin ruhenden Säugling in das Lehrhaus trägt, damit rechtzeitig sein Ohr an jene Stimmen vom Jordan und Euphrat sich gewöhne und sie Heimatklänge ihm werden, so singt die Mutter im Mittelalter dem Kindlein religiöse Weisen vor; ihre Schlummerlieder sind hebräische Gebete und Schriftstellen, die jetzt nur einschläfernd wirken, später aber wach erhalten sollen, wach in der finstern, lang andauernden Nacht der Bedrückung.

Sie meidet dagegen, Lieder mit heidnischen Anklängen, wie sie in der damaligen Welt gebräuchlich waren, dem wenn auch hierfür noch unerschlossenen Ohre laut werden zu lassend 6) Und hat das Kind zu lallen begonnen, 7) so spricht ihm der Vater als Bekenntnis die biblischen Worte vor „die Lehre hat uns Moses befohlen als Erbteil der Gemeinde Jacobs“, er lehrt ihm, wie es die Augen zudrücken solle, damit es auf die ganze Welt mit ihren Grausamkeiten, auch mit ihren Verlockungen zum Abfall nicht achte, vielmehr immer laut bekenne „höre Israel, der Ewige unser Gott, der Ewige ist einzig.“ Er schärft ihm frühzeitig das Losungswort für den bevorstehenden Kampf ein, er rüstet ihn bei Zeiten mit dieser ewigen Wahrheit aus, dass sie ihm ein Schild werde, mit dem er siegen oder auf dem er sterben müsse.


Gewöhnlich mit dem fünften Lebensjahre fing der regelmäßige Schulbesuch an. Am Wochenfeste 8), dem Tage der einstigen Offenbarung auf Sinai, bei Tagesanbruch brachte man den Kleinen nach der Synagoge oder nach dem Hause des Lehrers. Auf dem Wege dahin verhüllte ihn der Vater mit seinem Mantel, wofür ein ganz eigentümlicher Grund angegeben wird, 9) gewiss aber, um jeden schädlichen oder störenden Einfluss der kühlen Morgenluft von dem zarten Kinde fernzuhalten. Der Lehrer nimmt den Knaben auf den Arm, eingedenk jener Schriftstelle „wie der Wärter den Säugling trägt (4. B. M. 11, 12)“, zeigt ihm dann eine Tafel von Pergament oder Holz, worauf das hebräische Alphabet, je 4 Buchstaben immer zu einem Worte zusammengefasst, nebst den Versen aus 5. B. M. 33, 4 und 3. B. M. 1, 1 und den Worten „Die Lehre sei meine Beschäftigung“ aufgeschrieben waren. Die Wörter des Alphabets und die Verse werden dem Kinde vorwärts und rückwärts vorgesagt, worauf die Buchstaben mit Honig bestrichen werden, damit es die Süßigkeit mit seiner Zunge koste. Auf einem aus feinem Mehl, Honig, Milch und Öl bereiteten Kuchen standen folgende Verse aus Hesekiel 3, 3: Der Ewige sprach zu mir: „Menschensohn, nähre deinen Bauch und deinen Leib fülle mit dieser Rolle, die ich dir gebe. Ich aß sie und sie war in meinem Munde wie Honig so süß. Ferner (Jesaja 50, 4, 5): Gott der Herr hat mir eine Zunge für Lehrlinge gegeben, dass ich den Müden zu stärken wisse mit dem Wort; er erweckt ja am Morgen, erweckt mir das Ohr wie Lehrlinge zu horchen; Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet, und ich sträube mich nicht, weiche nicht.“ Außerdem standen noch 8 verschiedene Verse aus dem 119. Psalm auf dem Kuchen, während auf der Schale eines gekochten Eies 4 andere Verse aus diesem Psalme geschrieben waren. Die Inschriften auf Kuchen und Ei wurden mit dem Knaben gelesen; eine kabbalistische Beschwörung des sogenannten Schutzgeistes gegen die Vergesslichkeit 10), der jede geistige Beschränkung beseitigt, fehlte hierbei auch nicht, worauf Kuchen und Ei der anwesenden Schülerschar zum Essen gegeben wurden.

Man versprach sich von einem solchen Genusse, dass er dem Kinde eine besondere Fassungskraft verleihe, wie auch der große Piutdichter Kalir von solchen Kuchen (collyris), die sein Pater ihm gegeben, nicht allein den Namen, sondern auch den hellen Geist empfangen haben soll, — wie dem Pindar die Bienen von Hymettos den Mund mit süßer Gesangesgabe füllten, fügt Sachs in seinem herrlichen Buche über die religiöse Poesie der Juden in Spanien (S. 219) hinzu. Nach beendeter Feier für die erste Einführung in den Unterricht geleitete man den Knaben an das Wasser, welches als Symbol für die Gotteslehre, als Quelle aller Erkenntnis, gilt, zugleich als günstige Vorbedeutung, dass sich bei dem Knaben erfüllen werde das Wort der Schrift „es mögen deine Quellen nach Außen hin sich verbreiten“ (Sprüche Sal. 5, 16).