Die Bedeutung von Gesang und Musik

Dass aber an anderen Tagen auch Juden zuweilen musizierten, erfahren wir aus vielen Stellen der mittelalterlichen Literatur; ja so weit in dieser Zeit von einer Pflege der Musik oder des Gesanges überhaupt die Rede sein kann, sehen wir auch unsere Ahnen regen Anteil daran nehmen. Als später von Italien aus die Musikkunst nach Deutschland verpflanzt wurde, waren die Juden ebenfalls für die Entwickelung derselben tätig und bewährten das musikalische Talent, welches nach der Behauptung d' Israelis dem jüdischen Stamme vorzüglich innewohnt. Allerdings war diese Pflege bei den Juden in Folge der Zeitstimmung einer getrübten Gegenwart teilweise gemindert oder gemäßigt, ganz hörte sie nie auf. Es ist bezeichnend, wie selbst ein frommer Gelehrter, der in den trübsten Zeitverhältnissen lebte, die befreiende Erhebung durch Musik und Gesang zu würdigen weiß.

Es dürfte gestattet sein, ruft er aus 147), zuweilen zu musizieren, um geübt zu sein, wenn bei freudigen Anlasten, wie Chanuka, Purim und bei Hochzeiten in frommer Absicht zu spielen sich Gelegenheit bietet. Aber auch in sorgenvollen Zeiten dürfte man durch die Musik den Trübsinn verscheuchen, der vom Studium des Gesetzes zurückhalte. Allerdings, dieses Studium sollte immer den Mittelpunkt bilden, in den alle Bestrebungen münden und von dem wiederum alle Tätigkeit im Leben ausgeht. In gleicher Weise sollte der Gesang zur Verherrlichung Gottes 148) und daher zuvörderst für den Gottesdienst in der Synagoge, aber auch in dem häuslichen Kreise gepflegt werden.


Man empfahl 149), mit vorzüglicher Sorgfalt auf die passende Melodie zu achten, um jedes Gebet in der angemessenen Weise vorzutragen. Es wird berichtet, dass in den verschiedenen Gemeinden Deutschlands besondere Melodien für gewisse Gebete seien, wovon manche nach verschiedenen Provinzen sich verpflanzt haben. So hört man bei Jakob Lewi 150) (starb 1427 in Mainz) von österreichischen Melodien, welche in Regensburg üblich waren. Die allgemeine Sage führt die bei uns heimischen Melodien der Gebete in ihrem Ursprunge auf diesen Jakob Lewi zurück. Von demselben wird auch mitgeteilt 151), dass er es nicht billigen wollte, eine Melodie, an die eine Gemeinde gewöhnt ist, leichtfertig zu ändern, weil Melodie und Gebetstück im Laufe der Zeit so miteinander verwachsen, dass sie nur zum Schaden der wahren Andacht getrennt werden könnten.

Eben so wurde die Annahme fremder, nichtjüdischer Singweisen für den Gottesdienst gemissbilligt 152) und das laute Mitsingen der Gemeinde mit dem Vorbeter getadelt 153), dagegen dem Letzteren empfohlen, jedes Gebetstück mit passender Melodie und in angemessener Weise vorzutragen. Auf den Gesang der Psalmen im Morgengebete wurde besonders viel Zeit verwendet. Von R. Simson, dem Verfasser des Werkes Baruch scheamar, wird erzählt, dass er in seiner Jugend täglich diesen Teil des Gebetes mit lieblicher Melodie vorgetragen habe, wovon er den Beinamen Baruch scheamar erhalten habe. In Regensburg dauerte dieser Gesang am Sabbat eine Stunde lang. 154) Isserlein (1390-1460) pflegte vom Monat Ellul an bis nach dem Versöhnungstage ebenfalls täglich fast eine Stunde auf diesen Gesang zu verwenden. Seine Jünger verließen deshalb die Synagoge bereits vor dem Lesen des Sch'ma, worüber der Lehrer sie zur Rede stellte 155). — Bei der Cantilation der Accente, Trop genannt (in der Mehrzahl Tropen bei Raschid) zu Megilla 3, jedenfalls verwandt mit dem in der Kirchenmusik des Mittelalters gebräuchlichen tropus, s. du Cange, glossar, VI. S. 682) unterschied man die des Pentateuchs, die der prophetischen Bücher und die der Hagiographen 157). Außerdem hatten die Schulkinder noch eine besondere Cantilation bei dem Rezitieren der Schriftverse vor dem Lehrer 158). In derselben Singweise, Stufentrop genannt, trug Jakob Lewi die Schriftabschnitte am Neujahr und am Versöhnungstage vor:

Ebenso wird von einer besonderen Singweise des prophetischen Abschnitts in der Rheingegend berichtet. Sollte der Gesang vorzüglich nur in dem synagogalen Gottesdienst an den Festtagen zur Ehre und Verherrlichung Gottes gehört werden, so führte er sich doch auch beim fröhlichen Male innerhalb des gemütlichen Familienkreises ein. Man sang an Festen und bei Hochzeiten religiöse Tischlieder in hebräischer Sprache, selbst auch bei Trinkgelagen, was aber missfällig aufgenommen wurde 159) Auch Lieder in der Landessprache, welche die Einheit Gottes priesen oder die 13 Glaubensartikel zum Inhalt hatten, waren beliebt. Jacob Lewi tadelte diese Art von Liedern, aber nur weil die große Menge durch sie zu dem Irrtume verleitet werden könnte, dass die Glaubensartikel allein das ganze Wesen des Judentums ausmachen, während sie doch der praktischen Betätigung desselben durch die einzelnen Gebote nicht mit einem Worte erwähnen 160). Ähnlich wie wir heutigen Tages daran Anstoß nehmen müssten, dass in manchen Religionsschulen oder im sogenannten Konfirmations-Unterrichte immer nur von den zehn Geboten die Rede ist, und hierdurch der gefährliche Irrtum genährt wird, als bilden diese Worte allein, nicht die Grundlage, sondern das ganze Gebäude der Religion.

Besonders hervorzuheben ist jene Zeit, in der solche Einheitsgesänge einen mächtigen Eindruck auf die christliche Umgebung geübt haben, wie an der Wende des 14. Jahrhunderts, zur Zeit des Königs Wenzel, wo Juden und Christen vereint der gleichen Loblieder zu Ehren des alleinigen Gottes in den Straßen Prags erschallen ließen 161). Konnte doch der zeitgenössische Abigedor Kara, welcher in starkem geistigen Verkehr mit König Wenzel stand, sogar als der Lehrer des Letzteren gehalten wird 161), in seinem Einheitsgesang ausrufen:

Jude, Muhamedaner und auch Christ 162),
Erkenne, dass Gott unkörperlich ist!


Es folgte unmittelbar darauf die hussitische Bewegung, die nicht durch die Ausbreitung der Lehre Wiklefs allein, die auch durch den Einfluss der jüdischen Lehre hervorgerufen wurde 162a). Die Zahl der selbst während des Mittelalters zum Judentum Übergetretenen ist übrigens bedeutender, als man ohne Kenntnis der Quellenschriften annehmen möchte. Sah sich doch die Obrigkeit von Venedig im Jahre 1443 genötigt, die Sing- und Spielschulen, welche, ebenso wie die Christen, auch die Juden besaßen, zu schließen, weil viele Christen dahin gingen, wie auch den Juden daselbst im Jahre 1408 der Gottesdienst in christlichen Häusern untersagt wurde, „weil die Christen, insbesondere die Frauen, vom Christentume sich abwenden“ 163). Aus gleichem Grunde ward den Christen an manchen Orten Steyermarks verboten, jüdischen Hochzeiten beizuwohnen, mit den Juden zu essen, zu trinken und zu tanzen“ 164). [Man vergleiche aus unserer Zeit den Erlass des evangelischen Ober-Kirchenrats in Berlin, vom Anfange des Jahres 1871, betreffend den Übertritt zum Judentum!] — Auch die deutschen Juden blieben für die allgemeinen Kulturbestrebungen nicht teilnahmslos, wenn sie auch hierin nicht so bedeutend waren, wie die mittelalterlichen Juden anderer Länder in ihrem Einflusse auf die europäische Kultur, den der berühmte Literarhistoriker Fauriel in seinem geistreichen Werke ,,Histoire de la poésie provençale“ in gehörigem Maße würdigt, zugleich bedauernd, dass dieser Einfluss von der Geschichte der (Zivilisation und der Wissenschaften bisher nur zu wenig beobachtet worden sei. Die deutschen Juden haben aus der Blütezeit der deutschen Minnesänger, aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts, Süskind von Trimberg, aufzuweisen, dessen dichterische Produktionen von hoher Begabung, von seltener Sprachgewandtheit und gemütlicher Innigkeit zeugen 165). Auch aus der späteren Zeit, aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, ist uns ein Sänger, Wolflein von Lochamen, bekannt, der mit seinem uns noch erhaltenen Liederbuche davon Zeugnis ablegt, wie die Erheiterung, welche namentlich die Kunst des Gesanges gewährt, in den häuslichen Kreisen der Juden gepflegt wurde, wie hört auch der Druck auf ihnen lastete 166). Das Liederbuch, welches um das Jahr 1451 angefertigt ist, dessen Lieder selbst aber im Allgemeinen aus den Jahren 1390—1420 herrühren, enthält in jüdischen Schriftzeichen die Widmung „der allerliebsten Barbara, meinem treuen, liebsten Gemaken (d. h. meiner Cousine). Auch Wolfram von Eschenbachs berühmtes Gedicht Parzival, 1336 ergänzt durch eine Übertragung aus dem Wälschen, verdankt diese Erweiterung einem Juden, Namens Samson Piene 167). Auch der rheinische Satyriker Gumplin hat wahrscheinlich, wie nach seinem, den anmutigsten Humor verratenden hebräischen Gedichte geschlossen werden darf, dem deutschen Sange sich zugewendet 158). So haben die Juden nicht selten an der Pflege des deutschen Liedes Teil genommen, wie aber nicht minder an manchen Verirrungen des Mittelalters. Denn auch die sogenannten Fahrenden des Mittelalters, diese leichten Zugvögel, welche als Handelsleute der geistigen und sittlichen Waren von Stadt zu Stadt zogen, findet man unter den Juden vertreten. Es sind die Schalksnarren mit der Mission zu erheitern, die Freuden der Hochzeiten zu erhöhen und die schöne Kunst zu vertreten. Sie misshandelten zuweilen auch Geige, Harfe und Flöte, waren geschickte Wortjongleurs, Witzbolde, Reimschmiede. Man belegte sie mit dem Schimpfnamen „Lizon“ 169), d. h. Spötter, in der späteren Zeit und in den östlichen Ländern mit „Maschalik“, (von Maschal, Gleichnis, also hier Gleichnisredner) und es ist bezeichnend für das geringe Ansehen, welches sie bei dem besseren Teile des Volkes genossen, wenn an den Rabbiner Chaim Jan Bacherach (starb 1702) die Anfrage ergeht 170), ob ein geachteter Gelehrter, der zugleich Musik versteht, sich dazu herablassen dürfe, mit Hintenansetzung der eigenen Würde, welche der Träger der Gotteslehre als solcher Anderen gegenüber stets zu wahren hat, bei Hochzeiten Musik zu machen. — Wir hören auch von jüdischen fahrenden Spielweibern, die einmal umherreisten, um bei Hochzeiten in ihrer Weise zu ergötzen und die Lachlust anzuregen. Doch fällt eine Vergleichung derselben mit ihren nichtjüdischen Kolleginnen noch immer zu größerem Lobe der Ersteren aus. Während man sich bei den Letzteren nach der Schilderung eines christlichen Autors“ 170a) nichts Widerliches denken kann, als diese entsittlichten, hungernden und lungernden Banden, welche zu Hunderten durch das Land streiften, wo sich nur ein Fest zeigte, den Raben gleich sich sammelten und ihre durchlöcherte Hand frech fordernd hinhielten, sehen wir bei dem tragischen Ende, welches diese jüdische Schar nahm, noch immer die jüdische Überzeugungstreue fest gewahrt. Diese jüdischen Spielweiber wurden nämlich in einer Stadt festgehalten, unter die Bürger verteilt, die sie in jeder erdenklichen Weise quälten, sie auch gütlich zu überreden suchten, zum Christentume überzutreten, in welchem Falle sie Leben und Vermögen behalten sollten. Nur einige folgten diesen Überredungen, die nämlich durch die Flucht sich nicht retten konnten, die aber bald zum Judentum wieder zurückkehrten und, nachdem ihr Rücktritt bekannt geworden war, zum Tode verurteilt wurden“ 171). —