Das soziale Leben der Juden Deutschlands

Das soziale Leben der Juden Deutschlands unter ihren germanischen Mitbürgern können wir bis zu einer gewissen Zeit im Wesentlichen und im Verhältnis zu dem Schicksale, welches ihrer später wartet, als ein nicht durchaus ungünstiges bezeichnen. Wie die Juden schon bei dem Entstehen manche 1) Städte einen unentbehrlichen Eckstein ihrer Gründung repräsentieren, so scheint man auch in der Folgezeit sie nicht selten als einen wesentlichen Teil der Einwohnerschaft betrachtet zu haben. Nicht vereinzelt stehen die Beispiele einer besonderen Zuvorkommenheit da, mit welcher man die Juden behandelte. Allerdings war damals der Fanatismus noch nicht in die Massen gedrungen, wie überhaupt eine Manifestation des Volkshasses gegen die Juden bis zur Zeit der Kreuzzüge weniger bekannt geworden ist.

Erst mit jenem schauer- und trauervollen Kampfe, in den die christlichen Völker zogen, um ein Grab zu erobern, erst da beginnt es, dass sie auf diesem Wege Tausenden von Lebenden ein offenes Grab bereiten. Es bricht das Mittelalter herein, im schrecklichsten Sinne dieses Wortes, mit allen seinen traurigen Folgen, welche in dem Antritt der Priestergewalt und dem steigenden Ansehen des Mönchtums, in der vereinigten Herrschaft von Faustrecht, Unwissenheit und Sittenlosigkeit sich charakterisieren. Gegenüber der rohen Gewalt, welche nunmehr in grausigen Verfolgungen sich zu üben sucht, gewannen die Juden Kraft und Stütze einzig und allein in der festen, beharrlichen Liebe zu der Lehre Gottes und in der mit Mut erfüllenden Erhebung, welche das Leben im Sinne und im Geiste dieser Lehre gewährt.


Diese Erhebung war es, welche die Juden des Mittelalters mit Leichtigkeit alle die Martern, in deren Erfindung die Verfolger sich überboten, ertragen, ja häufig nicht einmal empfinden ließ. „So Jemand den festen Entschluss gefasst hat,“ behauptet der einer mehrjährigen Haft in Ensisheim 1293 erlegene R. Meir b. Baruch Rothenburg, „in seiner Glaubenstreue standhaft zu bleiben und im nötigen Falle für dieselbe als Märtyrer zu bluten, empfindet er Nichts von den Qualen der Tortur. Möge man ihn steinigen oder brennen, lebendig vergraben oder hängen — er bleibt empfindungslos, es entfährt nicht einmal ein Wehruf seinen Lippen. Es ist überliefert, dass hierauf die Worte des Weisen (Spr. Salomonis 23, 35) sich beziehen: „Sie schlugen mich, es schmerzt mich nicht! Sie hieben mich, ich weiß es nicht!“ 2) Eine merkwürdige Übereinstimmung hiermit bietet der Ausspruch eines Gelehrten der Jetztzeit. 3) „Und wenn wir bei Märtyrern staunen über den Gleichmut, mit dem sie wahre Höllenqualen für eine Idee erdulden können, so liegt die Erklärung dafür zum Teil darin, dass in der Tat die Idee die Schmerzempfindungen aufzuheben vermag,“ —

Der Glanz einer solchen überzeugungsvollen und daher todesmutigen Glaubenstreue zeichnete gerade die deutschen Juden aus und verschaffte ihnen auch in der weiten Ferne einen guten Ruf. „Die heiligen Gemeinden Deutschlands,“ ruft ein in Frankreich lebender Schüler Raschis aus „seien alle zu tausendfachem Segen erwähnt, sie sind voll des edelsten Gehalts, in ihren Taten ausgezeichnet, sie neigen sich nach der erschwerenden Seite bei gesetzlichen Entscheidungen für zweifelhafte Fälle in Bezug auf erlaubten und unerlaubten Genuss,“ 4) Diese treue Anhänglichkeit an den väterlichen Glauben erhielt sich während der besseren Zeiten trotz des regeren Verkehrs, in den sie Juden mit Christen treten ließen; sie wich auch nicht in den traurigen Zeiten, in denen solche Treue mit dem Leben gebüßt werden musste. Zu allen Zeiten ward diese Treue genährt durch die Freudigkeit des gedanklichen Schaffens; im Lehrhause drückte keine Sorge, war kein Trübsinn wahrzunehmen, auch wenn von außen her die Fluten der Bedrängnis immer höher gingen.