Aus dem Norden – Guldbrandsdalen - Ein Reisebild.

Die Gartenlaube, illustriertes Familienblatt.
Autor: Brehm, Alfred (1829-1884) deutscher Zoologe und Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1863
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Ein taufrischer Sommermorgen liegt über dem schönen Guldbrandsdalen, und dahin geht die Fahrt durch das morgenfrische grüne Alpenthal. Zu beiden Seiten erheben sich schroff und steil die gewaltigen Berge; wild durcheinander gehäuft, oder über einander gebaut, liegt ein grauenvolles Gewirr von Felsblöcken und Steinen, welche die Höhe herabsandte an den beiden Rändern des Thales; aber silberglänzende Birken wuchern dazwischen hervor, und dunkle Föhren über ihnen scheinen sie zu schirmen vor den noch immer tätigen feindlichen Gewalten des Gebirges, welches schwarze Massen drohend über dem grünen Thale hängen lässt, - drohend auch über den einzelnen Höfen, die überall von dort aus in das Thal herunterschauen, wo der Mensch dem Gestein sein tägliches Brod abtrotzte mit dem Schweiße seiner Arbeit. Die grünen Rasendächer der holzbraunen Häuser wetteifern mit den saftigen Wiesen im Grunde, und heiter blicken die Wohnungen nieder, wie unbesorgt ob der furchtbaren Schwere der über ihnen hängenden Felsen, welche sie jeden Augenblick unter Trümmer begraben können. Allein trotz der freundlichen Gebäude würde das Thal dunkel erscheinen und die düsteren Farben vorherrschend werden, trügen die fröhlichen Kinder der Höhe nicht blendende Lichter af. Auf allen Wänden liegen die silbernen Bänder der Gebirgsbäche, und rauschend und brausend, oder rieselnd und gleitend wandert das belebende Wasser seine tausend Wege zum Schmucke der Landschaft.

Es ist sommerlich kühl im Thale und die Wiesen dampfen noch, aber munteres Leben herrscht überall. Aus dem Walde tönen die Herdenglocken; auf den Geröll- und Felswänden klettert das lustige Volk der Ziegen umher; im saftigen Grün zu beiden Seiten des Weges ruhen weidesatte Pferde. Scharen von Elstern, die heiligen Vögel des Landes, begleiten das Gefährt lange Zeit und schwatzen mit dem Wasser um die Wette; mit Geschrei fliegt die Ringamsel von Stein zu Stein und warnt die ganze Vogelwelt vor dem Wanderer, worauf auch gleich ein ganzes Dutzend von Krammetsvögeln durch lautes Geknarr ihr zu erkennen giebt, daß man die Warnung verstanden; fröhliche Stare durchsuchen im Geleit der Nebelkrähen Wiesen und Felder; Pieper umscharen den Wagen, Goldammern und Bachstelzen weichen ihm vertrauend eben nur aus; das ewig regsame Volk der Meisen fliegt munter von Baum zu Baum; im Wasser aber huscht die purpurgefleckte Forelle pfeilschnell über den steinigen Grund, wenn der Schatten des vorübereilenden Wagens sie schreckte.

An einem grünen See vorüber führt der Weg. Hundert gletschergrüne Wasseradern hat er in sich aufgenommen und trägt nun selbst das wunderbare Kleid derselben, jenes unbeschreiblich frische, klare Wellengrün des Hochgebirges, welches man selbst geschaut haben muss, um sich vorstellen und begreifen zu können, wie fest das Auge und das Herz davon gefesselt werden. Zwei Buben wiegen sich im leichten Kahne und werfen die Angel in die Tiefe, den köstlichen Oerret oder die Alpenforelle zu berücken; ihre feuerroten Mützen heben sich grell ab von dem Grün der Wogen. Einzelne Landleute gehen vorüber, jeder hat einen Gruß, eine Frage an den „fremden Mann“, jeder einen Glückwunsch für seine fernere Reise.

Höher und höher steigt die Straße empor; endlich überschreitet sie den Gebirgskamm und gestattet eine freie Aussicht in ein neues Thal, schön wie das erste, aber großartiger und reicher. Seine Sohle ist breiter, und die schimmernde Otta, welche durch das Grün sich zieht, ist schon ein ziemlich bedeutender Fluss, obgleich er noch in aller Jugendlust und in seinem Jugendkleid dahinbraust. Die zahlreichen Wasserfäden, welche er rechts und links aufnimmt, trägt er jauchzend dem Lagen zu, mit welchem er sich wenige Meilen unterhalb vereinigt, zur weiteren Wanderung. Im Hintergrund schimmert der Vaagevand; der See, welcher auch für ihn sammelt und wohl hundert Bäche zu seinem Schoße ladet, um sie zu vereinen und jenem dann zu schenken. Ganz in der Ferne zeigen die Berge krystallne Kronen; es sind die Vorläufer des gewaltigen Galdhaaspiggen, welcher seine ewig beeisten Hörner höher hinaufstreckt in die Bläue, als irgend ein anderer Berg des Landes, ja der Norden von Europa. Die Thalwände erscheinen wie besät von Gehöften, und im Grund vereinigen sich die wohnlichen und behaglich aussehenden Gebäude fast zu einem Dorfe. Das eine große Gehöft ist die Wechselstelle für die Reisepferde, und darauf zu trabt vergnügt das kundige Rösslein. Zwischen reifenden Getreidefeldern und blühenden Hagen, zwischen Gärten und Häusern hindurch geht der Weg zum Stift. Ohne Verzug erhalte ich ein frisches Pferd, und dieses jagt mit mir nach dem nahen Wasser. Dort ist das Boot rasch bestellt und noch ein zweites, welches eine sanglustige Gesellschaft aufnimmt, wird gebracht, und mit gleichmäßigem Schlage treiben die Ruderer beide Fahrzeuge durch die grünen Wogen. Mehr und mehr erstirbt der Gesang aus dem andern Boote, welches sich weiter von dem meinen entfernt. Aber neuer Klang tönt von allen Bergen hernieder. Glatt und ruhig liegt der See vor mir, doch dröhnt und donnert es ohne Unterlass; das Wasser, welches von den Bergen stürzt, rauscht und braust seine gewaltigen Weisen. Welch’ eine Landschaft! Grün und Schwarz und blendend Weiß sind die Farben des Bildes: grün sind die Wellen des Sees, grüner kaum die Wände des Thales; aber dunkel sind die Berge wie früher, und nur die Wildbäche ziehen ihre lichten Streifen. In der Ferne raucht es, als ob ein gewaltiges Feuer brenne; es ist der Wasserstaub über dem prächtigen Fall der Tesse, welche einen See verlässt, um sich in den andern zu stürzen. Eine Viertelmeile weit hört man den Donner der sich zu Gischt auflösenden Wassermassen. Jede neue Biegung des Sees rollt andere prächtige Bilder auf, aber jedes einzelne ist gleich großartig und gleich bezaubernd. Die Gehöfte am Ufer zeigen von dem behäbigen Wohlstand ihrer Bewohner. In dem größten Hofe dort wohnt der reiche Engländer, welchen die schönste Bewohnerin des Sees hier fesselte, welcher einem Bauermädchen zu Liebe norwegischer Bauer wurde.

Stetig und ruhig schwimmt das Boot weiter, der Wechselstelle Gardmoe zu, welche endlich in dem Grün der Birken sichtbar wird. Das ist ein echt norwegisches Haus! Alle Giebel und Gesimse sind mit Schnitzwerk geziert, und zwar mit Schnitzwerk, welches einem Bildhauer zur Ehre gereichen würde, so schmuckvoll und mannigfaltig sind die Arabesken. Die Schränke im Innern der großen Stube sind nur eine Schnitzerei. Einzelne Gebäude stehen, wie es hier Sitte ist, auf hölzernen Säulen, aber auch diese sind zierlich gearbeitet worden. Das Gehöft ist still und leer, denn fast alle Bewohner sind ringsum mit der Ernte beschäftigt. Doch jetzt ruft sie die in einem Vorbau wie in einer Siedelei hängende Glocke heim zur Erfrischung und Erquickung. Auch ich finde köstliche Milch und gutes Brod zum Mittagsmahl.

Gardmoe ist keine feste Wechselstelle, sondern nur eine Vermittlungsanstalt zwischen den Reisenden und den Baern, welche verpflichtet sind Erstere weiter zu befördern. Der Mann, an welchem heute die Reihe ist, erscheint und befördert mich mittelst seiner entsetzlichen Stolkjärre in kurzer Zeit nach Lom.

Das hölzerne Gotteshaus dieses ausgedehnten Kirchspiels bezeigt durch seine dunkle Färbung, daß es schon vor Jahrhunderten erbaut wurde, und die merkwürdigen Drachenköpfe, welche alle Firstenenden des mehrfach abgesetzten und immer höher steigenden Daches krönen, scheinen an jene Zeit erinnern zu wollen, in welchem die nordländischen Könige in ihren Meerungeheuern die salzige Meeresflut durchzogen, um den Ruhm ihrer Waffen weithin durch die Lande zu tragen. Rings um das Gebäude breitet sich der frischeste, grüne Wiesenteppich aus, und selbst an den Felsen weben die Birken lichtgrüne Blüten und die Bäche lichte, silberne Bänder ein. Neben der Kirche liegt der Pfarrhof, ein stattliches und gar freundliches Holzgebäude.

Im nahen Stift klappert der Webstuhl, die Tochter des Bauers sendet mit gewandter Hand das emsige Schifflein durch die selbst gesponnenen und gefärbten Wollfäden, um das bunte Zeug zu bereiten, aus welchem sie für sich und die Ihrigen Kleider fertigen will. Ein neuer Wagen wird bestellt und rasch bespannt, und weiter geht die Fahrt der tobenden Bäbra entgegen. Immer höher werden die Felsen, immer steiler werden die Wände, immer enger wird das Thal. Die Felder schmelzen zu kleinen Beeten zusammen, welche hier und da zerstreut zwischen den Blöcken liegen und nur mit wenig Garben die schwere Arbeit lohnen können; die Gehöfte hängen wie Adlerhorste an den Steilungen. Eine wahrhaft großartige Gebirgswelt rollt sich vor dem trunkenen Auge auf und lässt dem Blick in Einem die Frische und den Reichtum der Tiefe und die schimmernde Anmut und Kälte der Höhe erfassen. Die eisigen Gletscher hängen über den grünen Wiesen und fruchttragenden Feldern.

Ein Bewohner des Thales gesellt sich zu mir mit freundlichem Gruß und legt vertraulich die Hand an den langsam bergansteigenden Wagen, um allerlei Fragen an mich zu richten und zu erfahren, ob im großen Deutschland das Volk ebenso frei und glücklich sei, wie in seinem Norge; ob denn wirklich die Deutschen gegen Gesetz und Recht den Dänen ihr Land nehmen und den ganzen Norden überschwemmen wollten, wie er in den Zeitungen gelesen; ob es in meinem Vaterland auch so „hässliche“ Berge gäbe wie hier u. s. w. Erst nach langem Zwiegespräch wendet sich der freundliche und redselige Mann von mir und wandert seinem Hause zu, welches er mir vorher zeigte mit allem Stolz und aller Freude eines glücklichen Besitzers.

Immer einsamer wird das Thal, immer seltener werden die Gehöfte, mehr und mehr verdrängt die wilde Natur den Menschen. Plötzlich endet der Weg. In einer Gebirgsschlucht hat das Wasser ungeheure Massen von Blöcken und Steinen von der Höhe herab in das Bett der Bäbra getragen und dabei das ganze Thal verschüttet und in eine Wildnis verwandelt. Diesseits des Wildbachs stehen Hunderte von Karren und Wagen, der Besitz aller Landleute, welche im Sommer oder jahraus jahrein oberhalb dieser Orte im Thale wohnen, aber ihr Fuhrwerk erst von hier aus benutzen können. Dorthin wird auch mein Karjol gestellt, und das davor gespannte Pferd von nun an als Saumtier benutzt, denn die Wechselstelle Rödsheim liegt noch weiter oben im Thal, dort wo die wilde Bäbra sich mit der aus den Gletschern des Galdhaaspiggen geborenen Wiesendalelf vereinigt.

Der Besitzer von Rödsheim verspricht, selbst mit mir über die Gebirge zu reisen, und führt am andern Tage das starke Saumpferd vor, welches mein Gepäck und, wenn der Weg es erlaubt, auch mich über das Fjeld tragen soll. Wir nehmen Abschied von der freundlichen Hausfrau und ziehen weiter nach oben, der Bäbra entgegen. Anfangs führt der Weg noch an mehreren Gehöften vorüber, doch erhebt er sich bald mehr und mehr und lässt den Menschen und sein Treiben unter sich, dafür aber das Gebirge den Blicken erschließend. Die gewaltigen Massen, welche sich westlich von uns zusammenbauen, um den Riesen des Landes zum Fuß zu dienen, sind sämtlich mit Gletschern bedeckt; das ewige Eis der Höhe breitet sich meilenweit vor dem Auge aus und zeigt sich überall, in der Nähe wie in der Ferne. Die Birken krüppeln und verkümmern, aber noch deckt die niedliche Zwergbirke mit dem Wachholder und der wie Abendroth schimmernden Haide die Bergflächen und Gehänge. Ein Volk Morastschneehühner läuft über den Weg und zeigt sich in seiner bunten Sommertracht, wenn auch nur auf Augenblicke dicht neben den einsamen Wanderern - ein gar seltenes Schauspiel! Sonst begegnet man nur noch dem überall gegenwärtigen munteren Steinschmätzer und hier und da einem Falken, alle übrigen Tiere meiden die Höhe.

Mild und heiter senkt sich der Abend nieder, und sein Schimmer spiegelt sich wieder auf den krystallenen Dächern der Berge; aus der Tiefe tönen noch leise die Herdenglocken wie fernes Abendläuten herauf; dann wird es still und dunkel, und nur die Gletscher leuchten noch der geschiedenen Sonne nach, bis auch sie im grauen Nebel der Nacht verschwimmen. Der Weg führt wieder in die Tiefe herab, und das verständige Saumtier prüft jetzt vor jedem Schritte die Stelle, auf welcher es fußen will. Das Wasser allein ist noch lebendig und rauscht seine ewigen Weisen in die Stille der Nacht. Endlich zeigt uns ein schimmernder Lichtstrahl das Ziel der Wanderung. Zwei Sennhütten liegen am Ufer des Sees, sie sind ärmlich und unfreundlich, und von dem dicken Schmuze, welcher sie umgibt ist ein guter Theil auch in ihr Inneres gekommen, aber sie sind die einzigen Wohnungen weit und breit und deshalb willkommen. Die Aufnahme lässt Vieles zu wünschen übrig, ja, die Besitzerin ist sogar recht unfreundlich; doch Keiner von uns kehrt sich daran. Wir richten uns ein, so gut es gehen will, bereiten uns selbst das einfache Abendbrot und suchen dann trotz alles Käsegeruchs im Raume auf unserm erbärmlichen Lager die Ruhe. Am andern Morgen belehrt aus die Unverschämtheit unserer Wirtin, daß Engländer auch hier schon die angestammte Gastfreundschaft durch ihr Gold zu verbannen wussten.

Wir steigen noch immer längs der Bäbra bergan. Die Landschaft wird öder und trauriger mit jedem Schritte. Die Pflanzenwelt scheint bis auf Moose und Flechten erstorben, nur hier und da zeigen sich einzelne verkümmerte Büsche in dem Morast, welcher sich überall bildete, wo das Wasser nicht raschen, freien Abzug fand. Der Weg ist kaum noch ein Weg zu nennen, obgleich Steinhaufen und Holzpfähle an seiner Seite auf eine Straße deuten. Vor der letzten Höhe, dort, wo das gewaltige Eisfeld, welches um den Galdhaaspiggen liegt, in zwei Thälern zwei Gletscher zur Tiefe sendet, liegt ein kleines Haus zum Schutze der Reisenden; Pferde weiden in seiner Nähe, es werden auch Leute sichtbar, und Einer ladet uns zur kurzen Rast in die Hütte ein. Es sind Renntierjäger, welche schon seit Tagen vergeblich das Hochgebirge durchkreuzt haben, ohne ihres scheuen Wildes habhaft geworden zu sein. Mich lockt es hier nach dem kaum fünfhundert Schritt vom Wege abliegenden Smörstabgletscher, dessen blaue Krystallgrotten gar zu wunderbare Gestalten, Formen, Zacken, Ecken und Spitzen zeigen. Mehr als hundert Fuß hoch liegt dort, wo das Wasser den Gletscher aushöhlte, das Eis übereinander und zeigt dem Auge alle jene märchenhafte Pracht der Farben und Formen, welche man kaum verstehen und noch viel weniger beschreiben kann.

Unser Pfad hat nun die Höhe des Gebirges erreicht. Eine ungeheure Oede umgibt uns; das Auge sucht fast ängstlich nach etwas Lebendigem. Kalt und tot, nicht einmal in Farben lebendig, liegen die Eismassen auf den dunklen schwarzen Bergen, und dort, wohin sie ihre Ausläufer nicht senden konnten, starrt uns ein Wirrsal von Blöcken und Steinen entgegen. Nicht überall haben sich die gelblichen Renntierflechten ausbreiten können, alle übrigen Pflanzen gedeihen nicht mehr hier oben. Totenstill liegen die dunklen Seen in ihren Schluchten, nur ein einziger prangt in seinem wunderbaren Grün. Selbst die Bäche rauschen und brausen hier nicht mehr fröhlich dahin, denn die Ebene des Fjeldes hemmt ihren Lauf. Die Einöde ist großartig, aber kalt, fast schauerlich, trotz der Gletscher und scharfgeschnittenen Felsenzacken und Hörner! Und dennoch ist das Leben hier noch nicht gänzlich erstorben! Inmitten des Eises der Höhe zeigt es sich in aller Frische und Anmut. Munter tanzt der liebe Steinschmätzer von Stein zu Stein, vertraulich nähert sich das jetzt felsengrau gekleidete Alpenschneehuhn dem Wege, und dort über dem Fanerok zieht ein Steinadler seine Kreise und schwimmt stolz dahin

„Hoch über allem Erdenleben,
Hoch über allem Tod!“

Uns aber treibt es wieder der Tiefe zu, und wir eilen, so schnell wir und unser Lasttier gehen können, über die stille Ebene dahin. Abfließendes Wasser leitet uns dem Thale zu; aber noch ist der Weg lang und beschwerlich, noch befinden wir uns in der Höhe des Eises, gleichsam zwischen Gletschern eingezwängt; aber plötzlich öffnet sich ein wahres Zauberbild den Blicken. Zwischen den dunklen, schneegekrönten Bergen hat das ewig arbeitende Wasser ein Thal eingegraben, dessen Anfang mehr als dreitausend Fuß über demselben Meere liegt, welches mehr als seine Hälfte erfüllt, ein Thal, in welchem man binnen drei Stunden von den Glerschern zum Meere herabsteigen kann! Wohl zwanzig Seitenthäler und Schluchten münden in dieses Thal ein und durch alle eilen die Gesandten der Gletscher zu dem ewigen Meere hinab. Die Armut der Höhe und die Fülle der Tiefe reichen sich in diesem Thale die Hand; von dem Tode zum Leben ist hier gleichsam nur ein einziger Schritt.

Und wieder braust und tönt das Wasser, welches in unzähligen Fällen zur Tiefe stürzt, klangvoll zu uns herauf; wieder läuten die Herdenglocken den Abend ein, welcher zu allem Glanz da unten nun auch noch seinen Schimmer auf die eisigen Höhen legt; da steigen und klettern wir an den steilen Gehängen hernieder und wandern den Hütten zu, von denen uns Schalmeienklänge entgegen grüßen. Alle Beschwerden und Mühen werden vergessen; das reich beglückte Herz stählt die ermatteten Glieder, und tiefer und tiefer geht es hinab, zu den Sennhütten, zu den ersten Gehöften, zum Dorfe. Neben dem lebendigen Wasser hinab führt der Saumpfad, mit ihm durchwandert er alle Windungen des Thales. Freundliche, biedere Menschen wohnen in ihm; jedes Haus steht dem Fremden offen. Am andern Morgen folge ich dem Bächlein weiter und sehe es mit Lust zum Bache und Flusse anwachsen. Der führt mich durch die herrliche Landschaft meinem Ziele zu, und dieses liegt auch bald so hold und lieblich vor mir, daß ich - es nicht erkenne. Denn der Führer muss mir zwei und drei Mal sagen, daß jener stille, sonnenklare grüne Alpensee, den ich umwandern will, die Salzflut, das Meer ist, bevor ich ihm Glauben schenken will! Ich stehe am Meere - und kenne das Meer nicht; - was brauche ich nach diesen Worten noch von dem Zauber zu sagen, in welchem der Lysterfjord meine Sinne verstrickt hatte! Ich überlasse es Jedem, sich ein solches Stück Meer selbst auszumalen.