Die gute alte Zeit

... [Fortsetzung]

Das Tagesleben des Grundherrn ist ein Wechsel von Müßiggang und wilder Aufregung. Zwar die Jagd ist nicht schlecht. Wo der regellose Axtschlag nicht den Forst verwüstet hat, wachsen die alten Stämme des Waldes noch zum Urwald ineinander, selten in regelmäßige Schonungen und Schläge geteilt; noch hört man das Geheul des Wolfes in der Mitternacht; mit Spieß und Armbrust ziehen die Jäger aus gegen Raubtier, Hirsch, Reh und Schwein, zu Ross mit den Hunden werden die Hasen im Garne erlegt, und sorglich wird auf jeden rohen Waidmannsbrauch gehalten. Aber wer in den eigenen Wald zur Jagd zieht, der mag sich noch gegen andere Feinde waffnen, als gegen Isegrim oder gegen den alten Gebieter des deutschen Laubwaldes, den zottigen Bär. Denn wenig Jagdgründe gibt es, um welche nicht alter Hader mit dem Nachbar oder dem Lehnsherrn hängt, Streit über die Grenzen und über das Recht der hohen Jagd. Und außer dem Nachbargrafen, der den Anspruch erhebt, mit Meute und Jagdzeug die Hirsche bis an den Fuß der Schlossmauer zu verfolgen, trotzt dem Junker auch der Bauer aus den nahen Dörfern, er, ein Todfeind der Hirsche und Schweine, die seine Saaten verwüsten, und nicht weniger Feind des Schlossherrn, der ihn schlug, in hartes Gefangnis setzte und verstümmelte, weil er auf der Wildbahn umherschlich. Nicht selten schwirrt im Waldesdunkel ein tückischer Bolzen, der nicht auf ein Wild angelegt war, oder ein gewappneter Haufe bricht in die Lichtung, dann beginnt unter den Menschen selbst die Jagd um Freiheit und Leben*).


*) Lebensbeschreibung Sebastian Schärtlins zum Jahr 1560

Ist aber das Wild eingebracht und in dem Schlosshof zerlegt, so folgt das Gelage, endloses Zutrinken, wüstes Geschrei, selten eine Nacht, wo die Gesellschaft ohne Rausch auseinander geht. Das Trinken ist gerade zu dieser Zeit ein nationales Leiden geworden, es verdirbt Fürsten und Gutsherren, Bürgern und Landleuten die Manneskraft. Die Gäste bei Jagd und Trunk sind Standesgenossen des Gutsherrn, teils ältere Stegreifjunker, welche hinter dem Becher den Fürsten unendlich fluchen und von Reiterstücken erzählen, die sie im grünen Wald gegen das Krämervolk der Städte verübt, teils jüngeres Geschlecht, das sich gewöhnt hat, den Nacken vor großen Lehnsherren zu beugen, hochmütig tragen diese das. Barett mit vergoldeter Tresse, welches der fürstliche Hof bei einem feierlichen Aufzuge seinen Dienern schenkt.

So geht es durch die Woche, am Sonntag aber ist es Pflicht, in der Dorfkirche den Prediger zu hören, vielleicht eine endlose Predigt aus der Schule des Flacius, voll Hass gegen die Calvinisten, die Päbstlichen, den Rottengeist Schwenkfeld oder selbst gegen den „Mamelucken“ Melanchthon, ein fanatisches Drohen mit Hölle und Teufel., eine hoffnungsvolle Prophezeiung vom Herannahen des jüngsten Tages, oder wohl gar ein trotziger Angriff auf den Gutsherrn selbst, seinen Hochmut, seine Völlerei und seine Kargheit gegen den Diener Gottes. — Dürftig und unregelmäßig ist der Verkehr mit der Fremde, neugierig kauft der Gutsherr vom wandernden Händler, was damals neue Zeitung hieß, wenige Quartblätter, welche bei besonderer Veranlassung in den Städten gedruckt werden und ungenaue Kunde geben von einer grausamen Schlacht, welche die Söhne des türkischen Kaisers einander lieferten, von einem besessenen Mädchen, oder: wie der König von Frankreich durch einen vom Adel in den Helm gestochen worden. Zuweilen hört der Junker auf das Lied eines Bänkelsängers, der im alten Volkston ähnliche Neuigkeiten absingt, darunter das willkommenste, ein Spottgedicht auf einen benachbarten Herrn, wofür der Sänger von der Gegenpartei bezahlt und ins Land geschickt wurde. Und was im Hause am liebsten gelesen wird, das ist der astrologische Unsinn einer Prophezeiung des alten Wilhelm Friese, des Gottfried Phyller und Hebenstreit, eine Beschreibung der Augsburger Totenfeier Kaiser Karl V., oder vom gottseligen Ende des frommen Christian, Königs zu Dänemark. Außerdem dringen noch einzelne Streitschriften auf das Schloss, die theologischen Confutationes des unglücklichen Johann Friedrich des Mittleren von Sachsen, oder eine der zahlreichen Grumbach'schen Invectiven, und auch der Gutsherr streitet beim Trunk eifrig für Major oder Flacius, und über den Mord des Bischofs von Würzburg.

Solches Leben, eintönig und arm, trotz zahlreicher Aufregung, wird zuweilen unterbrochen, wenn ein getöteter Mann in der Flur gefunden ist, oder wenn die vom Schlosse ein altes Mütterlein des Dorfes bezüchtigen, Hexerei getrieben zu haben. Dann beginnt ein Rechtsverfahren, im ersten Fall saumselig und gleichgültig, im andern leidenschaftlich, grausam, voll Blutdurst. Und ein Ärger fehlt dem Gutsherrn jener Zeit selten, Prozesse und Geldverlegenheiten. Sein Vater hatte noch im Krebs und Steigbügel auf der Landstraße das Geld zur Zahlung seiner Schulden gesucht und in der Fehde Rache genommen für sein gekränktes Recht; jetzt erhebt sich widerwärtig über die Willkür und Selbsthilfe des Einzelnen das Recht der neuen Zeit, ein unsicheres, langsames, verkröpftes Recht, das den Mächtigen scheut, den Wohlhabenden nur zu oft begünstigt. Aber schon ist der Prozess um Mein und Dein, ein aufregendes Spiel geworden, welches viel Zeit und Geld kostet und den Gutsherrn zum stillen Diener des Juristen der Stadt oder eines reichen Wucherers macht. Noch reitet der Junker im Harnisch mit Lanze und Faustrohr auf schwerem Ritterpferde, aber er ist nicht mehr übereifrig, in großem Kriege Ruhm und Beute zu suchen. Der bürgerliche Fußknecht mit Spieß und Feuerrohr hat ihm den Rang abgelaufen, auch auf den Pferden sitzen zuweilen leichte Reiter, nicht mehr Söhne und Knechte der adeligen Grundherren, selbst im Turnier wird am liebsten nach Ring und Mohrenkopf gestochen, und wenn ja der Junker gegen einen vornehmen Herrn in die Schranken reitet, so findet er nützlicher sich durch diesen vom Pferde stechen zu lassen, als ihm mannhaft zu widerstehen*). — Der Bauer freilich muss Vieles dulden und Vieles liefern. Die Ahnen des Gutsherrn haben ihn, auch wo er sonst frei war, zum unfreien Manne herabgedrückt, und was er Zinsen muss an Getreide, Frohnden und Geld, verschlingt den größten Teil seiner Arbeit. Und doch frommt das dem Gutsherrn wenig, die Landstraßen sind schlecht und unsicher, ein weites Verfahren der Frucht unmöglich, er erhält sich und seinem Haushalt das Leben, aber die baren Einnahmen sind gering. Alles ist teuer geworden in der letzten Generation, das neue Gold, das aus Amerika nach Europa herübergefahren wird, sammelt sich in den großen Handelsstädten, aber es kommt weniger davon auf sein Gut, als er für sich und seine Familie zum standesmäßigen Schmuck gebraucht.

*) So lässt sich Georg Schweinichen dem Kurfürst August zu Ehren vom Pferde fallen.

Eigensinnig steht er auf Allem, was er für sein Recht hält, und sucht seinen Vorteil bald im Anschluss, bald in Widersetzlichkeit gegen seinen Lehnsherrn. Jm Gefolge desselben zieht er auch wohl zu einem Reichstage, er arbeitet eifrig unter den Ständen seiner Landschaft gegen die Auflage neuer Steuern, aber ein warmes und stätes Gefühl für sein Land hat er nicht. Er fühlt sich deutsch nur im Gegensatz zu Italienern und Spaniern, die er hasst, und er sieht mit eigennützigem Interesse auf Frankreich, dessen König die verruchten Calvinisten durch die neue Feuerkammer verbrennt, aber deutsche Lutheraner um gutes Geld zu werben weiß. Auch die Landschaft seiner Heimat ist keine politische Einheit, der Staatsbau seines Lehnsherrn ist noch ein schwaches Gerüst, seine Treue und Anhänglichkeit sind nur zufällig; dauerhaft und fest ist nur der Egoismus seines Standes. Ein nackter, hässlicher Egoismus, der ihn kaum noch zu verwegener Tat treibt, nicht einmal zu festem Anschluss an seine Standesgenossen. Nur in einzelnen Stunden adelt ihm das Gefühl einer bevorzugten Stellung die Sprache, Haltung und Tat; aber seine Bildung, sein Verständnis der Welt, ja sein Pflichtgefühl und seine Redlichkeit sind nicht größer, als jetzt etwa bei einem rohen Fuhrmann oder Rosshändler.

Ein Jahrhundert ist vergangen, man schreibt das Jahr 1660, seit zwölf Jahren ist der große deutsche Krieg beendigt. Die Mauern des alten Herrenschlosses sind geborsten, oft hat fremdes Kriegsvolk darin gelagert, ihr Feuer hat die Trümmerhaufen geschwärzt, ihre Wut Speicher und Kisten geleert, allen Hausrat zerschlagen. Jetzt hat der Gutsherr aus den Steinen des alten Gebäudes ein neues errichtet, ein kahles Haus mit dicken Mauern, ohne Zierrat. Die großen Fenster sehen herab auf ein ärmliches Dorf, dessen Hütten erst zum Teil aufgebaut sind, und auf eine Flur, die erst seit einigen Jahren wieder in der alten Fruchtordnung bestellt wird. Die Schafherde ist fast ergänzt, aber noch fehlt es an Pferden, die Dorfleute haben gelernt mit Kühen zu pflügen. Der Schlossherr ernährt nicht mehr Reisige und Ritterpferde, in dürftigem Schuppen steht eine Kutsche, ein ungefügter Kasten in Lederriemen, aber der Stolz der Familie. Noch umschließen Mauer und Graben mit Zugbrücke das Haus, große Schlösser und starkes Eisenwerk schützen die Zugänge, denn noch ist die Gegend unsicher, Zigeuner und Räuberbanden nisten in der Nähe, die Tagesunterhaltung sind Einbrüche und gräuliche Mordtaten, die durch Männer mit geschwärztem Gesicht verübt worden. Es ist größere Ruhe und Ordnung im Hause und große Stille im Dorfe. Der Polizeisinn ist mächtig geworden in Deutschland und der Gutsherr selbst hat ein scharfes Auge auf Kinder, Dienstboten, Bauern. Die Dorfschule ist in traurigem Verfall; aber ein armer Kandidat unterrichtet die Kinder des Gutsherrn. Noch geht manche wilde Gestalt im Schlosshofe aus und ein, nicht mehr fahrende Söldner, aber entlassene Soldaten, die in bürgerlichen Dienst getreten sind, als Förster, Gerichtsboten und Trabanten des Landesherrn. Wenn der Hausherr über die Schwelle schreitet, fällt fremdes Haar in großen Locken von seinem Haupt, statt des Ritterschwertes hängt der schlanke Degen an seiner Seite, steif und förmlich sind, wo er repräsentiert, Bewegung und Sprache, Ew. Gnaden nennt ihn der Bürger aus der Stadt, das unverheiratete adlige Frauenzimmer ist „Fräulein“ und „Damoiselle“ geworden. Noch trägt die Schlossfrau das Schlüsselbund an der Seite, sie ist stark in Rezepten und abergläubischen Hausmitteln und leidet an Geistererscheinungen in einem alten Schlossturm, der den Krieg überdauert hat. Aber schon wird das Spinnrad versteckt, wenn ein Besuch naht, dann wird schnell ein plümerantenes Kleid übergeworfen, der dürftige Familienschatz, silberne Becher und Kannen auf den Tresor gestellt, ein Stallknecht oder Diener, befähigt Reverenz zu machen, wird in ein Libereykleid gesteckt und in dem Zimmer ein wohlriechender „Rauch“ hervorgebracht. Der besuchende Junker erscheint als alamode Galan in Tressenkleid und Perücke und wechselt mit den Frauen vom Haus weitschweifige Komplimente, er ist der untertänigste Sklave der tapfern ansehnlichen Damen, rühmt die Tochter als englische Gestalt und Herzensbezwingerin und hört mit unwürdigen Ohren. Aber diese gedrechselten Komplimente sind schlechte Tünche über rohen Sitten, noch werden sie durch gemeine Stallwörter und Flüche unterbrochen; und wenn die Komplimente ausgegeben sind, und die Unterhaltung behaglicher läuft, dann richtet sie sich am liebsten auf Dinge, die nicht mehr zweideutig sind; auch die Frauen sind gewöhnt, darauf zu hören und zu antworten, nicht mit der naiven Unbefangenheit früherer Zeit, sondern mit heimlichem Vergnügen an dem Gewagten solcher Unterhaltung, denn es gilt, schmutzige Anekdoten modisch zu erzählen oder durch Rätselfragen mit arger Lösung die Frauen zu artig affektierter Verlegenheit zu bringen. Aber auch solches Gespräch ermüdet, bald übt der Wein seine Wirkung, die Lustigkeit wird lärmend, das Ende ist ein „dichter“ Rausch auf alte deutsche Manier. Und dazu wird aus Gipspfeifen Tabak geraucht, und ist, der Grundherr ein Cavalier von Education, so schnupft er aus silberner Dose, wieder ist das Waidwerk die männlichste Unterhaltung des Gutsherrn, er führt den letzten Vertilgungskrieg gegen die Wölfe, welche während des Krieges zahlreich und frech geworden sind, und er zeigt unter seinem Jagdzeug Pürschröhre und gezogene Röhre. Aber er steigt nicht mehr als bewaffneter Reitersmann zu Pferde, sein Harnisch ist verrostet, sein Unabhängigkeitssinn ist gebrochen, die Soldaten des Landesherrn führen den Krieg, vielleicht wirbt noch ein jüngerer Sohn des Hauses um eine Fähnrichstelle in des Kaisers Heer, der Schlossherr selbst fährt zu Hofe als seines durchlauchtigsten Herrn getreuer Diener.

Noch ist er ein gläubiger Mann, der streng auf kirchliche Bräuche hält, er ist gewöhnt, in Arndts wahrem Christentum zu lesen, vor der Mahlzeit wird nie das Gebet vergessen, aber schon sieht er auf das theologische Gezänk der Geistlichen mit der Ironie eines Lebemannes herab. Es ist ihm nicht mehr unerhört, mit solchen zu verkehren, welche wenig Glauben haben, er fühlt einen Widerwillen gegen leidenschaftliche Sektierer, aber er ist der katholischen Kirche und den Jesuiten gegenüber sehr wohlwollend. Sein Dorfpfarrer ist devot geworden, in dürftiger Lage unter verwilderten Beichtkindern hat auch dieser von seinem geistlichen Hochmut verloren, er versucht sich kümmerlich durch Ackerbau zu nähren, betrachtet als Ehre, an der Tafel des Gutsherrn zu speisen, und hat dann die Ausgabe, die starken Scherze seines Patrons zu belächeln und die Tagesneuigkeiten christlich zu beleuchten. Bei Festen im Schloss wird ihm wohl die Ehre, ein schwülstiges Gedicht in harten Alexandrinern zu überreichen, worin er Venus, Musen und Grazien auffordert, den Geburtstag der Schlossfrau festlich im Olymp zu begehen. An solchen Tagen wird auf dem Schlosse auch eine Musik gemacht, dann ist die Kniegeige, Viola da Gamba, das modische Instrument.

An Markttagen sendet der Krämer aus der Stadt dem Gutsherrn die Postzeitung, welche mit ihren Beilagen aus mehren kleinen Blättern besteht; sie geht aus dem Schloss zur Pfarre, dann wohl zum Schulzen und Förster. Was sonst im Schlosse gelesen wird, sind langweilige Romane, in denen edle Liebende des tartarischen, römischen oder eines nie dagewesenen Volkes sich mit Perücke und Schönpflästerchen über die Annehmlichkeit ihrer Neigung unterhalten; oder Geschichten von Abenteurern und groben Schelmen, vor Allem Anekdotenkram, Kuriositäten, Geistererscheinungen, gefundene Schätze, Mordtaten, aber auch schon Erörterungen über Naturereignisse, die ersten Anfänge der Aufklärungsliteratur. Der Grundherr politisiert; er misstraut dem Schweden; er bewundert den seligen Kardinal, Pariser Perücken, Degen und Komplimente. Schon längst hat die Abhängigkeit von französischer Münze und Sitte begonnen, wer von Paris erzählen kann, ist ihm ein geehrter Gast. Er spricht mit Abscheu von dem königsmörderischen Wesen in England, aber fast mit Gleichgültigkeit von den Türkenkriegen des Kaisers, sofern nicht ein Spross seiner Familie dabei beteiligt ist. Als Mitglied der Landschaft reist er noch zum Ständetage, aber es sind nur die Privilegien seines Standes, die er in schwacher Widersetzlichkeit gegen die fürstlichen Räte zu erhalten sucht; er beugt sich antichambrierend, und besticht, um seinem Verwandten eine Stelle bei Hofe zu sichern oder ein Amt, welches wenige Kenntnisse fordert. Nur schwer entschließt er sich, einen seiner Söhne das Recht studieren zu lassen, damit dieser einst als fürstlicher Rat das Interesse der Familie fördere. Hof, Regierung, Landschaft sind ihm wie Weinfässer, die er ansticht, sich daraus einen Trunk zu holen. Deutschland ist ihm eine unsichere geographische Erscheinung, liebend und hassend denkt er selten daran; auch er hat nichts als seine Familie, den Egoismus seines Standes und die zufälligen Persönlichkeiten, an welche ihn Dienst und Neigung binden. Und wenn man hohe Ansprüche und Selbstgefühl von seinem Wesen abzieht, und den Kern desselben vergleichen will mit einem Leben unserer Zeit, so würde jetzt der eigensinnige Zunftmeister einer kleinen Stadt wahrscheinlich mehr Inhalt, Tüchtigkeit und Redlichkeit besitzen als er.

Wieder sind hundert Jahre verflossen, eine leere Zeit, arm an Erhebung und Volkskraft, und doch hat sich Vieles geändert. Das Jahr 1760 liegt in der Jugendzeit unserer Großeltern, noch haften in unserm Herzen zahlreiche Erinnerungen und es genügt, Einzelnes zu erwähnen. Die kahle Front des Herrenhauses ist umgeformt, ein Portal mit Säulen von Sandstein, auf dem Geländer der großen Freitreppe rundbäuchige Vasen, über der Tür der Hausflur ein plumper Engel, der in geschnörkelter Muschel den lateinischen Wahlspruch des Hauses hält. Auf der einen Seite des Gebäudes liegt der Wirtschaftshof, auf der andern ein Garten, darin beschnittene Buchenhecken und Obelisken aus Taxus. Die einfach getünchten Zimmer haben fast alle Gipsdecken und einige sind mit Stuck verziert, auch ist schon ein Reichtum an Hausrat sichtbar, gute Möbeln von Eichen- und Nussbaumholz, schön gemasert und ausgelegt, von sorgfältiger Arbeit. Und neben alten Familienportraits hängen kleine neue Pastellbilder, vielleicht die Tochter des Gutsherrn als Schäferin, in der Hand den Stab mit Rosabändern. In der Stube der Hausfrau fehlt nicht der Porzellantisch, auf ihm buntgemalte Kannen, kleine Tassen, Möpse und Liebesgötter aus der neuerfundenen Masse. Jetzt ist die Zucht im Hause durchgebildet, ein herbes, strenges Regiment; Frauen und Dienstleute sprechen leise, die Kinder küssen den Eltern die Hand, der Hausherr nennt seine Gattin ma chère und redet, wenn er vornehm wird, zuweilen in französischen Phrasen. Das Haupt ist gepudert, die Frauen umgibt Steifrock und hohe Frisur, heftige Bewegungen, große Leidenschaft stören die Ruhe des Hauses und die gerade Haltung selten.

Der Grundherr ist sparsamer geworden, er ist gewöhnt, ein wenig um die Landwirtschaft zu sorgen. Er hat bereits gehört, dass man durch spanische Schafe die Wolle deutscher Herden verbessern will *), und er baut im Brachfeld noch mit Besorgnis; die neue Knollenfrucht, welche unendliche Nahrung für Menschen und Vieh geben soll. Es ist ein stilles, einfaches und pedantisches Leben im Hause, die Mutter schüttelt den Kopf über Gellerts schwedische Gräfin, die Tochter liest entzückt in Kleists Frühling und singt am Klavier vom Veilchen und vom Lamm der Flur, und der Vater trägt die Lieder des Grenadiers in der Tasche. Dem Besuchenden werden Schälchen Kaffee vorgesetzt, noch ist es Brauch, zur dritten und vierten Tasse zu nöthigen; an hohen Festtagen erscheint der anmutige Trank der Chocolade. Es ist eine harte Zeit, viel wird dem Hausherrn zugemutet, die Behörden sind die Herren, welche das Land regieren, er hat zu liefern, zu zahlen, ohne dass er irgend gefragt wird. Noch gilt er mehr als der Bürger, aber hoch über ihn hat sich die Majestät seines Souverains erhoben und vor dem großen Herrn bedeutet auch er sehr wenig, auch er hat zu besorgen, dass sich seines ungnädigen Herrn Stock gegen ihn erhebe. Die Schreiber in der Hauptstadt kümmern sich sogar um seine Wirtschaft, sie befehlen ihm einen Graben zu ziehen, eine Mühle zu bauen, ja sie verordnen ihm Maulbeerbäume zu pflanzen und senden ihm Eier von Seidenwürmern ins Haus mit der Forderung, dass er die gefräßigen Raupen groß ziehe. Es ist eine freudenleere Zeit, zwischen dem Könige und der Kaiserin brennt der dritte Krieg. Und gerade jetzt geht der Gutsherr mit gerungenen Händen in seiner Stube auf und ab und zieht manchmal das Sacktuch aus der Tasche, seine Tränen abzuwischen. Wie kommt es, dass der steife, trockene Mann so sehr die Fassung verloren hat? Der Brief auf dem Tische meldet ihm doch, dass sein Sohn, Offizier im Heere des Königs, aus blutigem Treffen unversehrt entkam. Warum weint der Mann und ringt die Hände? Sein König ist in Not, der Staat, zu dem er gehört, in Todesgefahr. Er hat ein Vaterland, um das er sich grämt, er ist größer, reicher und besser als irgend einer von seinen Ahnen war. Rau ist die Zucht seiner Generation, unmild die Sitte, despotisch die Regierung; Bildung und Weltkenntnis des anspruchsvollen Gutsbesitzers sind noch nicht größer, als jetzt Bildung und Kenntnisse eines kleinen Subalternbeamten, aber schon hat er für Leben und Sterben, was ihn zum Manne macht.

*) Die ersten spanischen Schafe ließ Friedrich der Große zwar schon 1748 kommen, aber erst 1765 begann in Sachsen die Zucht der Electoralschafe. Von ihnen stammt die große Verbesserung unserer Schäfereien.

Sehr viel härter und ärmer als jetzt ist das Leben in jeder Periode deutscher Vergangenheit. Aber nicht einzelnes Unerträgliche macht uns die alte Zeit so unheimisch, in der ganzen Methode zu leben, in allem Denken und Empfinden ist etwas Grundverschiedenes.

Und sieht man näher zu, so liegt diese Verschiedenheit zwischen einst und jetzt zumeist darin, dass in jeder Generation unsrer Ahnen die Seele des Einzelnen viel unfreier und gebundener der Seele des Volkes untergeordnet war. Das ist noch aus den letzten Jahrhunderten deutlich zu erkennen. Vor Allem aber beruht darauf das Fremdartige des Mittelalters.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem Mittelalter